Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Thüringer Märchen

Es ist eine alte Geschichte, daß man noch kein Urteil über einen Menschen
hat, wenn man nur einen Tag als Gast unter seinem Dache geweilt hat. So
war es mit uns, denn am andern Morgen früh mußten wir die Rückreise an¬
treten. Immerhin darf man auch in einem solchen Fall den gewonnenen Ein¬
druck für maßgebend halten, wenn der Wirt sich so gänzlich und ungekünstelt
giebt, wie Tolstoj. Und -- das gebe ich aus ehrlichster Überzeugung zu --
ich habe mich von der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte des rus¬
sischen Dichters im Verlaufe dieser kurzen Zeit mehrfach überzeugen können.

Dabei bin ich keineswegs ein eingefleischter Tolstojschwärmer. Fast
schüchtern erkläre ich, daß ich seine berühmte "Kreutzersonate" für grüßlich
albern halte. Aber ein Mann der That, ein Märtyrer für seine Ideen ist er.
Er sieht sich allein und vereinsamt mitten im großen Rußland. Er wird
vielfach gemieden, als hätte auch er mit der Pest zu thun gehabt. Selbst
solche Nachbarn, die seine guten weiten schätzen, wagen ihn nicht zu besuchen,
aus Furcht, sich zu kompromittieren. Man ist soweit gegangen, einen Gouver¬
neur von Tula, einen ausgezeichneten Menschen, mit dem sich Tolstoj be¬
freundet hatte, aus demselben Grunde bald zu versetzen. Seine Korrespondenz
wird sorgsam von der Polizei durchschnüffelt. Ist seine Frau auf Reisen, so
interessiert sich die Spürnase der Polizei lebhaft für deren Briefe an den
Gatten. Noch kurz vor meinem Besuch waren kleine, gänzlich harmlose, zur
Unterhaltung und Belehrung des Volkes von ihm geschriebne Erzählungen von
der Zensur verboten worden.

Tolstoj erträgt diese Verfolgungen mit der Geduld eines Denkers und
Philosophen, dessen Geistesgröße über solche Kleinigkeiten erhaben ist. Und
nichts kann ihn irre machen in seiner großen warmen Menschenliebe, die
^- das soll nicht verkannt werden -- der Grundton seiner Lehren und Dich¬
tungen ist.




Thüringer Märchen
I. y. köffler von
Z. Der alte Habersang hat nie gelogen

n einer sanften Berglehne hatte der Wand einer Flurznnge ausweichen
müssen. Aber zu beiden Seiten des da heraufsteigenden Flurteils
hatte sich der Wald noch behauptet, sodaß sich das Ackervieh an den
Rändern der Zunge beim Umwenden dann und wann ein Maul voll
grünen Bnumlcmbes herablangte. Drunten im Grunde lag das Dorf.
Und droben am Waldsaum stand ein altes kleines Haus; das nahm
sich aus, als hätte es Wache zu halten an der Flurzunge und die Frucht gegen
das Wild zu schützen. Aber das that das Haus nicht; es kümmerte sich weder um
Hirsch noch Hase. Und das war den Tieren gar wohl bekannt, sodaß sie nah an
dem Hause vorbeispazierten, als wohne ihresgleichen darin. In einer Art war


Thüringer Märchen

Es ist eine alte Geschichte, daß man noch kein Urteil über einen Menschen
hat, wenn man nur einen Tag als Gast unter seinem Dache geweilt hat. So
war es mit uns, denn am andern Morgen früh mußten wir die Rückreise an¬
treten. Immerhin darf man auch in einem solchen Fall den gewonnenen Ein¬
druck für maßgebend halten, wenn der Wirt sich so gänzlich und ungekünstelt
giebt, wie Tolstoj. Und — das gebe ich aus ehrlichster Überzeugung zu —
ich habe mich von der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte des rus¬
sischen Dichters im Verlaufe dieser kurzen Zeit mehrfach überzeugen können.

