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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Latenz gebundne Leben ster Ganglien) nun losgekettet und strahlend geworden,
was am leichtesten bei Frauen geschehn mag, sind dadurch die in ihm schlafenden
Gegensätze aufgewacht, und hat ihre frühere Gleichgiltigkeit sich in Polarität auf¬
geschlossen, dann findet jene untere Lebensmitte zu einem wahrhaften Hirne sich
gesteigert;*) die Instinkte werden willenhaft und treten mehr ins Gebiet der Frei¬
heit über; es klärt sich das dunkle Ahnungsvermögen zu einem lichten Bewußtsein
auf; es öffnen sich neue Sinne in geschärfter Regsamkeit, und diese Velleitäten
und diese neuen Sinne zusamt dem Bewußtsein wenden sich, nun der Schlaf die
äußern Sinne gebunden und die Persönlichkeit von der Natur abgeschlossen, gegen
die innere und geistige Welt zurück, die uun mit ihren Sternen und Sternbildern
und allen ihren Geisterhimmeln sich über den Horizont zu heben beginnt. Ans
dem obern Gehirn, von dessen Mitte her der wache Mensch die äußere Welt und
in sich selbst nur was unter dieser Mitte nach abwärts liegt, betrachtet, ist der
Schlafwache ins untere hinabgestiegen, durchschaut von da aus jene höhern Nerven¬
gebilde, und ihm öffnet sich durch ihre Mitte hindurch der Blick in die Geisterwelt.
Nachdem sich der eine der Dioskuren in der höhern Geistesburg müde geschaut,
erwacht der andre, der im Erdgeschosse schläft; die Nacht des geistigen Reichs hat
ihn zum lichten Tag erhellt, während jenem die Naturwelt in Dunkel sich gehüllt,
und vom tiefern Standpunkte, dem geozentrischen aus, erschaut er nun, was jener
auf dem höhern, dem heliozentrischen, geblendet von seinem Lichte, nicht gesehn.
Auch hier also geht nur durch Demut der Weg zur Höhe, und das Hellsehn in
den Strahlenkreisen des geistigen Lichts wird nur durch Selbstverleugnung der
äußern Sinne und durch das Erblinden für das Licht der Natur vorübergehend
gewonnen.""*)




Die neuere Wissenschaft hat die hohe Meinung vom Gnngliensystem als einem zweiten
Gehirn aufgegeben und bedarf seiner nicht mehr zur Erklärung des Hellsehens und der Traum¬
erscheinungen, aber das folgende schöne Bild, das sich aus der Ansicht von Görres ergiebt,
scheint uns trotzdem nicht jeder Berechtigung zu entbehren.
*"
) Nachträglich fällt uns der eben erschienene dritte und letzte Teil von Hiltys Glück
(Frauenfeld, bei Huber, und Leipzig, I. C, Hinrichssche Buchhandlung) in die Hände. Unsrer
Empfehlung bedarf das nun vollendete Werkchen nicht; nur sagen nur, das; wir kein in unserm
Jahrhundert erschienenes Buch kennen, das nützlicher zu lesen wäre. Darin wird nun auch
S. 178 ff. ganz kurz das beste gesagt, was sich vom christlichen Standpunkt über Mystik sagen
läßt. Ohne den Glauben an die Möglichkeit eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott, heißt es,
wäre die christkchc Religion gar nicht denkbar. Mystik ist also "die christliche Religion selbst
auf einer etwas höhern Stufe ihres Verständnisses." Der Unterschied zwischen der gewöhnlichen
christlichen Frömmigkeit und der mystischen "liegt darin, daß die erste das Christentum sucht,
um mit seiner Hilfe ein glücklicheres, zufriedneres und ehrbareres Dasein zu gewinnen, als es
auf andern Wegen möglich ist, während für die Mystik die Gottesnähe das Glück selber ist.
