Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.Biographische Litteratur Verlangt; sie ist dankbar für alles, was sie vom Leben empfangen hat, und Von den drei geistreichen Jüdinnen, die einst in dem alten, vormärzlichen Biographische Litteratur Verlangt; sie ist dankbar für alles, was sie vom Leben empfangen hat, und Von den drei geistreichen Jüdinnen, die einst in dem alten, vormärzlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0301" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232853"/> <fw type="header" place="top"> Biographische Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_960" prev="#ID_959"> Verlangt; sie ist dankbar für alles, was sie vom Leben empfangen hat, und<lb/> würde sich freuen, wenn sie uns alle ebenso glücklich und in derselben Stim¬<lb/> mung wüßte, Ihren „Memoiren einer Idealistin" hat sie einen Nachtrag hin¬<lb/> zugefügt und damit, wie sie denkt, zum letztenmal öffentlich das Wort er¬<lb/> griffen, unter dem Titel: Der Lebensabend einer Idealistin (Berlin, Schuster<lb/> und Locffler), Nicht jedem wird der Idealismus gleich leicht gemacht. Wer<lb/> Alexander Herzens Töchter in die große Welt eingeführt und Richard Wagners<lb/> Freundschaft genossen hat, wer zu den Juliner des Hauses Minghetti zählt,<lb/> sich von Lenbach hat malen lassen und sich Nietzsche, als er noch nicht ganz so<lb/> verderblich war, zum Hausgeist zähmen konnte (wiewohl dies schon nicht mehr<lb/> zu jedermanns Idealen gehören würde), wer überhaupt jahrzehntelang in einem<lb/> schönen fremden Laude lebt, das alle Vorteile einer zweiten Heimat gewährt<lb/> und nicht zuviel von den rauhen Pflichten anstatt, die das itnvcrineidliche An¬<lb/> gebinde unsers ersten zu sein pflegein der wird uns anch ohne viel Mühe ein<lb/> hübsches Buch schreiben können über einen solchen Lebensabschnitt mit allen<lb/> seinen äußern Ereignissen und uicht gewöhnlichen Eindrücken. Nicht jedem<lb/> freilich würde die beneidenswerte Sorglosigkeit eines solchen internationalen<lb/> Reiselebens mit den Hauptpunkten Florenz, Rom, Venedig und Paris oder<lb/> Versailles so zum guten ausschlagen wie der Verfasserin. Es gehört dazu<lb/> nicht nur ihr lebendiges Verlangen, alles Erlebte in Bildung umzusetzen,<lb/> sondern auch eine seltne Genußfähigkeit, die sie selbst sich einmal bezeugt, bei<lb/> Gelegenheit einer Besnchsreise nach Ems zu ihrer einzigen alten Schwester: „ein<lb/> Liebesopfer meinerseits, da ich wenig mehr für dies erlöschende Leben thun konnte<lb/> und die Zeit zum Besuche herrlicher, von mir noch ungekannter Orte Hütte be¬<lb/> nutzen können, an denen mir Freude und Belehrung geworden wäre." So<lb/> ungefähr hätte anch Lnigi Cornaro sprechen können. Wir hoffen, daß Malvida<lb/> von Meysenbug nicht zum letztenmale unsre immer nüchterner werdende Welt<lb/> mit ihrem Idealismus vergoldet haben möge, und werden uns um diesen Preis<lb/> gern in seiue manchmal etwas unwahrscheinlichen Dimensionen finden. Nur<lb/> sollte sie uns nicht die Kolonialpolitik allgemein als „modernen Schwindel"<lb/> anstreichen, weil es den Italienern in Abessinien so schlecht ergangen ist. Diese<lb/> hätten sich znerst selbst kolonisieren müssen, innerlich, während sie gerade heute<lb/> erst, wie wir in deu Zeitungen lesen, bei der Maffia anfangen.</p><lb/> <p xml:id="ID_961" next="#ID_962"> Von den drei geistreichen Jüdinnen, die einst in dem alten, vormärzlichen<lb/> Berlin berühmt waren (jetzt sind ihrer vielleicht weit mehr), gebührt der erste<lb/> Platz Nadel Varnhagen; sie war klüger als Henriette Herz und ebenso<lb/> klug wie Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel, und sie hatte mehr Gemüt als<lb/> beide. Nach einigen von vornherein aussichtslosen Neiguitgsverhältnisscn zu<lb/> gesellschaftlich höher stehenden Männern, einer Mutter, die sie nicht verstand,<lb/> entfremdet und dann von ihr getrennt, heiratete die Dreiundvierzigjährige<lb/> schließlich 1814 deu dreizehn Jahre jüngern Varnhagen, der sich etwa sieben<lb/> Jahre lang unter Abwägung aller Konjunkturen auf diesen Entschluß vor¬<lb/> bereitet hatte. Wie dieser oder jener damalige Mensch über die Verbindung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0301]
