Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches der Fliegenden Blätter lernen, der dem Fleischer zeigt, wie er das widerstrebende Maßgebliches und Unmaßgebliches der Fliegenden Blätter lernen, der dem Fleischer zeigt, wie er das widerstrebende <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231268"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_268" prev="#ID_267" next="#ID_269"> der Fliegenden Blätter lernen, der dem Fleischer zeigt, wie er das widerstrebende<lb/> Schwein ins Haus bringen kann: er zieht nach der entgegengesetzten Richtung, und<lb/> flugs schlüpft es zur Thür hinein, — Mit einem Buch von Wert hat uns Theodor<lb/> Lipps beschenkt: Die ethischen Grundfragen, Zehn Vorträge, teilweise ge¬<lb/> halten im Volkshochschulverein zu München (Hamburg und Leipzig, Leopold Voß,<lb/> 1399). Diese Vorträge sind ganz populär gehalten und geben dennoch eine ge¬<lb/> schlossene Weltansicht, die man als einen gemilderten, geklärten und psychologisch<lb/> vertieften Kantianismus bezeichnen kann. Das Böse ist dem Verfasser die Negation,<lb/> die Schwäche; alle Triebe sind an sich gut; nur dadurch wird die Wirksamkeit<lb/> eines von ihnen böse, daß das Gegen- oder Übergewicht andrer Triebe fehlt, die<lb/> der Idee der Menschennatur nach stärker sein sollen. Vollkommen sittlich wäre<lb/> ein Mensch — kein einzelner kann es sein —, wenn in ihm alle menschlichen Fähig¬<lb/> keiten zur Verwirklichung aller dem Menschen gesetzten Zwecke in der rechten<lb/> Ordnung thätig wären. „Tugend ist Tüchtigkeit, innere Lebenskraft. Der Ver¬<lb/> brecher kann tugendhafter sein als Dutzende von den »Tugendhaften«." Besonders<lb/> schön und überzeugend weist Lipps nach, wie die Begriffe der Zurechnung und<lb/> Verantwortlichkeit nnr bei Annahme des Determinismus einen Sinn haben. —<lb/> Wenn wir nicht irren, ist neben den Jesuiten der Pater Lacordaire der erste ge¬<lb/> wesen, der die Art Kanzelvortrage in die Mode gebracht hat, die man in Frank¬<lb/> reich oontörenees nennt: Cyklen von populären Vorträgen über ein die Religion<lb/> berührendes philosophisches oder soziales Thema. In England soll diese Art von<lb/> Kanzelvorträgen die Regel sein, weil dort die Predigt nicht zum Gottesdienst ge¬<lb/> rechnet wird, der bloß aus liturgischen Gebeten und Gesängen und dem Vorlesen<lb/> von Bibelabschnitten besteht. So wenigstens sagt uns Charlotte Broicher, die<lb/> zu der deutsche» Ausgabe einer Anzahl solcher Vorträge des Kanzelredners Stopford<lb/> A. Brooke eine sehr gute Einleitung geschrieben hat. Die Sammlung ist Glaube<lb/> und Wissenschaft betitelt und bei Vaudenhoeck und Ruprecht in Göttingen er¬<lb/> schienen. Brooke (der übrigens in den sechziger Jahren englischer Gesandtschafts¬<lb/> prediger in Berlin gewesen ist) entwickelt mit hinreißender Begeisterung und wohl¬<lb/> thuender Wärme einen Gottesbegriff, der das Positive des Pantheismus und des<lb/> Theismus vereinigen und die Mängel beider einseitigen Vorstellungen ausschließen<lb/> soll. Mit besondern: Eifer wendet er sich gegen das Dogma der ewigen Hvllen-<lb/> strcife, das undenkbar sei, weil Gott mit der Weltschöpfung die Pflicht übernommen<lb/> habe, seine Geschöpfe zu beglücken, und weil das Böse mächtiger sein würde als<lb/> Gott, wenn es ewig fortbestünde.. Zudem übe dieses Dogma die schrecklichsten<lb/> Wirkungen, indem es mit Notwendigkeit den Fanatismus, die Religionskriege und<lb/> die blutigen Verfolgungen erzeuge, und es sei ganz besonders dieses Dogma, das,<lb/> wie der Orthodoxismus im allgemeinem, die UnWahrhaftigkeit ins Leben trage. Es<lb/> stehe fest, daß heute mit Ausnahme von einigen wenigen Fanatikern auch unter<lb/> den Orthodoxen niemand an die Hölle glaube; wie könnten — sagen wir mit<lb/> Brooke — Leute, die ernstlich an die Ewigkeit der Höllenstrafen glaubten, gemütlich<lb/> beim Glase Wein oder bei einer fröhlichen Mahlzeit sitzen! Das ist gar nicht denkbar.<lb/> Eines Sonntags — die Zeit ist nicht angegeben — erklärte Brooke in der ihm<lb/> gehörigen Bedfordkapelle: „Seitdem wir uns das letzte mal hier sahen, habe ich<lb/> einen Schritt gethan, der sowohl für mich vieles wesentlich verändern wird, als<lb/> mich für die, die bisher meine Zuhörer gewesen sind. Ich habe die englische Kirche<lb/> verlassen, und für mich und diese Kapelle beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt."<lb/> Den unmittelbaren Anlaß dazu gab seine Leugnung der Wunder, namentlich des<lb/> Wunders der übernatürlichen Geburt Christi. Er ist nicht etwa nnsgestoßen worden,<lb/> sondern er hat die Kirche verworfen. Ich vermochte, sagt er, „nicht länger einer</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