Dabei bin ich keineswegs ein eingefleischter Tolstojschwärmer. Fast
schüchtern erkläre ich, daß ich seine berühmte „Kreutzersonate" für grüßlich
albern halte. Aber ein Mann der That, ein Märtyrer für seine Ideen ist er.
Er sieht sich allein und vereinsamt mitten im großen Rußland. Er wird
vielfach gemieden, als hätte auch er mit der Pest zu thun gehabt. Selbst
solche Nachbarn, die seine guten weiten schätzen, wagen ihn nicht zu besuchen,
aus Furcht, sich zu kompromittieren. Man ist soweit gegangen, einen Gouver¬
neur von Tula, einen ausgezeichneten Menschen, mit dem sich Tolstoj be¬
freundet hatte, aus demselben Grunde bald zu versetzen. Seine Korrespondenz
wird sorgsam von der Polizei durchschnüffelt. Ist seine Frau auf Reisen, so
interessiert sich die Spürnase der Polizei lebhaft für deren Briefe an den
Gatten. Noch kurz vor meinem Besuch waren kleine, gänzlich harmlose, zur
Unterhaltung und Belehrung des Volkes von ihm geschriebne Erzählungen von
der Zensur verboten worden.

Tolstoj erträgt diese Verfolgungen mit der Geduld eines Denkers und
Philosophen, dessen Geistesgröße über solche Kleinigkeiten erhaben ist. Und
nichts kann ihn irre machen in seiner großen warmen Menschenliebe, die
^- das soll nicht verkannt werden — der Grundton seiner Lehren und Dich¬
tungen ist.




Thüringer Märchen
I. y. köffler von
Z. Der alte Habersang hat nie gelogen

n einer sanften Berglehne hatte der Wand einer Flurznnge ausweichen
müssen. Aber zu beiden Seiten des da heraufsteigenden Flurteils
hatte sich der Wald noch behauptet, sodaß sich das Ackervieh an den
Rändern der Zunge beim Umwenden dann und wann ein Maul voll
grünen Bnumlcmbes herablangte. Drunten im Grunde lag das Dorf.
Und droben am Waldsaum stand ein altes kleines Haus; das nahm
sich aus, als hätte es Wache zu halten an der Flurzunge und die Frucht gegen
das Wild zu schützen. Aber das that das Haus nicht; es kümmerte sich weder um
Hirsch noch Hase. Und das war den Tieren gar wohl bekannt, sodaß sie nah an
dem Hause vorbeispazierten, als wohne ihresgleichen darin. In einer Art war


