Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.Unser Landvolk und die AÄche nicht lange vor. Eine genauere Bekanntschaft mit dem Bauernvolk wird uns Hier kann man fragen, ob es nicht unter den Bauern auch überzeugte Schon das Mittelding zwischen Glauben und Unglauben, der Zweifel, ist Immerhin berührt diese Art von Zweifel mehr nur den Verstand lind Unser Landvolk und die AÄche nicht lange vor. Eine genauere Bekanntschaft mit dem Bauernvolk wird uns Hier kann man fragen, ob es nicht unter den Bauern auch überzeugte Schon das Mittelding zwischen Glauben und Unglauben, der Zweifel, ist Immerhin berührt diese Art von Zweifel mehr nur den Verstand lind <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233093"/> <fw type="header" place="top"> Unser Landvolk und die AÄche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1780" prev="#ID_1779"> nicht lange vor. Eine genauere Bekanntschaft mit dem Bauernvolk wird uns<lb/> bald zeigen, daß die Bauern im Gesichtsausdruck und in der Geistesart unter<lb/> sich alle möglichen Unterschiede ausweisen. So ist auch in jedem die Frömmig¬<lb/> keit auf eine eigne Art ausgebildet, je nach der natürlichen Anlage und den<lb/> umgebenden Verhältnissen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1781"> Hier kann man fragen, ob es nicht unter den Bauern auch überzeugte<lb/> Ungläubige, Atheisten giebt. Diese Frage ist schwer zu beantworten, schon<lb/> aus dein einfachen Grunde, weil niemand dem andern ganz ins Herz sehen<lb/> kann. Durch solche Redensarten aber wie: „Ich glaube nichts; was ich nicht<lb/> sehe, glaub ich nicht," darf man sich nicht irre führen lassen. Das, was wir<lb/> Atheist nennen, nennt unser Bauer einen „Freisinnigen." Der Bauer weiß<lb/> recht wohl, daß es solcher „Freisinnigen" in deu Städten genug giebt; die<lb/> „Sozzen" (Sozialdemokraten) sind nach seiner Meinung „Freisinnige." Ein<lb/> „Svzz" ist aber der Bauer nicht. Doch finden wir da und dort Spuren, die<lb/> auf einen mehr oder weniger ausgesprochnen Unglauben hindeuten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1782"> Schon das Mittelding zwischen Glauben und Unglauben, der Zweifel, ist<lb/> manchen nicht unbekannt. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, wenn<lb/> man sagt, liberale, kritisch gerichtete Geistliche erweckten dnrch ihre Predigten<lb/> den Zweifel in den gläubigen Gemütern. Wer das sagt, kennt das Landvolk<lb/> nicht; er überschätzt die Wirkung der Predigt, besonders der lehrhaften Predigt<lb/> auf das Volk. Der Zweifel z. B. an der Glaubwürdigkeit mancher Berichte<lb/> in der Bibel stellt sich bei dem und jenem, der es gerade darauf „gepackt"<lb/> hat, ganz von selber ein. Da fragt einer: „Wenn früher so viel Wunder ge¬<lb/> schehn sind, wie erzählt wird, warum geschehn heutzutage keine mehr?" Oder:<lb/> „In der Bibel steht: Kain ist in ein fremdes Land gezogen und hat dort ein<lb/> Weib genommen. Und es hat doch selbiges mal keine Menschen mehr gegeben<lb/> außer Adam, Eva und Kain?" Im Steinbruch haben sie einmal über die<lb/> Geburt Jesu gesprochen; einer sagte: „Jesus ist geboren wie wir auch." Ein<lb/> sehr kirchlicher und christlicher Mann sagte mir einmal ganz gelassen: „Ich bin<lb/> auch nicht mit allem einverstanden, was im Glaubensbekenntnis Gott Vater<lb/> steht. Da steht: Auferstehung des Fleisches! Wie soll das zugehn?" Mau<lb/> sieht es diesen Äußerungen, die um ähnliche vermehrt werden könnten, auf den<lb/> ersten Blick ein, daß sie nicht der Wiederhall der Predigt eines „ungläubigen"<lb/> Pfarrers sind, sondern das Ergebnis verständigen Nachdenkens. An sich sind<lb/> diese Äußerungen ganz unverfänglich. Aber zusammengehalten mit der sozusagen<lb/> amtlichen Hochschätzung der Bibel und des Glaubensbekenntnisses bekommen<lb/> sie ein andres Gesicht. Unser Bauer kann nämlich dies beides nicht zusammen<lb/> bringen: die verständig-kritische und die religiös-erbauliche Betrachtung der<lb/> Bibel. Er ist der Schlußfolgerung nicht unzugänglich: „Wem, eine Geschichte<lb/> in der Heiligen Schrift nicht wahr ist, so ist alles andre auch nicht wahr.<lb/> Wenn man nicht alles glauben kann, so ists so gut, als wenn man nichts zu<lb/> glauben braucht."</p><lb/> <p xml:id="ID_1783" next="#ID_1784"> Immerhin berührt diese Art von Zweifel mehr nur den Verstand lind</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0541]
Unser Landvolk und die AÄche
nicht lange vor. Eine genauere Bekanntschaft mit dem Bauernvolk wird uns
bald zeigen, daß die Bauern im Gesichtsausdruck und in der Geistesart unter
sich alle möglichen Unterschiede ausweisen. So ist auch in jedem die Frömmig¬
keit auf eine eigne Art ausgebildet, je nach der natürlichen Anlage und den
umgebenden Verhältnissen.
