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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Historische Nationalitätsforschung

PMbige Sammlung urkundlicher und archivalischer Flur- und Personennamen
d'e Möglichkeit eines Aufschlusses zu schaffen über die frühere Gestaltung
unsrer nationalen Abgrcnzuilgsverhältnisse. Diese gewaltige Vorarbeit kann
"lebt von einem Einzelnen geleistet werden. Und auch für den begrenzten
Rahmen einer Provinz oder Landschaft wird ein Einzelner die gesamte Arbeit
nur dann auf sich nehmen können, wenn sein Beruf ihm eine bedeutende
Arbeitszeit übrig läßt oder ihm die Gelegenheit zum Mnterialsammeln bietet.

Das zu erstrebende Ziel ist deshalb mir durch eine weitgehende Arbeits¬
teilung zu erreichen, vor allem durch eine eifrige Mitwirkung der historischen
Provinzial- und Lokalforschung. Wer auch immer bei seinen historischen
Forschungen einen: bestimmten Hinweis begegnet, daß dieser oder jener Ort zu
dieser oder jener Zeit eine anders redende Bevölkerung gehabt hat als jetzt,
°er möge diesen Fund nicht gering achten, auch wenn er mit seinem speziellen
Forschungsgebiet nichts gemein hat. Möge er diesen Fall unter allen Um¬
stünden mit dein nötigen Beweismaterial der historischen Zeitschrift seiner Land¬
schaft zur Verfügung stellen. Besser wäre es noch, wenn eine bestimmte Zeit¬
schrift sich bereit fände, derartige Einsendungen entgegenzunehmen, sie nach
Landschaften ordnen und -- selbstverständlich mit Nennung der Einsender --
^arbeiten zu lassen. Damit wäre von vornherein der Zersplitterung dieses
schätzbaren Materials ein Riegel vorgeschoben.

Wenn sich dann neben diesen gelegentlichen Mitarbeitern noch solche fänden,
U' sich zunächst für den Bereich ihrer heimatlichen Landschaft besonders diesem
Forschungszweig widmeten, dann dürfte man wohl hoffen, daß in absehbarer
6eit ein deutliches Bild von der wechselnden Verbreitung unsrer Sprache und
Nationalität in Europa gezeichnet werden könnte. Das wäre ein Ergebnis,
das uicht nnr für die Geschichte, sondern auch für die Sprachwissenschaft und
Sekr die Geographie von der größten Bedeutung sein würde. Denn darüber
^ann kein Zweifel sein, daß die Nationalitütsbewegung eine der wirksamsten
historischen Kräfte ist; daß sich viele politische und soziale Kämpfe der Gegen¬
wart wie der Vergangenheit nur durch die Erforschung dieser tiefern Ursache
vollkommen verstehn lassen. Und in welchem Maße die historische Natio¬
nalitätsforschung auch auf andre wissenschaftliche Arbeitszweige befruchtend
Wirken kaun, hat sich erst neuerdings bei der nahe verwandten Ortsnnmen-
lorschung gezeigt: in dieser war noch vor kurzer Zeit die bekannte Arnoldsche
Ansicht alleinherrschend, bis die Feststellung der ehemaligen deutsch-französischen
Sprachgrenze Lothringens den Anstoß zur Nachprüfung gab und durch ihre
Ergebnisse die jetzt erreichte Widerlegung mit herbeiführen half. So stellt sich
historische Nationalitätsforschung geradezu als notwendiger Unterbau für
°^e Ortsnamenforschnng dar; es ist uicht möglich, ohne genaue Kenntnis der
Sehern Gestaltung der Sprachgrenzen das Wesen so mancher Ortsnmnenthpe
6U erfassen.

