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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

freiheitlich organisierte Staaten die politische Lebensform, die allen Bedürfnissen
der Menschen, zusammengenommen, am besten entspricht."

In dieser Darstellung der politischen Zustände seines Vaterlands, die
einer der edelsten, klarsten und tiefsten Geister unsrer Zeit entwirft, ein Geist,
der frei von Chauvinismus und vom politischen Treiben abgewandt in großen
christlichen Gedanken lebt, haben wir die Antwort auf die Frage, wie es komme,
daß die Deutschschweizer ihr Deutschtum so wenig betonen. Die Frage ist ja
an sich so ungereimt wie möglich. Fünfzig und mehr Jahre lang sind in
Deutschland selbst die Männer, die ihr Deutschtum betonten, als Hochverräter
eingesperrt worden, wie sollten die Schweizer darauf verfallen, zu thun, was
in Deutschland erst seit dreißig Jahren erlaubt und -- Mode geworden ist?
Und als es erlaubt wurde, da wurde der deutsche Gedanke nach dem klein¬
deutschen Programm verwirklicht. Der Nassenstaat wurde ausdrücklich abge¬
lehnt, und wenn fünftausend Quadratmeilen alten Neichsbvdens mit zehn
Millionen Deutschen, die bis 1803 zum Deutschen Reiche und bis 1866 zum
Deutschen Bunde gehört hatten, vom neuen deutschen Staate ausgeschlossen
wurden, wie sollte es den Schweizern, die seit 1490 thatsächlich und seit 1648
<Zs Mrs vom Reiche unabhängig sind, denn einfallen, zum neuen Reiche hin¬
zuneigen?

Wenn es diesem Volke, dessen Einrichtungen, Grundsätze und Sitten sich
mit deuen Preußens so schlecht vertragen, in den Sinn gekommen wäre, die
Aufnahme ins Deutsche Reich zu verlangen, würde ihnen da nicht Bismarck
dasselbe gesagt haben, was er den Deutsch-Österreichern einmal gesagt hat, daß
er ihnen nötigenfalls den Krieg erklären werde, um sie sich vom Leibe zu halten?
Also die Frage ist ungereimt. Wenn sie aber aufgeworfen wird, so lautet die
Antwort: Die Schweizer sind mit ihren politischen Zuständen zufrieden, während
die Bewohner ihrer großen Nachbarstaaten mit den ihren unzufrieden sind, und
sie wahren ihre Selbständigkeit, die unter diesen Umständen ihr Glück bedeutet,
am ängstlichsten dem Nachbar gegenüber, der sich durch Nassenverwandtschaft,
Stärke und bequeme geographische Lage am ehesten versucht fühlen könnte, den
kleinen Bruder zu verspeisen. Ob die auffällige Hervorkehrung französischer
Sympathien diplomatisch klug und das richtige Sicherungsmittel ist, und wie
weit die besondern Beschwerden, die der Schweizer gegen das Deutsche Reich
oder vielmehr gegen Preußen zu haben glaubt, begründet sind, mögen andre
untersuchen, dem Rezensenten kam es hier nur auf das Grundsätzliche an, und
das ist doch wohl klar genug. Daß der Deutschschweizer deutschen Stammes
ist, und daß er die körperliche, geistige und sittliche Tüchtigkeit, deren er sich
erfreut, zu einem guten Teil seiner Rasse verdankt, das weiß er natürlich,
aber wozu etwas breit treten und besingen, was kein Mensch bestreitet?

Im vierten Abschnitt behandelt der Oberst Ed. Secretan die schweizerische
Armee, und im letzten der Professor Nöthlisberger die internationale Bedeutung


Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

freiheitlich organisierte Staaten die politische Lebensform, die allen Bedürfnissen
der Menschen, zusammengenommen, am besten entspricht."

In dieser Darstellung der politischen Zustände seines Vaterlands, die
einer der edelsten, klarsten und tiefsten Geister unsrer Zeit entwirft, ein Geist,
der frei von Chauvinismus und vom politischen Treiben abgewandt in großen
christlichen Gedanken lebt, haben wir die Antwort auf die Frage, wie es komme,
daß die Deutschschweizer ihr Deutschtum so wenig betonen. Die Frage ist ja
an sich so ungereimt wie möglich. Fünfzig und mehr Jahre lang sind in
Deutschland selbst die Männer, die ihr Deutschtum betonten, als Hochverräter
eingesperrt worden, wie sollten die Schweizer darauf verfallen, zu thun, was
in Deutschland erst seit dreißig Jahren erlaubt und — Mode geworden ist?
Und als es erlaubt wurde, da wurde der deutsche Gedanke nach dem klein¬
deutschen Programm verwirklicht. Der Nassenstaat wurde ausdrücklich abge¬
lehnt, und wenn fünftausend Quadratmeilen alten Neichsbvdens mit zehn
Millionen Deutschen, die bis 1803 zum Deutschen Reiche und bis 1866 zum
Deutschen Bunde gehört hatten, vom neuen deutschen Staate ausgeschlossen
wurden, wie sollte es den Schweizern, die seit 1490 thatsächlich und seit 1648
<Zs Mrs vom Reiche unabhängig sind, denn einfallen, zum neuen Reiche hin¬
zuneigen?

Wenn es diesem Volke, dessen Einrichtungen, Grundsätze und Sitten sich
mit deuen Preußens so schlecht vertragen, in den Sinn gekommen wäre, die
Aufnahme ins Deutsche Reich zu verlangen, würde ihnen da nicht Bismarck
dasselbe gesagt haben, was er den Deutsch-Österreichern einmal gesagt hat, daß
er ihnen nötigenfalls den Krieg erklären werde, um sie sich vom Leibe zu halten?
Also die Frage ist ungereimt. Wenn sie aber aufgeworfen wird, so lautet die
Antwort: Die Schweizer sind mit ihren politischen Zuständen zufrieden, während
die Bewohner ihrer großen Nachbarstaaten mit den ihren unzufrieden sind, und
sie wahren ihre Selbständigkeit, die unter diesen Umständen ihr Glück bedeutet,
am ängstlichsten dem Nachbar gegenüber, der sich durch Nassenverwandtschaft,
Stärke und bequeme geographische Lage am ehesten versucht fühlen könnte, den
kleinen Bruder zu verspeisen. Ob die auffällige Hervorkehrung französischer
Sympathien diplomatisch klug und das richtige Sicherungsmittel ist, und wie
weit die besondern Beschwerden, die der Schweizer gegen das Deutsche Reich
oder vielmehr gegen Preußen zu haben glaubt, begründet sind, mögen andre
untersuchen, dem Rezensenten kam es hier nur auf das Grundsätzliche an, und
das ist doch wohl klar genug. Daß der Deutschschweizer deutschen Stammes
ist, und daß er die körperliche, geistige und sittliche Tüchtigkeit, deren er sich
erfreut, zu einem guten Teil seiner Rasse verdankt, das weiß er natürlich,
aber wozu etwas breit treten und besingen, was kein Mensch bestreitet?

Im vierten Abschnitt behandelt der Oberst Ed. Secretan die schweizerische
Armee, und im letzten der Professor Nöthlisberger die internationale Bedeutung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/599>, abgerufen am 15.01.2025.