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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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von unserm türkischen Freunde

Taille und ihre Zuschlüge. Sie wurden vou jedem Roheinkommen genommen
und wurden verpachtet, so wie jetzt der Zehnte in der Türkei, und sie hatten
damals eine erdrückende Höhe erreicht. Der König erhielt von mittlern und
kleinern Gütern fast die Hälfte der Ernte. Da man annehmen kann, daß die
andre Hälfte nur eben den notwendigsten Unterhalt des Bauern und der Arbeit
deckte, so war für hypothekarische Belastung kein Platz mehr. Das bedeutet,
daß ein ansehnliches Privateigentum um Boden nicht bestanden haben kann.
Heute ist bei uns das Mehrprodukt des Landes der geordneten, aber freien Kon¬
kurrenz aller ausgesetzt. Jeder kann sich nach Kräften ein Stück davon erobern.
Überall, wo es entsteht, kann es erobert werden. Man kann in Essen so gut
ein reicher Mann werden wie in Berlin. Damals sammelte sich der Mehrwert
in der Hand des Königs und wurde von ihm verteilt, aber nicht wie bei uns
die Gelder des Etats verteilt werden, für öffentliche Zwecke, sodaß die Werte
wieder in die Gegend zurückfließen, woher sie stammen, um dort für Gehälter,
Garnisonen, Schulen und Straßen verwandt zu werden, sondern der großen
Masse nach wurden diese Reichtümer an die königlichen Prinzen, den Hof, die
hohen Beamten, die Günstlinge als Benefizien in Gestalt von Pfründen und
pslichtenlosen Ämtern verteilt. Hohe Ämter machten damals nicht arm, sondern
reich. Das vom König geschenkte Einkommen mußte auch unter seinen Augen
verzehrt werden. Sich fernhalten vom Hofe machte verdächtig; verbannt werden
in die Provinz war eine Strafe, das hieß von der Quelle des Reichtums und
der Macht verbannt sein. Nur am Hofe konnte man etwas werden; in der
Provinz gab es kein Emporkommen, nicht einmal Platz, ein großes Vermögen
anzulegen. In absoluten Staaten dieser Art giebt es an Stelle des allgemeinen
Wetteifers in bürgerlicher Arbeit und an Stelle der öffentlichen Politik in
Staat und Gemeinde in der Hauptsache nur immer einen Weg zu Reichtum
und Macht: die Hofintrigue.

Die Folge ist die Verödung der Provinz. "Wenn man die Provinzen
durchreist, Anjou, Mama, Bretagne, Poitou, Limousin, Mnrche, Berry, Nivernais,
Bourbonnais, Auvergne, so wird man sehen, daß die Hälfte aus Heideland be¬
steht, das ungeheure Flächen bedeckt, die alle angebaut werden könnten." "Zwei
Drittel der Bretagne liegen brach, das bedeutet nicht Unfruchtbarkeit, sondern
Verfall." "Mxxol^te kams, I/g-molem r^imo.) Manche Landgüter bringen zwei
Drittel weniger als früher. Der französische Landbau ist hinter dem englischen
um ein Jahrhundert zurück, die Wege sind miserabel; die kleinen Landedelleute
sind verarmt und ohne Einfluß, die großen Landeigentümer haben ihre Schlösser
verlassen. Einen lvohlhabcnden Pächterstand giebt es nicht. Das Land wird
dem Landvolk in Halbpacht gegeben, wobei ihm noch Saatkorn und Vieh und
sogar der Unterhalt bis zur nächsten Ernte vorgeschossen werden muß: Zu¬
stünde, wie sie auch von Irland noch ans diesem Jahrhundert bekannt sind.

