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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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schlimme Periode von 1871 bis 1874 hinweg, sodaß Kiew allein dem Schicksal
der Auflösung entging, dem alle übrigen rein russischen Universitäten verfielen.
Zum Glück für die Studenten war Bunge damals Rektor, Die Studenten
wußten, daß er immer ihre Partei nahm, immer bereit war, sie zu hören, zu
beraten, ihnen Hilfe zu leisten; vorzüglich aber, daß er den hohen Beamten
nicht den Hof machte und nur in den Füllen mit ihnen verkehrte, wo es der
Geschäftsgang der Universität oder das Interesse eines Studenten forderte, oder
wo die Regierung seine Ansicht zu vernehmen wünschte. Die Zahl der Stu¬
denten und Studentinnen, die der revolutionären Propaganda Sympathie ent¬
gegenbrachten, war in Kiew größer als an irgend einem andern Orte, viele
dieser jungen Leute sind später teils in freiwillige Verbannung gegangen, teils
als Anarchisten verurteilt worden. Aber unter seinem Rektorat blieb trotz hef¬
tiger Gärung äußerlich alles ruhig. Er führte das Verbot aller studentischen
Vereine durch, aber er bestimmte die Behörden, die heimlich fortbestehenden
Vereinigungen zu ignorieren, indem er sich persönlich für die Aufrechterhaltung
der Ordnung verbürgte. Er selbst blieb fortwährend über alles, was in den
heimlichen Versammlungen geschah, unterrichtet und schritt ein, so oft Hitzköpfe
einen gefährlichen Beschluß durchzusetzen im Begriff standen. Er bestellte dünn
die Führer um so und so viel Uhr des andern Morgens zu sich. Er ließ sie
ein wenig warten, und diese Wartezeit brachte schon eine heilsame Wirkung
hervor; denn sie überlegten, da, daß Bunge sie als Führer kenne, und daß,
wenn es zur gerichtlichem Verfolgung käme, sie zuerst beim Kopfe genommen
werden würden. Auch wurde ihnen bange bei dem Gedanken an die bekannte
Gedankenklarheit des Rektors und an die Schärfe feines Worts. Bunge kam
endlich, sagte seine Meinung und ließ dann die Studenten reden. Natürlich
drängte sich der Hitzigste zuerst zum Wort, und es war nicht schwer für einen
Mann von Burges dialektischer Kunst, deu vorlauten Schwätzer g,Ä g.bsur<w"r
M führen. Ein schlagendes Witzwort erzeugte allgemeine Heiterkeit, und der
kühne Vorkämpfer zog sich beschämt zurück. Eine halbstündige Verhandlung
reichte hin, die Gemüter zu beruhigen und den drohenden gefährlichen Sturm
ZU beschwören. Man hat später Bunge gefragt, warum er gerade nur immer
zehn bis zwölf Mann geladen habe, nicht mehr, nicht weniger. Er antwortete,
^ habe ihn folgende psychologische Erwügnng bestimmt, gerade diese Zahl zu
wählen. Sind ihrer mehr als zwölf, so fühlen sich die Leutchen nicht mehr
jeder persönlich beobachtet; sie bilden einen Haufen, aus dem ein gefährlicher
Ausruf hervorgehn kann, indem der Rufer meint, er werde unentdeckt bleiben;
das kann eine Beleidigung des Rektors oder ein andres böses Wort sein, wo¬
durch die friedliche Verhandlung abgeschnitten wird. Bleibt dagegen die Zahl
unter zehn, so hat man eine vertrauliche Unterhaltung statt einer öffentlichen
Debatte. Die abwesenden Kameraden werden in den Gelndncn eine verräte¬
rische Clique sehen und kein Vertrauen zu dem haben, was sie berichten;
außerdem geht die sehr wichtige Wirkung des Lachens verloren, das ganz
"übers wirkt, wenn es kräftig aus zehn jugendlichen Kehlen hervorbricht,


schlimme Periode von 1871 bis 1874 hinweg, sodaß Kiew allein dem Schicksal
der Auflösung entging, dem alle übrigen rein russischen Universitäten verfielen.