der Fliegenden Blätter lernen, der dem Fleischer zeigt, wie er das widerstrebende
Schwein ins Haus bringen kann: er zieht nach der entgegengesetzten Richtung, und
flugs schlüpft es zur Thür hinein, — Mit einem Buch von Wert hat uns Theodor
Lipps beschenkt: Die ethischen Grundfragen, Zehn Vorträge, teilweise ge¬
halten im Volkshochschulverein zu München (Hamburg und Leipzig, Leopold Voß,
1399). Diese Vorträge sind ganz populär gehalten und geben dennoch eine ge¬
schlossene Weltansicht, die man als einen gemilderten, geklärten und psychologisch
vertieften Kantianismus bezeichnen kann. Das Böse ist dem Verfasser die Negation,
die Schwäche; alle Triebe sind an sich gut; nur dadurch wird die Wirksamkeit
eines von ihnen böse, daß das Gegen- oder Übergewicht andrer Triebe fehlt, die
der Idee der Menschennatur nach stärker sein sollen. Vollkommen sittlich wäre
ein Mensch — kein einzelner kann es sein —, wenn in ihm alle menschlichen Fähig¬
keiten zur Verwirklichung aller dem Menschen gesetzten Zwecke in der rechten
Ordnung thätig wären. „Tugend ist Tüchtigkeit, innere Lebenskraft. Der Ver¬
brecher kann tugendhafter sein als Dutzende von den »Tugendhaften«." Besonders
schön und überzeugend weist Lipps nach, wie die Begriffe der Zurechnung und
Verantwortlichkeit nnr bei Annahme des Determinismus einen Sinn haben. —
Wenn wir nicht irren, ist neben den Jesuiten der Pater Lacordaire der erste ge¬
wesen, der die Art Kanzelvortrage in die Mode gebracht hat, die man in Frank¬
reich oontörenees nennt: Cyklen von populären Vorträgen über ein die Religion
berührendes philosophisches oder soziales Thema. In England soll diese Art von
Kanzelvorträgen die Regel sein, weil dort die Predigt nicht zum Gottesdienst ge¬
rechnet wird, der bloß aus liturgischen Gebeten und Gesängen und dem Vorlesen
von Bibelabschnitten besteht. So wenigstens sagt uns Charlotte Broicher, die
zu der deutsche» Ausgabe einer Anzahl solcher Vorträge des Kanzelredners Stopford
A. Brooke eine sehr gute Einleitung geschrieben hat. Die Sammlung ist Glaube
und Wissenschaft betitelt und bei Vaudenhoeck und Ruprecht in Göttingen er¬
schienen. Brooke (der übrigens in den sechziger Jahren englischer Gesandtschafts¬
prediger in Berlin gewesen ist) entwickelt mit hinreißender Begeisterung und wohl¬
thuender Wärme einen Gottesbegriff, der das Positive des Pantheismus und des
Theismus vereinigen und die Mängel beider einseitigen Vorstellungen ausschließen
soll. Mit besondern: Eifer wendet er sich gegen das Dogma der ewigen Hvllen-
strcife, das undenkbar sei, weil Gott mit der Weltschöpfung die Pflicht übernommen
habe, seine Geschöpfe zu beglücken, und weil das Böse mächtiger sein würde als
Gott, wenn es ewig fortbestünde.. Zudem übe dieses Dogma die schrecklichsten
Wirkungen, indem es mit Notwendigkeit den Fanatismus, die Religionskriege und
die blutigen Verfolgungen erzeuge, und es sei ganz besonders dieses Dogma, das,
wie der Orthodoxismus im allgemeinem, die UnWahrhaftigkeit ins Leben trage. Es
stehe fest, daß heute mit Ausnahme von einigen wenigen Fanatikern auch unter
den Orthodoxen niemand an die Hölle glaube; wie könnten — sagen wir mit
Brooke — Leute, die ernstlich an die Ewigkeit der Höllenstrafen glaubten, gemütlich
beim Glase Wein oder bei einer fröhlichen Mahlzeit sitzen! Das ist gar nicht denkbar.
Eines Sonntags — die Zeit ist nicht angegeben — erklärte Brooke in der ihm
gehörigen Bedfordkapelle: „Seitdem wir uns das letzte mal hier sahen, habe ich
einen Schritt gethan, der sowohl für mich vieles wesentlich verändern wird, als
mich für die, die bisher meine Zuhörer gewesen sind. Ich habe die englische Kirche
verlassen, und für mich und diese Kapelle beginnt damit ein neuer Lebensabschnitt."
Den unmittelbaren Anlaß dazu gab seine Leugnung der Wunder, namentlich des
Wunders der übernatürlichen Geburt Christi. Er ist nicht etwa nnsgestoßen worden,
sondern er hat die Kirche verworfen. Ich vermochte, sagt er, „nicht länger einer
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