Die Türkei zeigt viel ähnliche Züge. Konstantinopel ist eine glänzende
Residenz, wo nicht nur der Padischnh, sondern auch die Machthaber des Hofes
wundervolle Schlösser haben. Ich glaube, wenn man ganz Kleinasien durch-


von unserm türkischen Freunde

Taille und ihre Zuschlüge. Sie wurden vou jedem Roheinkommen genommen
und wurden verpachtet, so wie jetzt der Zehnte in der Türkei, und sie hatten
damals eine erdrückende Höhe erreicht. Der König erhielt von mittlern und
kleinern Gütern fast die Hälfte der Ernte. Da man annehmen kann, daß die
andre Hälfte nur eben den notwendigsten Unterhalt des Bauern und der Arbeit
deckte, so war für hypothekarische Belastung kein Platz mehr. Das bedeutet,
daß ein ansehnliches Privateigentum um Boden nicht bestanden haben kann.
Heute ist bei uns das Mehrprodukt des Landes der geordneten, aber freien Kon¬
kurrenz aller ausgesetzt. Jeder kann sich nach Kräften ein Stück davon erobern.
Überall, wo es entsteht, kann es erobert werden. Man kann in Essen so gut
ein reicher Mann werden wie in Berlin. Damals sammelte sich der Mehrwert
in der Hand des Königs und wurde von ihm verteilt, aber nicht wie bei uns
die Gelder des Etats verteilt werden, für öffentliche Zwecke, sodaß die Werte
wieder in die Gegend zurückfließen, woher sie stammen, um dort für Gehälter,
Garnisonen, Schulen und Straßen verwandt zu werden, sondern der großen
Masse nach wurden diese Reichtümer an die königlichen Prinzen, den Hof, die
hohen Beamten, die Günstlinge als Benefizien in Gestalt von Pfründen und
pslichtenlosen Ämtern verteilt. Hohe Ämter machten damals nicht arm, sondern
reich. Das vom König geschenkte Einkommen mußte auch unter seinen Augen
verzehrt werden. Sich fernhalten vom Hofe machte verdächtig; verbannt werden
in die Provinz war eine Strafe, das hieß von der Quelle des Reichtums und
der Macht verbannt sein. Nur am Hofe konnte man etwas werden; in der
Provinz gab es kein Emporkommen, nicht einmal Platz, ein großes Vermögen
anzulegen. In absoluten Staaten dieser Art giebt es an Stelle des allgemeinen
Wetteifers in bürgerlicher Arbeit und an Stelle der öffentlichen Politik in
Staat und Gemeinde in der Hauptsache nur immer einen Weg zu Reichtum
und Macht: die Hofintrigue.

Die Folge ist die Verödung der Provinz. „Wenn man die Provinzen
durchreist, Anjou, Mama, Bretagne, Poitou, Limousin, Mnrche, Berry, Nivernais,
Bourbonnais, Auvergne, so wird man sehen, daß die Hälfte aus Heideland be¬
steht, das ungeheure Flächen bedeckt, die alle angebaut werden könnten." „Zwei
Drittel der Bretagne liegen brach, das bedeutet nicht Unfruchtbarkeit, sondern
Verfall." «Mxxol^te kams, I/g-molem r^imo.) Manche Landgüter bringen zwei
Drittel weniger als früher. Der französische Landbau ist hinter dem englischen
um ein Jahrhundert zurück, die Wege sind miserabel; die kleinen Landedelleute
sind verarmt und ohne Einfluß, die großen Landeigentümer haben ihre Schlösser
verlassen. Einen lvohlhabcnden Pächterstand giebt es nicht. Das Land wird
dem Landvolk in Halbpacht gegeben, wobei ihm noch Saatkorn und Vieh und
sogar der Unterhalt bis zur nächsten Ernte vorgeschossen werden muß: Zu¬
stünde, wie sie auch von Irland noch ans diesem Jahrhundert bekannt sind.

