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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Historische Nationalitätsforschung

Interesse für diese Dinge augenscheinlich immer noch zu; die preußische Re¬
gierung hat sich entschlossen, bei einer der letzten Volkszählungen nach lang¬
jähriger Unterbrechung die Frage nach Familiensprache und Nationalität wieder
aufzunehmen. Unser deutsches Volk steht noch mitten in schweren nationalen
Kämpfen nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern auch im ganzen Osten des
preußischen Staats von der Ostsee bis zum Riesengebirge; in Nordschleswig
gilt es dem Däucntum Schach zu bieten, und in Elsaß-Lothringen den ur¬
sprünglich deutschen Charakter des Landes wieder herzustellen.

Diese Thatsachen werden das Interesse für die Nationalitätsverhältnisse
bei uns wach halten, und die kommenden Geschlechter werden davon reiche
Früchte ernten. Von ihrem entfernter" Standpunkte aus werden sie die un¬
ermeßliche Fülle des gegenwärtig angesammelten Materials überschauen, ordnen
und geistig durchdrungen können. Sie werden die Möglichkeit haben, jede
Schwankung und Veränderung des nationalen Besitzstands unsrer Jahrzehnte
genau nach Zeit, Ort und Ursachen festzustellen. Ihrem Blicke werden sich
die von uns nur von fern geahnten und in Einzelfällen erkannten Gesetze er¬
schließen, nach denen sich das Vor- und Zurückflute" nationaler Ausbreitung
der Völker regelt. Und gestützt auf die dadurch gewonnene Erkenntnis werden
sie in der Lage sein, dort, wo ihr Volkstum in seinem Besitzstaude bedroht ist,
die geeigneten Mittel zu dessen Behauptung ausfindig zu macheu.

Wenn wir dergestalt Materialien anhäufen, durch die spätere Geschlechter
einst in der Lage sein werden, historische Nationalitätsforschung in ausgiebigster
Weise zu treiben, so bereiten wir dndnrch diesen Fvrschungszweig nur vor.
Wollen wir selbstforschend auf diesem Gebiete wirken, so fällt uns für die ver¬
flossenen Jahrhunderte dieselbe Aufgabe zu, die die spätern Geschlechter für
unser Zeitalter zu erfüllen haben werden. Unter allen Umständen werden wir
es versuchen müssen, die soeben berührten Ziele der historischen Nationalitäts¬
forschung auch für die entlegnen Jahrhunderte des Mittelalters zu erreichen,
wenn uns dabei auch keine wohl angelegten und durchgearbeiteten Statistiker der
Vorfahren unterstützen, und wir froh sein müssen, hier und da in den Urkunden
und Akten der Archive verborgne Andeutungen zu finden, aus denen nur der
auf diese Dinge aufmerksam gemachte und für fie geschärfte Blick sichere Schlüsse
auf die Nationalitntswandluttgen einer längst vergangnen Zeit ziehn kann-

Seit der Seßhaftigkeit unsers Volkstums kann man von einer Sprach¬
grenze rede". Sie läßt sich natürlich für diese Zeit nicht genau feststellen.
Sicher ist, daß sie den Rhein und Süddeutschland noch nicht einschloß; dort
wohnte" noch keltische Völkerschaften. Dann käme" die Vorbote" der Völker-
wandruug: die deutscheu Stämme drängten immer energischer nach Südwester
Die große Wandrung selber führte einzelne deutsche Stämme über die Balkan-
halbinsel, Italien, Gallien, Spanien, bis nach Afrika. Zu weit entfernt von
der Hauptmasse des deutschen Volkstunis gi"ge" sie zu Grunde, aufgesogen
von der sie umgebenden überlegnen Kultur. Im Gegensatz zu ihnen haben do
Franke" uno Alemannen bei ihren, Vordringe" nach Westen und Süden den


Historische Nationalitätsforschung

Interesse für diese Dinge augenscheinlich immer noch zu; die preußische Re¬
gierung hat sich entschlossen, bei einer der letzten Volkszählungen nach lang¬
jähriger Unterbrechung die Frage nach Familiensprache und Nationalität wieder
aufzunehmen. Unser deutsches Volk steht noch mitten in schweren nationalen
Kämpfen nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern auch im ganzen Osten des
preußischen Staats von der Ostsee bis zum Riesengebirge; in Nordschleswig
gilt es dem Däucntum Schach zu bieten, und in Elsaß-Lothringen den ur¬
sprünglich deutschen Charakter des Landes wieder herzustellen.

Diese Thatsachen werden das Interesse für die Nationalitätsverhältnisse
bei uns wach halten, und die kommenden Geschlechter werden davon reiche
Früchte ernten. Von ihrem entfernter» Standpunkte aus werden sie die un¬
ermeßliche Fülle des gegenwärtig angesammelten Materials überschauen, ordnen
und geistig durchdrungen können. Sie werden die Möglichkeit haben, jede
Schwankung und Veränderung des nationalen Besitzstands unsrer Jahrzehnte
genau nach Zeit, Ort und Ursachen festzustellen. Ihrem Blicke werden sich
die von uns nur von fern geahnten und in Einzelfällen erkannten Gesetze er¬
schließen, nach denen sich das Vor- und Zurückflute» nationaler Ausbreitung
der Völker regelt. Und gestützt auf die dadurch gewonnene Erkenntnis werden
sie in der Lage sein, dort, wo ihr Volkstum in seinem Besitzstaude bedroht ist,
die geeigneten Mittel zu dessen Behauptung ausfindig zu macheu.