Sollte sich jemand an der Kleinlichkeit der lokalen Vorarbeiten stoßen,
>o möge er bedenken, daß die Erforschung der Schicksale unsers Volkstums und


Grenzboten I 1900 85
Historische Nationalitätsforschung

PMbige Sammlung urkundlicher und archivalischer Flur- und Personennamen
d'e Möglichkeit eines Aufschlusses zu schaffen über die frühere Gestaltung
unsrer nationalen Abgrcnzuilgsverhältnisse. Diese gewaltige Vorarbeit kann
"lebt von einem Einzelnen geleistet werden. Und auch für den begrenzten
Rahmen einer Provinz oder Landschaft wird ein Einzelner die gesamte Arbeit
nur dann auf sich nehmen können, wenn sein Beruf ihm eine bedeutende
Arbeitszeit übrig läßt oder ihm die Gelegenheit zum Mnterialsammeln bietet.

Das zu erstrebende Ziel ist deshalb mir durch eine weitgehende Arbeits¬
teilung zu erreichen, vor allem durch eine eifrige Mitwirkung der historischen
Provinzial- und Lokalforschung. Wer auch immer bei seinen historischen
Forschungen einen: bestimmten Hinweis begegnet, daß dieser oder jener Ort zu
dieser oder jener Zeit eine anders redende Bevölkerung gehabt hat als jetzt,
°er möge diesen Fund nicht gering achten, auch wenn er mit seinem speziellen
Forschungsgebiet nichts gemein hat. Möge er diesen Fall unter allen Um¬
stünden mit dein nötigen Beweismaterial der historischen Zeitschrift seiner Land¬
schaft zur Verfügung stellen. Besser wäre es noch, wenn eine bestimmte Zeit¬
schrift sich bereit fände, derartige Einsendungen entgegenzunehmen, sie nach
Landschaften ordnen und — selbstverständlich mit Nennung der Einsender —
^arbeiten zu lassen. Damit wäre von vornherein der Zersplitterung dieses
schätzbaren Materials ein Riegel vorgeschoben.

Wenn sich dann neben diesen gelegentlichen Mitarbeitern noch solche fänden,
U' sich zunächst für den Bereich ihrer heimatlichen Landschaft besonders diesem
Forschungszweig widmeten, dann dürfte man wohl hoffen, daß in absehbarer
6eit ein deutliches Bild von der wechselnden Verbreitung unsrer Sprache und
Nationalität in Europa gezeichnet werden könnte. Das wäre ein Ergebnis,
das uicht nnr für die Geschichte, sondern auch für die Sprachwissenschaft und
Sekr die Geographie von der größten Bedeutung sein würde. Denn darüber
^ann kein Zweifel sein, daß die Nationalitütsbewegung eine der wirksamsten
historischen Kräfte ist; daß sich viele politische und soziale Kämpfe der Gegen¬
wart wie der Vergangenheit nur durch die Erforschung dieser tiefern Ursache
vollkommen verstehn lassen. Und in welchem Maße die historische Natio¬
nalitätsforschung auch auf andre wissenschaftliche Arbeitszweige befruchtend
Wirken kaun, hat sich erst neuerdings bei der nahe verwandten Ortsnnmen-
lorschung gezeigt: in dieser war noch vor kurzer Zeit die bekannte Arnoldsche
Ansicht alleinherrschend, bis die Feststellung der ehemaligen deutsch-französischen
Sprachgrenze Lothringens den Anstoß zur Nachprüfung gab und durch ihre
Ergebnisse die jetzt erreichte Widerlegung mit herbeiführen half. So stellt sich
historische Nationalitätsforschung geradezu als notwendiger Unterbau für
°^e Ortsnamenforschnng dar; es ist uicht möglich, ohne genaue Kenntnis der
Sehern Gestaltung der Sprachgrenzen das Wesen so mancher Ortsnmnenthpe
6U erfassen.