Der eine der beiden Christen sucht Gott so viel als nötig ist, der andre soviel als es über¬
haupt möglich ist; das ist ein gewaltiger Unterschied, namentlich in der Praxis. Denn man
kann weder die Sinnlichkeit ganz überwinden, noch zu den Mensche" und Dingen in ein voll¬
kommen richtiges Verhältnis gelangen, wenn man nicht zuletzt ganz in Gott lebt. Das aber
eben ist Mystik, denn Gott kann man nicht anders als mit dem Gefühl erfassen; "erklärt"
bleibt er immer eine bloße Idee des Menschen, von der man in Wirklichkeit sagen kann, daß
der Mensch Gott schafft und nicht Gott den Menschen. Ein solcher Gott hilft uns aber nichts
und ist um nichts besser als ein Götze." Mit einem französischen Mystiker sagt Hilty: "Wer
eS nicht ganz faßt, der behalte wenigstens davon, was er für gut erkennt; wem aber diese
Dinge gar nicht auftehn, der lasse sie denen, die sie lieben, und hüte sich etwas zu lästern,
wovon'er nichts weiß." Die sogenannten mystischen Zustände sind möglich, aber sie sind
nicht notwendig, sind kein Beweis von Heiligkeit, sind krankhaft und gefährlich. Von der Zu¬
kunft glaubt er (S. 187 und W8), daß als Reaktion gegen den naturwissenschaftlichen Materia¬
lismus, nachdem dieser seine Wirkungen im Miterleben gezeigt haben werde, zunächst eine Zeit

Latenz gebundne Leben ster Ganglien) nun losgekettet und strahlend geworden,
was am leichtesten bei Frauen geschehn mag, sind dadurch die in ihm schlafenden
Gegensätze aufgewacht, und hat ihre frühere Gleichgiltigkeit sich in Polarität auf¬
geschlossen, dann findet jene untere Lebensmitte zu einem wahrhaften Hirne sich
gesteigert;*) die Instinkte werden willenhaft und treten mehr ins Gebiet der Frei¬
heit über; es klärt sich das dunkle Ahnungsvermögen zu einem lichten Bewußtsein
auf; es öffnen sich neue Sinne in geschärfter Regsamkeit, und diese Velleitäten
und diese neuen Sinne zusamt dem Bewußtsein wenden sich, nun der Schlaf die
äußern Sinne gebunden und die Persönlichkeit von der Natur abgeschlossen, gegen
die innere und geistige Welt zurück, die uun mit ihren Sternen und Sternbildern
und allen ihren Geisterhimmeln sich über den Horizont zu heben beginnt. Ans
dem obern Gehirn, von dessen Mitte her der wache Mensch die äußere Welt und
in sich selbst nur was unter dieser Mitte nach abwärts liegt, betrachtet, ist der
Schlafwache ins untere hinabgestiegen, durchschaut von da aus jene höhern Nerven¬
gebilde, und ihm öffnet sich durch ihre Mitte hindurch der Blick in die Geisterwelt.
Nachdem sich der eine der Dioskuren in der höhern Geistesburg müde geschaut,
erwacht der andre, der im Erdgeschosse schläft; die Nacht des geistigen Reichs hat
ihn zum lichten Tag erhellt, während jenem die Naturwelt in Dunkel sich gehüllt,
und vom tiefern Standpunkte, dem geozentrischen aus, erschaut er nun, was jener
auf dem höhern, dem heliozentrischen, geblendet von seinem Lichte, nicht gesehn.
Auch hier also geht nur durch Demut der Weg zur Höhe, und das Hellsehn in
den Strahlenkreisen des geistigen Lichts wird nur durch Selbstverleugnung der
äußern Sinne und durch das Erblinden für das Licht der Natur vorübergehend
gewonnen.""*)




Die neuere Wissenschaft hat die hohe Meinung vom Gnngliensystem als einem zweiten
Gehirn aufgegeben und bedarf seiner nicht mehr zur Erklärung des Hellsehens und der Traum¬
erscheinungen, aber das folgende schöne Bild, das sich aus der Ansicht von Görres ergiebt,
scheint uns trotzdem nicht jeder Berechtigung zu entbehren.
