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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Wicklung auf einen Augenblick herbeigeführte Eiukommengleichheit sofort wieder
verschwinden sollte. Meiner Überzeugung nach kann ein solcher Jdealznftand,
der sich vielleicht nicht einmal sehr ideal ausnehmen würde, weder von der
eiuen noch von der andern Seite her verwirklicht werden.

Die Sorge ist übrigens nicht bloß ein vor der Himmelspforte lauernder
Höllenhund, sondern auch als Hündlein edelster Rasse ein freundlicher und
hilfreicher Begleiter, Ohne Liebe kann man nicht glücklich sein, und ohne
Sorge giebt es keine Liebe, Hilty hat daher ganz Recht, wenn er solchen, die
etwa noch keine Sorgen haben, den Rat giebt, sich welche anzuschaffen. Edle
Sorgen und Gaben aus Liebe bezeichnet er als eins der wirksamsten Mittel
gegen die unheilige, das geistige Auge blendende und das Herz fressende Sorge,
Er verurteilt daher anch, ganz wie ich, den modernen Eifer gegen das Betteln,
der dem Geist und dem Buchstaben der Bibel durchaus widerspreche; die sitt¬
liche Entrüstung gegen den Bettel entspringe ganz andern Gründen als den
vorgeschützten. Die Sozialpolitiker, Armenpfleger und Obrigkeiten haben ja
mit allem Recht, was sie wider den Bettel sagen, tausendmal Recht, aber mit
ihrer vortrefflichen und ganz unanfechtbaren Praxis, und obwohl sie in ganz
Nordeuropa von der öffentlichen Meinung unterstützt werden, haben sie auch
in den reichsten Ländern noch nirgends die unverschuldete Not ausgerottet.
Als am Jubiläum der Königin Viktoria die verkrüppelten Kinder gespeist
wurden, sind manche von den Damen, die den Saal betraten, bei dem schreck¬
lichen Anblick ohnmächtig geworden. So lange also die wohl organisierte
Armenpflege diesen anch nach Hilty wünschenswerten Erfolg, der das obrig¬
keitliche Verbot des Bettels rechtfertigen würde, nicht erzielt hat, wird es zart¬
fühlenden Leuten immer so gehn wie dem alten Hollen Dieser, ein echtes
Künstlerblut, hatte ein weiches, weites Herz und eine offne Hand, die denn
auch gehörig ausgenutzt wurde. Eines Tags fand er einen Schnorrer, den
er ein paar Stunden vorher dnrch ein paar Thaler vom angeblich beabsichtigten
Selbstmorde gerettet hatte, bei einem üppigen Abendmahl und nahm sich vor,
fortan jeden, der ihn anbetete, hinauszuwerfen- Das that er gleich am andern
Tage, obwohl der Abgewiesene schwur, er gehe in die Oder; ein paar Stunden
darauf zog man ihn wirklich aus der Oder, und Holtei sagte sich nun: Von
jetzt ub weise ich keinen mehr ab, gleichviel, was es für ein Lump ist. Hilty
meint, die Würdigteitsfrage dürfe man gar nicht aufwerfen, und rät, das Geld
nicht im Portemonnaie zu tragen, das herauszuziehn und zu öffnen zu viel
Mühe mache, sondern in der Westentasche. Die Würdigkeitsfrage kann man
wohl nicht ganz umgehn, da der spendende bei bescheidnen Mitteln die
würdiger scheinenden vorziehn wird; aber absolut allerdings: würdig oder un¬
würdig? darf sie nicht aufgeworfen werden, weil da der Geber selbst sehr
schlecht wegkommen würde. Hilty zitiert einen Rat, den Carlyle den Un¬
zufriednen giebt, damit sie zufrieden werden: sie sollten nur dran denken, daß
jedermann (jeder Mann, nicht jede Frau!) eigentlich deu Galgen verdiene, dann
würden sie ihr unverdientes Glück schützen lernen. Hilty empfiehlt, einen ge-


Wicklung auf einen Augenblick herbeigeführte Eiukommengleichheit sofort wieder
verschwinden sollte. Meiner Überzeugung nach kann ein solcher Jdealznftand,
der sich vielleicht nicht einmal sehr ideal ausnehmen würde, weder von der
eiuen noch von der andern Seite her verwirklicht werden.