Sollte sich jemand an der Kleinlichkeit der lokalen Vorarbeiten stoßen,
>o möge er bedenken, daß die Erforschung der Schicksale unsers Volkstums und


Grenzboten I 1900 85
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[0281] Historische Nationalitätsforschung PMbige Sammlung urkundlicher und archivalischer Flur- und Personennamen d'e Möglichkeit eines Aufschlusses zu schaffen über die frühere Gestaltung unsrer nationalen Abgrcnzuilgsverhältnisse. Diese gewaltige Vorarbeit kann "lebt von einem Einzelnen geleistet werden. Und auch für den begrenzten Rahmen einer Provinz oder Landschaft wird ein Einzelner die gesamte Arbeit nur dann auf sich nehmen können, wenn sein Beruf ihm eine bedeutende Arbeitszeit übrig läßt oder ihm die Gelegenheit zum Mnterialsammeln bietet. Das zu erstrebende Ziel ist deshalb mir durch eine weitgehende Arbeits¬ teilung zu erreichen, vor allem durch eine eifrige Mitwirkung der historischen Provinzial- und Lokalforschung. Wer auch immer bei seinen historischen Forschungen einen: bestimmten Hinweis begegnet, daß dieser oder jener Ort zu dieser oder jener Zeit eine anders redende Bevölkerung gehabt hat als jetzt, °er möge diesen Fund nicht gering achten, auch wenn er mit seinem speziellen Forschungsgebiet nichts gemein hat. Möge er diesen Fall unter allen Um¬ stünden mit dein nötigen Beweismaterial der historischen Zeitschrift seiner Land¬ schaft zur Verfügung stellen. Besser wäre es noch, wenn eine bestimmte Zeit¬ schrift sich bereit fände, derartige Einsendungen entgegenzunehmen, sie nach Landschaften ordnen und — selbstverständlich mit Nennung der Einsender — ^arbeiten zu lassen. Damit wäre von vornherein der Zersplitterung dieses schätzbaren Materials ein Riegel vorgeschoben. Wenn sich dann neben diesen gelegentlichen Mitarbeitern noch solche fänden, U' sich zunächst für den Bereich ihrer heimatlichen Landschaft besonders diesem Forschungszweig widmeten, dann dürfte man wohl hoffen, daß in absehbarer 6eit ein deutliches Bild von der wechselnden Verbreitung unsrer Sprache und Nationalität in Europa gezeichnet werden könnte. Das wäre ein Ergebnis, das uicht nnr für die Geschichte, sondern auch für die Sprachwissenschaft und Sekr die Geographie von der größten Bedeutung sein würde. Denn darüber ^ann kein Zweifel sein, daß die Nationalitütsbewegung eine der wirksamsten historischen Kräfte ist; daß sich viele politische und soziale Kämpfe der Gegen¬ wart wie der Vergangenheit nur durch die Erforschung dieser tiefern Ursache vollkommen verstehn lassen. Und in welchem Maße die historische Natio¬ nalitätsforschung auch auf andre wissenschaftliche Arbeitszweige befruchtend Wirken kaun, hat sich erst neuerdings bei der nahe verwandten Ortsnnmen- lorschung gezeigt: in dieser war noch vor kurzer Zeit die bekannte Arnoldsche Ansicht alleinherrschend, bis die Feststellung der ehemaligen deutsch-französischen Sprachgrenze Lothringens den Anstoß zur Nachprüfung gab und durch ihre Ergebnisse die jetzt erreichte Widerlegung mit herbeiführen half. So stellt sich historische Nationalitätsforschung geradezu als notwendiger Unterbau für °^e Ortsnamenforschnng dar; es ist uicht möglich, ohne genaue Kenntnis der Sehern Gestaltung der Sprachgrenzen das Wesen so mancher Ortsnmnenthpe 6U erfassen. Sollte sich jemand an der Kleinlichkeit der lokalen Vorarbeiten stoßen, >o möge er bedenken, daß die Erforschung der Schicksale unsers Volkstums und Grenzboten I 1900 85

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/281>, abgerufen am 30.06.2024.