Hier kann man fragen, ob es nicht unter den Bauern auch überzeugte
Ungläubige, Atheisten giebt. Diese Frage ist schwer zu beantworten, schon
aus dein einfachen Grunde, weil niemand dem andern ganz ins Herz sehen
kann. Durch solche Redensarten aber wie: „Ich glaube nichts; was ich nicht
sehe, glaub ich nicht," darf man sich nicht irre führen lassen. Das, was wir
Atheist nennen, nennt unser Bauer einen „Freisinnigen." Der Bauer weiß
recht wohl, daß es solcher „Freisinnigen" in deu Städten genug giebt; die
„Sozzen" (Sozialdemokraten) sind nach seiner Meinung „Freisinnige." Ein
„Svzz" ist aber der Bauer nicht. Doch finden wir da und dort Spuren, die
auf einen mehr oder weniger ausgesprochnen Unglauben hindeuten.
Schon das Mittelding zwischen Glauben und Unglauben, der Zweifel, ist
manchen nicht unbekannt. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, wenn
man sagt, liberale, kritisch gerichtete Geistliche erweckten dnrch ihre Predigten
den Zweifel in den gläubigen Gemütern. Wer das sagt, kennt das Landvolk
nicht; er überschätzt die Wirkung der Predigt, besonders der lehrhaften Predigt
auf das Volk. Der Zweifel z. B. an der Glaubwürdigkeit mancher Berichte
in der Bibel stellt sich bei dem und jenem, der es gerade darauf „gepackt"
hat, ganz von selber ein. Da fragt einer: „Wenn früher so viel Wunder ge¬
schehn sind, wie erzählt wird, warum geschehn heutzutage keine mehr?" Oder:
„In der Bibel steht: Kain ist in ein fremdes Land gezogen und hat dort ein
Weib genommen. Und es hat doch selbiges mal keine Menschen mehr gegeben
außer Adam, Eva und Kain?" Im Steinbruch haben sie einmal über die
Geburt Jesu gesprochen; einer sagte: „Jesus ist geboren wie wir auch." Ein
sehr kirchlicher und christlicher Mann sagte mir einmal ganz gelassen: „Ich bin
auch nicht mit allem einverstanden, was im Glaubensbekenntnis Gott Vater
steht. Da steht: Auferstehung des Fleisches! Wie soll das zugehn?" Mau
sieht es diesen Äußerungen, die um ähnliche vermehrt werden könnten, auf den
ersten Blick ein, daß sie nicht der Wiederhall der Predigt eines „ungläubigen"
Pfarrers sind, sondern das Ergebnis verständigen Nachdenkens. An sich sind
diese Äußerungen ganz unverfänglich. Aber zusammengehalten mit der sozusagen
amtlichen Hochschätzung der Bibel und des Glaubensbekenntnisses bekommen
sie ein andres Gesicht. Unser Bauer kann nämlich dies beides nicht zusammen
bringen: die verständig-kritische und die religiös-erbauliche Betrachtung der
Bibel. Er ist der Schlußfolgerung nicht unzugänglich: „Wem, eine Geschichte
in der Heiligen Schrift nicht wahr ist, so ist alles andre auch nicht wahr.
Wenn man nicht alles glauben kann, so ists so gut, als wenn man nichts zu
glauben braucht."
Immerhin berührt diese Art von Zweifel mehr nur den Verstand lind
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