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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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eine bedingte Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es ist einmal That
sache, daß bisher immer hundert Personen hämmern, graben und Schmutzarbeit
verrichten mußten, damit zehn Personen denken und dichten, die Höhen des
geistigen Lebens erklimmen und der Schönheit des Daseins froh werden konnten.
Wie allen Handarbeitern nicht allein ein ausreichendes Maß von leiblichen
Gütern, sondern auch die Teilnahme an den geistigen Gütern gesichert werden
könne, das hat bis heute noch niemand herausgefunden. Die volle Entfaltung
der Bevorzugten richt heute gerade noch so wie im Altertum auf der geistigen
Verkümmerung der Massen, und selbst eine allgemeine Bekehrung zu christ¬
licher Gesinnung könnte daran nichts ändern. Solche Bekehrung wäre aller¬
dings, wie oben gesagt wurde, erforderlich, um den Zustand der Gleichheit zu
erhalten, wenn er durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Um¬
wälzungen herbeigeführt wäre. Hilty selbst sagt einmal, es sei traurig, daß
jedes Kind, das geboren wird, die höhere Bestimmung deutlich in sich trage,
deren Erreichbarkeit sich bei den meisten mit vorrückenden Alter immer mehr
verliere, aber er scheint nicht zu bemerken, daß es vorzugsweise soziale Ver¬
hältnisse sind, die den Zugang zum höhern Dasein versperren; denn in einem
ganz armseligen, schmutzigen, in der Sorge und Plage um die Befriedigung
der dringendsten leiblichen Bedürfnisse aufgehenden Leben kann gar nichts
Edleres, auch nicht die Religion gedeihn; wenn Hilty das echte Christentum
nur bei kleinen Leuten findet, so hat er eine andre Klasse im Auge, und es
ist noch die Frage, ob das, was er bei ihnen gefunden hat, Christentum ist.
Er lebt eben in der Schweiz und sieht die Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit,
Tüchtigkeit, nachbarliche Hilfbereitschaft um sich, die überall ein in einfachen
Verhältnissen lebendes Bauern- und Kleinbürgertum charakterisiert, auch in der
heidnischen Periode der europäischen Kulturvölker; lebte er in einer Großstadt,
in einem Fabrik- oder Grubenbezirk, in einer mit polnischen Wanderarbeitern
gesegneten Rübengegend, ans einem großen ostelbischen Rittcrgute, so würde er
das zu sehen bekommen, was er heidnisch nennt. Auch ist zu bezweifeln, ob er
mit der Ansicht Recht hat, der tiefste Sinn des Christentums sei, das Kraftvolle
in der Natur des Meuschen, das seinen Adel ausmache, zu entwickeln, und
zwar in allen Klassen der Gesellschaft, nicht bloß in einer Aristokratie, und
dieses Ziel habe es erreicht: "es giebt mehr Heroismus jetzt in den kleinen
Lebenskreisen, als jemals in dem sogenannten heroischen Zeitalter." Man
muß nur bedenken, daß erst jetzt, nach Beseitigung der gesetzlichen Sklaverei
in jeder Form, alle Kleinen gezwungen sind, auf eignen Füßen zu stehn und
den Kampf ums Dasein selbständig durchzufechten, und daß sie erst jetzt auf
den Schauplatz der Weltgeschichte getreten sind, den früher die Großen allein
behaupteten, wobei allerdings dem Christentum die Ehre gebührt, zu dieser
Befreiung beigetragen zu haben-.

Jedenfalls wird uns aber durch diese Erwägungen die Frage nach dem
tiefsten Sinn des Christentums aufgenötigt, vor allem die Frage,, ob,es für alle
Menschen, und ob es für alle in gleicher Weise sei. Ehe wir uns an die Be-


eine bedingte Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es ist einmal That
sache, daß bisher immer hundert Personen hämmern, graben und Schmutzarbeit
verrichten mußten, damit zehn Personen denken und dichten, die Höhen des
geistigen Lebens erklimmen und der Schönheit des Daseins froh werden konnten.
Wie allen Handarbeitern nicht allein ein ausreichendes Maß von leiblichen
Gütern, sondern auch die Teilnahme an den geistigen Gütern gesichert werden
könne, das hat bis heute noch niemand herausgefunden. Die volle Entfaltung
der Bevorzugten richt heute gerade noch so wie im Altertum auf der geistigen
Verkümmerung der Massen, und selbst eine allgemeine Bekehrung zu christ¬
licher Gesinnung könnte daran nichts ändern. Solche Bekehrung wäre aller¬
dings, wie oben gesagt wurde, erforderlich, um den Zustand der Gleichheit zu
erhalten, wenn er durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Um¬
wälzungen herbeigeführt wäre. Hilty selbst sagt einmal, es sei traurig, daß
jedes Kind, das geboren wird, die höhere Bestimmung deutlich in sich trage,
deren Erreichbarkeit sich bei den meisten mit vorrückenden Alter immer mehr
verliere, aber er scheint nicht zu bemerken, daß es vorzugsweise soziale Ver¬
hältnisse sind, die den Zugang zum höhern Dasein versperren; denn in einem
ganz armseligen, schmutzigen, in der Sorge und Plage um die Befriedigung
der dringendsten leiblichen Bedürfnisse aufgehenden Leben kann gar nichts
Edleres, auch nicht die Religion gedeihn; wenn Hilty das echte Christentum
nur bei kleinen Leuten findet, so hat er eine andre Klasse im Auge, und es
ist noch die Frage, ob das, was er bei ihnen gefunden hat, Christentum ist.
Er lebt eben in der Schweiz und sieht die Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit,
Tüchtigkeit, nachbarliche Hilfbereitschaft um sich, die überall ein in einfachen
Verhältnissen lebendes Bauern- und Kleinbürgertum charakterisiert, auch in der
heidnischen Periode der europäischen Kulturvölker; lebte er in einer Großstadt,
in einem Fabrik- oder Grubenbezirk, in einer mit polnischen Wanderarbeitern
gesegneten Rübengegend, ans einem großen ostelbischen Rittcrgute, so würde er
das zu sehen bekommen, was er heidnisch nennt. Auch ist zu bezweifeln, ob er
mit der Ansicht Recht hat, der tiefste Sinn des Christentums sei, das Kraftvolle
in der Natur des Meuschen, das seinen Adel ausmache, zu entwickeln, und
zwar in allen Klassen der Gesellschaft, nicht bloß in einer Aristokratie, und
dieses Ziel habe es erreicht: „es giebt mehr Heroismus jetzt in den kleinen
Lebenskreisen, als jemals in dem sogenannten heroischen Zeitalter." Man
muß nur bedenken, daß erst jetzt, nach Beseitigung der gesetzlichen Sklaverei
in jeder Form, alle Kleinen gezwungen sind, auf eignen Füßen zu stehn und
den Kampf ums Dasein selbständig durchzufechten, und daß sie erst jetzt auf
den Schauplatz der Weltgeschichte getreten sind, den früher die Großen allein
behaupteten, wobei allerdings dem Christentum die Ehre gebührt, zu dieser
Befreiung beigetragen zu haben-.