Biographische Litteratur
Verlangt; sie ist dankbar für alles, was sie vom Leben empfangen hat, und
würde sich freuen, wenn sie uns alle ebenso glücklich und in derselben Stim¬
mung wüßte, Ihren „Memoiren einer Idealistin" hat sie einen Nachtrag hin¬
zugefügt und damit, wie sie denkt, zum letztenmal öffentlich das Wort er¬
griffen, unter dem Titel: Der Lebensabend einer Idealistin (Berlin, Schuster
und Locffler), Nicht jedem wird der Idealismus gleich leicht gemacht. Wer
Alexander Herzens Töchter in die große Welt eingeführt und Richard Wagners
Freundschaft genossen hat, wer zu den Juliner des Hauses Minghetti zählt,
sich von Lenbach hat malen lassen und sich Nietzsche, als er noch nicht ganz so
verderblich war, zum Hausgeist zähmen konnte (wiewohl dies schon nicht mehr
zu jedermanns Idealen gehören würde), wer überhaupt jahrzehntelang in einem
schönen fremden Laude lebt, das alle Vorteile einer zweiten Heimat gewährt
und nicht zuviel von den rauhen Pflichten anstatt, die das itnvcrineidliche An¬
gebinde unsers ersten zu sein pflegein der wird uns anch ohne viel Mühe ein
hübsches Buch schreiben können über einen solchen Lebensabschnitt mit allen
seinen äußern Ereignissen und uicht gewöhnlichen Eindrücken. Nicht jedem
freilich würde die beneidenswerte Sorglosigkeit eines solchen internationalen
Reiselebens mit den Hauptpunkten Florenz, Rom, Venedig und Paris oder
Versailles so zum guten ausschlagen wie der Verfasserin. Es gehört dazu
nicht nur ihr lebendiges Verlangen, alles Erlebte in Bildung umzusetzen,
sondern auch eine seltne Genußfähigkeit, die sie selbst sich einmal bezeugt, bei
Gelegenheit einer Besnchsreise nach Ems zu ihrer einzigen alten Schwester: „ein
Liebesopfer meinerseits, da ich wenig mehr für dies erlöschende Leben thun konnte
und die Zeit zum Besuche herrlicher, von mir noch ungekannter Orte Hütte be¬
nutzen können, an denen mir Freude und Belehrung geworden wäre." So
ungefähr hätte anch Lnigi Cornaro sprechen können. Wir hoffen, daß Malvida
von Meysenbug nicht zum letztenmale unsre immer nüchterner werdende Welt
mit ihrem Idealismus vergoldet haben möge, und werden uns um diesen Preis
gern in seiue manchmal etwas unwahrscheinlichen Dimensionen finden. Nur
sollte sie uns nicht die Kolonialpolitik allgemein als „modernen Schwindel"
anstreichen, weil es den Italienern in Abessinien so schlecht ergangen ist. Diese
hätten sich znerst selbst kolonisieren müssen, innerlich, während sie gerade heute
erst, wie wir in deu Zeitungen lesen, bei der Maffia anfangen.
Von den drei geistreichen Jüdinnen, die einst in dem alten, vormärzlichen
Berlin berühmt waren (jetzt sind ihrer vielleicht weit mehr), gebührt der erste
Platz Nadel Varnhagen; sie war klüger als Henriette Herz und ebenso
klug wie Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel, und sie hatte mehr Gemüt als
beide. Nach einigen von vornherein aussichtslosen Neiguitgsverhältnisscn zu
gesellschaftlich höher stehenden Männern, einer Mutter, die sie nicht verstand,
entfremdet und dann von ihr getrennt, heiratete die Dreiundvierzigjährige
schließlich 1814 deu dreizehn Jahre jüngern Varnhagen, der sich etwa sieben
Jahre lang unter Abwägung aller Konjunkturen auf diesen Entschluß vor¬
bereitet hatte. Wie dieser oder jener damalige Mensch über die Verbindung
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