Wenn wir dergestalt Materialien anhäufen, durch die spätere Geschlechter
einst in der Lage sein werden, historische Nationalitätsforschung in ausgiebigster
Weise zu treiben, so bereiten wir dndnrch diesen Fvrschungszweig nur vor.
Wollen wir selbstforschend auf diesem Gebiete wirken, so fällt uns für die ver¬
flossenen Jahrhunderte dieselbe Aufgabe zu, die die spätern Geschlechter für
unser Zeitalter zu erfüllen haben werden. Unter allen Umständen werden wir
es versuchen müssen, die soeben berührten Ziele der historischen Nationalitäts¬
forschung auch für die entlegnen Jahrhunderte des Mittelalters zu erreichen,
wenn uns dabei auch keine wohl angelegten und durchgearbeiteten Statistiker der
Vorfahren unterstützen, und wir froh sein müssen, hier und da in den Urkunden
und Akten der Archive verborgne Andeutungen zu finden, aus denen nur der
auf diese Dinge aufmerksam gemachte und für fie geschärfte Blick sichere Schlüsse
auf die Nationalitntswandluttgen einer längst vergangnen Zeit ziehn kann-

Seit der Seßhaftigkeit unsers Volkstums kann man von einer Sprach¬
grenze rede». Sie läßt sich natürlich für diese Zeit nicht genau feststellen.
Sicher ist, daß sie den Rhein und Süddeutschland noch nicht einschloß; dort
wohnte» noch keltische Völkerschaften. Dann käme» die Vorbote» der Völker-
wandruug: die deutscheu Stämme drängten immer energischer nach Südwester
Die große Wandrung selber führte einzelne deutsche Stämme über die Balkan-
halbinsel, Italien, Gallien, Spanien, bis nach Afrika. Zu weit entfernt von
der Hauptmasse des deutschen Volkstunis gi»ge» sie zu Grunde, aufgesogen
von der sie umgebenden überlegnen Kultur. Im Gegensatz zu ihnen haben do
Franke» uno Alemannen bei ihren, Vordringe» nach Westen und Süden den


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[0274] Historische Nationalitätsforschung Interesse für diese Dinge augenscheinlich immer noch zu; die preußische Re¬ gierung hat sich entschlossen, bei einer der letzten Volkszählungen nach lang¬ jähriger Unterbrechung die Frage nach Familiensprache und Nationalität wieder aufzunehmen. Unser deutsches Volk steht noch mitten in schweren nationalen Kämpfen nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern auch im ganzen Osten des preußischen Staats von der Ostsee bis zum Riesengebirge; in Nordschleswig gilt es dem Däucntum Schach zu bieten, und in Elsaß-Lothringen den ur¬ sprünglich deutschen Charakter des Landes wieder herzustellen. Diese Thatsachen werden das Interesse für die Nationalitätsverhältnisse bei uns wach halten, und die kommenden Geschlechter werden davon reiche Früchte ernten. Von ihrem entfernter» Standpunkte aus werden sie die un¬ ermeßliche Fülle des gegenwärtig angesammelten Materials überschauen, ordnen und geistig durchdrungen können. Sie werden die Möglichkeit haben, jede Schwankung und Veränderung des nationalen Besitzstands unsrer Jahrzehnte genau nach Zeit, Ort und Ursachen festzustellen. Ihrem Blicke werden sich die von uns nur von fern geahnten und in Einzelfällen erkannten Gesetze er¬ schließen, nach denen sich das Vor- und Zurückflute» nationaler Ausbreitung der Völker regelt. Und gestützt auf die dadurch gewonnene Erkenntnis werden sie in der Lage sein, dort, wo ihr Volkstum in seinem Besitzstaude bedroht ist, die geeigneten Mittel zu dessen Behauptung ausfindig zu macheu. Wenn wir dergestalt Materialien anhäufen, durch die spätere Geschlechter einst in der Lage sein werden, historische Nationalitätsforschung in ausgiebigster Weise zu treiben, so bereiten wir dndnrch diesen Fvrschungszweig nur vor. Wollen wir selbstforschend auf diesem Gebiete wirken, so fällt uns für die ver¬ flossenen Jahrhunderte dieselbe Aufgabe zu, die die spätern Geschlechter für unser Zeitalter zu erfüllen haben werden. Unter allen Umständen werden wir es versuchen müssen, die soeben berührten Ziele der historischen Nationalitäts¬ forschung auch für die entlegnen Jahrhunderte des Mittelalters zu erreichen, wenn uns dabei auch keine wohl angelegten und durchgearbeiteten Statistiker der Vorfahren unterstützen, und wir froh sein müssen, hier und da in den Urkunden und Akten der Archive verborgne Andeutungen zu finden, aus denen nur der auf diese Dinge aufmerksam gemachte und für fie geschärfte Blick sichere Schlüsse auf die Nationalitntswandluttgen einer längst vergangnen Zeit ziehn kann- Seit der Seßhaftigkeit unsers Volkstums kann man von einer Sprach¬ grenze rede». Sie läßt sich natürlich für diese Zeit nicht genau feststellen. Sicher ist, daß sie den Rhein und Süddeutschland noch nicht einschloß; dort wohnte» noch keltische Völkerschaften. Dann käme» die Vorbote» der Völker- wandruug: die deutscheu Stämme drängten immer energischer nach Südwester Die große Wandrung selber führte einzelne deutsche Stämme über die Balkan- halbinsel, Italien, Gallien, Spanien, bis nach Afrika. Zu weit entfernt von der Hauptmasse des deutschen Volkstunis gi»ge» sie zu Grunde, aufgesogen von der sie umgebenden überlegnen Kultur. Im Gegensatz zu ihnen haben do Franke» uno Alemannen bei ihren, Vordringe» nach Westen und Süden den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/274>, abgerufen am 02.10.2024.