Die Sorge ist übrigens nicht bloß ein vor der Himmelspforte lauernder
Höllenhund, sondern auch als Hündlein edelster Rasse ein freundlicher und
hilfreicher Begleiter, Ohne Liebe kann man nicht glücklich sein, und ohne
Sorge giebt es keine Liebe, Hilty hat daher ganz Recht, wenn er solchen, die
etwa noch keine Sorgen haben, den Rat giebt, sich welche anzuschaffen. Edle
Sorgen und Gaben aus Liebe bezeichnet er als eins der wirksamsten Mittel
gegen die unheilige, das geistige Auge blendende und das Herz fressende Sorge,
Er verurteilt daher anch, ganz wie ich, den modernen Eifer gegen das Betteln,
der dem Geist und dem Buchstaben der Bibel durchaus widerspreche; die sitt¬
liche Entrüstung gegen den Bettel entspringe ganz andern Gründen als den
vorgeschützten. Die Sozialpolitiker, Armenpfleger und Obrigkeiten haben ja
mit allem Recht, was sie wider den Bettel sagen, tausendmal Recht, aber mit
ihrer vortrefflichen und ganz unanfechtbaren Praxis, und obwohl sie in ganz
Nordeuropa von der öffentlichen Meinung unterstützt werden, haben sie auch
in den reichsten Ländern noch nirgends die unverschuldete Not ausgerottet.
Als am Jubiläum der Königin Viktoria die verkrüppelten Kinder gespeist
wurden, sind manche von den Damen, die den Saal betraten, bei dem schreck¬
lichen Anblick ohnmächtig geworden. So lange also die wohl organisierte
Armenpflege diesen anch nach Hilty wünschenswerten Erfolg, der das obrig¬
keitliche Verbot des Bettels rechtfertigen würde, nicht erzielt hat, wird es zart¬
fühlenden Leuten immer so gehn wie dem alten Hollen Dieser, ein echtes
Künstlerblut, hatte ein weiches, weites Herz und eine offne Hand, die denn
auch gehörig ausgenutzt wurde. Eines Tags fand er einen Schnorrer, den
er ein paar Stunden vorher dnrch ein paar Thaler vom angeblich beabsichtigten
Selbstmorde gerettet hatte, bei einem üppigen Abendmahl und nahm sich vor,
fortan jeden, der ihn anbetete, hinauszuwerfen- Das that er gleich am andern
Tage, obwohl der Abgewiesene schwur, er gehe in die Oder; ein paar Stunden
darauf zog man ihn wirklich aus der Oder, und Holtei sagte sich nun: Von
jetzt ub weise ich keinen mehr ab, gleichviel, was es für ein Lump ist. Hilty
meint, die Würdigteitsfrage dürfe man gar nicht aufwerfen, und rät, das Geld
nicht im Portemonnaie zu tragen, das herauszuziehn und zu öffnen zu viel
Mühe mache, sondern in der Westentasche. Die Würdigkeitsfrage kann man
wohl nicht ganz umgehn, da der spendende bei bescheidnen Mitteln die
würdiger scheinenden vorziehn wird; aber absolut allerdings: würdig oder un¬
würdig? darf sie nicht aufgeworfen werden, weil da der Geber selbst sehr
schlecht wegkommen würde. Hilty zitiert einen Rat, den Carlyle den Un¬
zufriednen giebt, damit sie zufrieden werden: sie sollten nur dran denken, daß
jedermann (jeder Mann, nicht jede Frau!) eigentlich deu Galgen verdiene, dann
würden sie ihr unverdientes Glück schützen lernen. Hilty empfiehlt, einen ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/136>, abgerufen am 25.08.2024.