Die Türkei zeigt viel ähnliche Züge. Konstantinopel ist eine glänzende
Residenz, wo nicht nur der Padischnh, sondern auch die Machthaber des Hofes
wundervolle Schlösser haben. Ich glaube, wenn man ganz Kleinasien durch-


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[0466] von unserm türkischen Freunde Taille und ihre Zuschlüge. Sie wurden vou jedem Roheinkommen genommen und wurden verpachtet, so wie jetzt der Zehnte in der Türkei, und sie hatten damals eine erdrückende Höhe erreicht. Der König erhielt von mittlern und kleinern Gütern fast die Hälfte der Ernte. Da man annehmen kann, daß die andre Hälfte nur eben den notwendigsten Unterhalt des Bauern und der Arbeit deckte, so war für hypothekarische Belastung kein Platz mehr. Das bedeutet, daß ein ansehnliches Privateigentum um Boden nicht bestanden haben kann. Heute ist bei uns das Mehrprodukt des Landes der geordneten, aber freien Kon¬ kurrenz aller ausgesetzt. Jeder kann sich nach Kräften ein Stück davon erobern. Überall, wo es entsteht, kann es erobert werden. Man kann in Essen so gut ein reicher Mann werden wie in Berlin. Damals sammelte sich der Mehrwert in der Hand des Königs und wurde von ihm verteilt, aber nicht wie bei uns die Gelder des Etats verteilt werden, für öffentliche Zwecke, sodaß die Werte wieder in die Gegend zurückfließen, woher sie stammen, um dort für Gehälter, Garnisonen, Schulen und Straßen verwandt zu werden, sondern der großen Masse nach wurden diese Reichtümer an die königlichen Prinzen, den Hof, die hohen Beamten, die Günstlinge als Benefizien in Gestalt von Pfründen und pslichtenlosen Ämtern verteilt. Hohe Ämter machten damals nicht arm, sondern reich. Das vom König geschenkte Einkommen mußte auch unter seinen Augen verzehrt werden. Sich fernhalten vom Hofe machte verdächtig; verbannt werden in die Provinz war eine Strafe, das hieß von der Quelle des Reichtums und der Macht verbannt sein. Nur am Hofe konnte man etwas werden; in der Provinz gab es kein Emporkommen, nicht einmal Platz, ein großes Vermögen anzulegen. In absoluten Staaten dieser Art giebt es an Stelle des allgemeinen Wetteifers in bürgerlicher Arbeit und an Stelle der öffentlichen Politik in Staat und Gemeinde in der Hauptsache nur immer einen Weg zu Reichtum und Macht: die Hofintrigue. Die Folge ist die Verödung der Provinz. „Wenn man die Provinzen durchreist, Anjou, Mama, Bretagne, Poitou, Limousin, Mnrche, Berry, Nivernais, Bourbonnais, Auvergne, so wird man sehen, daß die Hälfte aus Heideland be¬ steht, das ungeheure Flächen bedeckt, die alle angebaut werden könnten." „Zwei Drittel der Bretagne liegen brach, das bedeutet nicht Unfruchtbarkeit, sondern Verfall." «Mxxol^te kams, I/g-molem r^imo.) Manche Landgüter bringen zwei Drittel weniger als früher. Der französische Landbau ist hinter dem englischen um ein Jahrhundert zurück, die Wege sind miserabel; die kleinen Landedelleute sind verarmt und ohne Einfluß, die großen Landeigentümer haben ihre Schlösser verlassen. Einen lvohlhabcnden Pächterstand giebt es nicht. Das Land wird dem Landvolk in Halbpacht gegeben, wobei ihm noch Saatkorn und Vieh und sogar der Unterhalt bis zur nächsten Ernte vorgeschossen werden muß: Zu¬ stünde, wie sie auch von Irland noch ans diesem Jahrhundert bekannt sind. Die Türkei zeigt viel ähnliche Züge. Konstantinopel ist eine glänzende Residenz, wo nicht nur der Padischnh, sondern auch die Machthaber des Hofes wundervolle Schlösser haben. Ich glaube, wenn man ganz Kleinasien durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/466>, abgerufen am 04.07.2024.