*"
) Nachträglich fällt uns der eben erschienene dritte und letzte Teil von Hiltys Glück
(Frauenfeld, bei Huber, und Leipzig, I. C, Hinrichssche Buchhandlung) in die Hände. Unsrer
Empfehlung bedarf das nun vollendete Werkchen nicht; nur sagen nur, das; wir kein in unserm
Jahrhundert erschienenes Buch kennen, das nützlicher zu lesen wäre. Darin wird nun auch
S. 178 ff. ganz kurz das beste gesagt, was sich vom christlichen Standpunkt über Mystik sagen
läßt. Ohne den Glauben an die Möglichkeit eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott, heißt es,
wäre die christkchc Religion gar nicht denkbar. Mystik ist also „die christliche Religion selbst
auf einer etwas höhern Stufe ihres Verständnisses." Der Unterschied zwischen der gewöhnlichen
christlichen Frömmigkeit und der mystischen „liegt darin, daß die erste das Christentum sucht,
um mit seiner Hilfe ein glücklicheres, zufriedneres und ehrbareres Dasein zu gewinnen, als es
auf andern Wegen möglich ist, während für die Mystik die Gottesnähe das Glück selber ist.
Der eine der beiden Christen sucht Gott so viel als nötig ist, der andre soviel als es über¬
haupt möglich ist; das ist ein gewaltiger Unterschied, namentlich in der Praxis. Denn man
kann weder die Sinnlichkeit ganz überwinden, noch zu den Mensche» und Dingen in ein voll¬
kommen richtiges Verhältnis gelangen, wenn man nicht zuletzt ganz in Gott lebt. Das aber
eben ist Mystik, denn Gott kann man nicht anders als mit dem Gefühl erfassen; »erklärt«
bleibt er immer eine bloße Idee des Menschen, von der man in Wirklichkeit sagen kann, daß
der Mensch Gott schafft und nicht Gott den Menschen. Ein solcher Gott hilft uns aber nichts
und ist um nichts besser als ein Götze." Mit einem französischen Mystiker sagt Hilty: „Wer
eS nicht ganz faßt, der behalte wenigstens davon, was er für gut erkennt; wem aber diese
Dinge gar nicht auftehn, der lasse sie denen, die sie lieben, und hüte sich etwas zu lästern,
wovon'er nichts weiß." Die sogenannten mystischen Zustände sind möglich, aber sie sind
nicht notwendig, sind kein Beweis von Heiligkeit, sind krankhaft und gefährlich. Von der Zu¬
kunft glaubt er (S. 187 und W8), daß als Reaktion gegen den naturwissenschaftlichen Materia¬
lismus, nachdem dieser seine Wirkungen im Miterleben gezeigt haben werde, zunächst eine Zeit
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[0549] Latenz gebundne Leben ster Ganglien) nun losgekettet und strahlend geworden, was am leichtesten bei Frauen geschehn mag, sind dadurch die in ihm schlafenden Gegensätze aufgewacht, und hat ihre frühere Gleichgiltigkeit sich in Polarität auf¬ geschlossen, dann findet jene untere Lebensmitte zu einem wahrhaften Hirne sich gesteigert;*) die Instinkte werden willenhaft und treten mehr ins Gebiet der Frei¬ heit über; es klärt sich das dunkle Ahnungsvermögen zu einem lichten Bewußtsein auf; es öffnen sich neue Sinne in geschärfter Regsamkeit, und diese Velleitäten und diese neuen Sinne zusamt dem Bewußtsein wenden sich, nun der Schlaf die äußern Sinne gebunden und die Persönlichkeit von der Natur abgeschlossen, gegen die innere und geistige Welt zurück, die uun mit ihren Sternen und Sternbildern und allen ihren Geisterhimmeln sich über den Horizont zu heben beginnt. Ans dem obern Gehirn, von dessen Mitte her der wache Mensch die äußere Welt und in sich selbst nur was unter dieser Mitte nach abwärts liegt, betrachtet, ist der Schlafwache ins untere hinabgestiegen, durchschaut von da aus