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0621" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231791"/>
          <fw type="header" place="top"> Thüringer Märchen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2030"> Es ist eine alte Geschichte, daß man noch kein Urteil über einen Menschen<lb/>
hat, wenn man nur einen Tag als Gast unter seinem Dache geweilt hat. So<lb/>
war es mit uns, denn am andern Morgen früh mußten wir die Rückreise an¬<lb/>
treten. Immerhin darf man auch in einem solchen Fall den gewonnenen Ein¬<lb/>
druck für maßgebend halten, wenn der Wirt sich so gänzlich und ungekünstelt<lb/>
giebt, wie Tolstoj. Und &#x2014; das gebe ich aus ehrlichster Überzeugung zu &#x2014;<lb/>
ich habe mich von der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte des rus¬<lb/>
sischen Dichters im Verlaufe dieser kurzen Zeit mehrfach überzeugen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2031"> Dabei bin ich keineswegs ein eingefleischter Tolstojschwärmer. Fast<lb/>
schüchtern erkläre ich, daß ich seine berühmte &#x201E;Kreutzersonate" für grüßlich<lb/>
albern halte. Aber ein Mann der That, ein Märtyrer für seine Ideen ist er.<lb/>
Er sieht sich allein und vereinsamt mitten im großen Rußland. Er wird<lb/>
vielfach gemieden, als hätte auch er mit der Pest zu thun gehabt. Selbst<lb/>
solche Nachbarn, die seine guten weiten schätzen, wagen ihn nicht zu besuchen,<lb/>
aus Furcht, sich zu kompromittieren. Man ist soweit gegangen, einen Gouver¬<lb/>
neur von Tula, einen ausgezeichneten Menschen, mit dem sich Tolstoj be¬<lb/>
freundet hatte, aus demselben Grunde bald zu versetzen. Seine Korrespondenz<lb/>
wird sorgsam von der Polizei durchschnüffelt. Ist seine Frau auf Reisen, so<lb/>
interessiert sich die Spürnase der Polizei lebhaft für deren Briefe an den<lb/>
Gatten. Noch kurz vor meinem Besuch waren kleine, gänzlich harmlose, zur<lb/>
Unterhaltung und Belehrung des Volkes von ihm geschriebne Erzählungen von<lb/>
der Zensur verboten worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2032"> Tolstoj erträgt diese Verfolgungen mit der Geduld eines Denkers und<lb/>
Philosophen, dessen Geistesgröße über solche Kleinigkeiten erhaben ist. Und<lb/>
nichts kann ihn irre machen in seiner großen warmen Menschenliebe, die<lb/>
^- das soll nicht verkannt werden &#x2014; der Grundton seiner Lehren und Dich¬<lb/>
tungen ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Thüringer Märchen<lb/><note type="byline"> I. y. köffler</note> von<lb/>
Z. Der alte Habersang hat nie gelogen</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2033" next="#ID_2034"> n einer sanften Berglehne hatte der Wand einer Flurznnge ausweichen<lb/>
müssen. Aber zu beiden Seiten des da heraufsteigenden Flurteils<lb/>
hatte sich der Wald noch behauptet, sodaß sich das Ackervieh an den<lb/>
Rändern der Zunge beim Umwenden dann und wann ein Maul voll<lb/>
grünen Bnumlcmbes herablangte. Drunten im Grunde lag das Dorf.<lb/>
Und droben am Waldsaum stand ein altes kleines Haus; das nahm<lb/>
sich aus, als hätte es Wache zu halten an der Flurzunge und die Frucht gegen<lb/>
das Wild zu schützen. Aber das that das Haus nicht; es kümmerte sich weder um<lb/>
Hirsch noch Hase. Und das war den Tieren gar wohl bekannt, sodaß sie nah an<lb/>
dem Hause vorbeispazierten, als wohne ihresgleichen darin.  In einer Art war</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0621] Thüringer Märchen Es ist eine alte Geschichte, daß man noch kein Urteil über einen Menschen hat, wenn man nur einen Tag als Gast unter seinem Dache geweilt hat. So war es mit uns, denn am andern Morgen früh mußten wir die Rückreise an¬ treten. Immerhin darf man auch in einem solchen Fall den gewonnenen Ein¬ druck für maßgebend halten, wenn der Wirt sich so gänzlich und ungekünstelt giebt, wie Tolstoj. Und — das gebe ich aus ehrlichster Überzeugung zu — ich habe mich von der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte des rus¬ sischen Dichters im Verlaufe dieser kurzen Zeit mehrfach überzeugen können. Dabei bin ich keineswegs ein eingefleischter Tolstojschwärmer. Fast schüchtern erkläre ich, daß ich seine berühmte „Kreutzersonate" für grüßlich albern halte. Aber ein Mann der That, ein Märtyrer für seine Ideen ist er. Er sieht sich allein und vereinsamt mitten im großen Rußland. Er wird vielfach gemieden, als hätte auch er mit der Pest zu thun gehabt. Selbst solche Nachbarn, die seine guten weiten schätzen, wagen ihn nicht zu besuchen, aus Furcht, sich zu kompromittieren. Man ist soweit gegangen, einen Gouver¬ neur von Tula, einen ausgezeichneten Menschen, mit dem sich Tolstoj be¬ freundet hatte, aus demselben Grunde bald zu versetzen. Seine Korrespondenz wird sorgsam von der Polizei durchschnüffelt. Ist seine Frau auf Reisen, so interessiert sich die Spürnase der Polizei lebhaft für deren Briefe an den Gatten. Noch kurz vor meinem Besuch waren kleine, gänzlich harmlose, zur Unterhaltung und Belehrung des Volkes von ihm geschriebne Erzählungen von der Zensur verboten worden. Tolstoj erträgt diese Verfolgungen mit der Geduld eines Denkers und Philosophen, dessen Geistesgröße über solche Kleinigkeiten erhaben ist. Und nichts kann ihn irre machen in seiner großen warmen Menschenliebe, die ^- das soll nicht verkannt werden — der Grundton seiner Lehren und Dich¬ tungen ist. Thüringer Märchen I. y. köffler von Z. Der alte Habersang hat nie gelogen n einer sanften Berglehne hatte der Wand einer Flurznnge ausweichen müssen. Aber zu beiden Seiten des da heraufsteigenden Flurteils hatte sich der Wald noch behauptet, sodaß sich das Ackervieh an den Rändern der Zunge beim Umwenden dann und wann ein Maul voll grünen Bnumlcmbes herablangte. Drunten im Grunde lag das Dorf. Und droben am Waldsaum stand ein altes kleines Haus; das nahm sich aus, als hätte es Wache zu halten an der Flurzunge und die Frucht gegen das Wild zu schützen. Aber das that das Haus nicht; es kümmerte sich weder um Hirsch noch Hase. Und das war den Tieren gar wohl bekannt, sodaß sie nah an dem Hause vorbeispazierten, als wohne ihresgleichen darin. In einer Art war

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/621
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/621>, abgerufen am 15.01.2025.