Jedenfalls wird uns aber durch diese Erwägungen die Frage nach dem
tiefsten Sinn des Christentums aufgenötigt, vor allem die Frage,, ob,es für alle
Menschen, und ob es für alle in gleicher Weise sei. Ehe wir uns an die Be-


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[0138] eine bedingte Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es ist einmal That sache, daß bisher immer hundert Personen hämmern, graben und Schmutzarbeit verrichten mußten, damit zehn Personen denken und dichten, die Höhen des geistigen Lebens erklimmen und der Schönheit des Daseins froh werden konnten. Wie allen Handarbeitern nicht allein ein ausreichendes Maß von leiblichen Gütern, sondern auch die Teilnahme an den geistigen Gütern gesichert werden könne, das hat bis heute noch niemand herausgefunden. Die volle Entfaltung der Bevorzugten richt heute gerade noch so wie im Altertum auf der geistigen Verkümmerung der Massen, und selbst eine allgemeine Bekehrung zu christ¬ licher Gesinnung könnte daran nichts ändern. Solche Bekehrung wäre aller¬ dings, wie oben gesagt wurde, erforderlich, um den Zustand der Gleichheit zu erhalten, wenn er durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Um¬ wälzungen herbeigeführt wäre. Hilty selbst sagt einmal, es sei traurig, daß jedes Kind, das geboren wird, die höhere Bestimmung deutlich in sich trage, deren Erreichbarkeit sich bei den meisten mit vorrückenden Alter immer mehr verliere, aber er scheint nicht zu bemerken, daß es vorzugsweise soziale Ver¬ hältnisse sind, die den Zugang zum höhern Dasein versperren; denn in einem ganz armseligen, schmutzigen, in der Sorge und Plage um die Befriedigung der dringendsten leiblichen Bedürfnisse aufgehenden Leben kann gar nichts Edleres, auch nicht die Religion gedeihn; wenn Hilty das echte Christentum nur bei kleinen Leuten findet, so hat er eine andre Klasse im Auge, und es ist noch die Frage, ob das, was er bei ihnen gefunden hat, Christentum ist. Er lebt eben in der Schweiz und sieht die Ehrbarkeit, Rechtschaffenheit, Tüchtigkeit, nachbarliche Hilfbereitschaft um sich, die überall ein in einfachen Verhältnissen lebendes Bauern- und Kleinbürgertum charakterisiert, auch in der heidnischen Periode der europäischen Kulturvölker; lebte er in einer Großstadt, in einem Fabrik- oder Grubenbezirk, in einer mit polnischen Wanderarbeitern gesegneten Rübengegend, ans einem großen ostelbischen Rittcrgute, so würde er das zu sehen bekommen, was er heidnisch nennt. Auch ist zu bezweifeln, ob er mit der Ansicht Recht hat, der tiefste Sinn des Christentums sei, das Kraftvolle in der Natur des Meuschen, das seinen Adel ausmache, zu entwickeln, und zwar in allen Klassen der Gesellschaft, nicht bloß in einer Aristokratie, und dieses Ziel habe es erreicht: „es giebt mehr Heroismus jetzt in den kleinen Lebenskreisen, als jemals in dem sogenannten heroischen Zeitalter." Man muß nur bedenken, daß erst jetzt, nach Beseitigung der gesetzlichen Sklaverei in jeder Form, alle Kleinen gezwungen sind, auf eignen Füßen zu stehn und den Kampf ums Dasein selbständig durchzufechten, und daß sie erst jetzt auf den Schauplatz der Weltgeschichte getreten sind, den früher die Großen allein behaupteten, wobei allerdings dem Christentum die Ehre gebührt, zu dieser Befreiung beigetragen zu haben-. Jedenfalls wird uns aber durch diese Erwägungen die Frage nach dem tiefsten Sinn des Christentums aufgenötigt, vor allem die Frage,, ob,es für alle Menschen, und ob es für alle in gleicher Weise sei. Ehe wir uns an die Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/138>, abgerufen am 24.08.2024.