jene höhern Nerven¬ gebilde, und ihm öffnet sich durch ihre Mitte hindurch der Blick in die Geisterwelt. Nachdem sich der eine der Dioskuren in der höhern Geistesburg müde geschaut, erwacht der andre, der im Erdgeschosse schläft; die Nacht des geistigen Reichs hat ihn zum lichten Tag erhellt, während jenem die Naturwelt in Dunkel sich gehüllt, und vom tiefern Standpunkte, dem geozentrischen aus, erschaut er nun, was jener auf dem höhern, dem heliozentrischen, geblendet von seinem Lichte, nicht gesehn. Auch hier also geht nur durch Demut der Weg zur Höhe, und das Hellsehn in den Strahlenkreisen des geistigen Lichts wird nur durch Selbstverleugnung der äußern Sinne und durch das Erblinden für das Licht der Natur vorübergehend gewonnen.""*) Die neuere Wissenschaft hat die hohe Meinung vom Gnngliensystem als einem zweiten Gehirn aufgegeben und bedarf seiner nicht mehr zur Erklärung des Hellsehens und der Traum¬ erscheinungen, aber das folgende schöne Bild, das sich aus der Ansicht von Görres ergiebt, scheint uns trotzdem nicht jeder Berechtigung zu entbehren. *" ) Nachträglich fällt uns der eben erschienene dritte und letzte Teil von Hiltys Glück (Frauenfeld, bei Huber, und Leipzig, I. C, Hinrichssche Buchhandlung) in die Hände. Unsrer Empfehlung bedarf das nun vollendete Werkchen nicht; nur sagen nur, das; wir kein in unserm Jahrhundert erschienenes Buch kennen, das nützlicher zu lesen wäre. Darin wird nun auch S. 178 ff. ganz kurz das beste gesagt, was sich vom christlichen Standpunkt über Mystik sagen läßt. Ohne den Glauben an die Möglichkeit eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott, heißt es, wäre die christkchc Religion gar nicht denkbar. Mystik ist also „die christliche Religion selbst auf einer etwas höhern Stufe ihres Verständnisses." Der Unterschied zwischen der gewöhnlichen christlichen Frömmigkeit und der mystischen „liegt darin, daß die erste das Christentum sucht, um mit seiner Hilfe ein glücklicheres, zufriedneres und ehrbareres Dasein zu gewinnen, als es auf andern Wegen möglich ist, während für die Mystik die Gottesnähe das Glück selber ist. Der eine der beiden Christen sucht Gott so viel als nötig ist, der andre soviel als es über¬ haupt möglich ist; das ist ein gewaltiger Unterschied, namentlich in der Praxis. Denn man kann weder die Sinnlichkeit ganz überwinden, noch zu den Mensche» und Dingen in ein voll¬ kommen richtiges Verhältnis gelangen, wenn man nicht zuletzt ganz in Gott lebt. Das aber eben ist Mystik, denn Gott kann man nicht anders als mit dem Gefühl erfassen; »erklärt« bleibt er immer eine bloße Idee des Menschen, von der man in Wirklichkeit sagen kann, daß der Mensch Gott schafft und nicht Gott den Menschen. Ein solcher Gott hilft uns aber nichts und ist um nichts besser als ein Götze." Mit einem französischen Mystiker sagt Hilty: „Wer eS nicht ganz faßt, der behalte wenigstens davon, was er für gut erkennt; wem aber diese Dinge gar nicht auftehn, der lasse sie denen, die sie lieben, und hüte sich etwas zu lästern, wovon'er nichts weiß." Die sogenannten mystischen Zustände sind möglich, aber sie sind nicht notwendig, sind kein Beweis von Heiligkeit, sind krankhaft und gefährlich. Von der Zu¬ kunft glaubt er (S. 187 und W8), daß als Reaktion gegen den naturwissenschaftlichen Materia¬ lismus, nachdem dieser seine Wirkungen im Miterleben gezeigt haben werde, zunächst eine Zeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/549>, abgerufen am 15.01.2025.