Zum Glück für die Studenten war Bunge damals Rektor, Die Studenten
wußten, daß er immer ihre Partei nahm, immer bereit war, sie zu hören, zu
beraten, ihnen Hilfe zu leisten; vorzüglich aber, daß er den hohen Beamten
nicht den Hof machte und nur in den Füllen mit ihnen verkehrte, wo es der
Geschäftsgang der Universität oder das Interesse eines Studenten forderte, oder
wo die Regierung seine Ansicht zu vernehmen wünschte. Die Zahl der Stu¬
denten und Studentinnen, die der revolutionären Propaganda Sympathie ent¬
gegenbrachten, war in Kiew größer als an irgend einem andern Orte, viele
dieser jungen Leute sind später teils in freiwillige Verbannung gegangen, teils
als Anarchisten verurteilt worden. Aber unter seinem Rektorat blieb trotz hef¬
tiger Gärung äußerlich alles ruhig. Er führte das Verbot aller studentischen
Vereine durch, aber er bestimmte die Behörden, die heimlich fortbestehenden
Vereinigungen zu ignorieren, indem er sich persönlich für die Aufrechterhaltung
der Ordnung verbürgte. Er selbst blieb fortwährend über alles, was in den
heimlichen Versammlungen geschah, unterrichtet und schritt ein, so oft Hitzköpfe
einen gefährlichen Beschluß durchzusetzen im Begriff standen. Er bestellte dünn
die Führer um so und so viel Uhr des andern Morgens zu sich. Er ließ sie
ein wenig warten, und diese Wartezeit brachte schon eine heilsame Wirkung
hervor; denn sie überlegten, da, daß Bunge sie als Führer kenne, und daß,
wenn es zur gerichtlichem Verfolgung käme, sie zuerst beim Kopfe genommen
werden würden. Auch wurde ihnen bange bei dem Gedanken an die bekannte
Gedankenklarheit des Rektors und an die Schärfe feines Worts. Bunge kam
endlich, sagte seine Meinung und ließ dann die Studenten reden. Natürlich
drängte sich der Hitzigste zuerst zum Wort, und es war nicht schwer für einen
Mann von Burges dialektischer Kunst, deu vorlauten Schwätzer g,Ä g.bsur<w«r
M führen. Ein schlagendes Witzwort erzeugte allgemeine Heiterkeit, und der
kühne Vorkämpfer zog sich beschämt zurück. Eine halbstündige Verhandlung
reichte hin, die Gemüter zu beruhigen und den drohenden gefährlichen Sturm
ZU beschwören. Man hat später Bunge gefragt, warum er gerade nur immer
zehn bis zwölf Mann geladen habe, nicht mehr, nicht weniger. Er antwortete,
^ habe ihn folgende psychologische Erwügnng bestimmt, gerade diese Zahl zu
wählen. Sind ihrer mehr als zwölf, so fühlen sich die Leutchen nicht mehr
jeder persönlich beobachtet; sie bilden einen Haufen, aus dem ein gefährlicher
Ausruf hervorgehn kann, indem der Rufer meint, er werde unentdeckt bleiben;
das kann eine Beleidigung des Rektors oder ein andres böses Wort sein, wo¬
durch die friedliche Verhandlung abgeschnitten wird. Bleibt dagegen die Zahl
unter zehn, so hat man eine vertrauliche Unterhaltung statt einer öffentlichen
Debatte. Die abwesenden Kameraden werden in den Gelndncn eine verräte¬
rische Clique sehen und kein Vertrauen zu dem haben, was sie berichten;
außerdem geht die sehr wichtige Wirkung des Lachens verloren, das ganz
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/341>, abgerufen am 04.07.2024.