Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Briefe eines Zurückgekehrten daß die Jahrhunderte hindurch fortgesetzte vortreffliche Ernährung und Er¬ Die Fahrt von Hamburg nach Lübeck enthüllt nichts Großes, nichts Briefe eines Zurückgekehrten daß die Jahrhunderte hindurch fortgesetzte vortreffliche Ernährung und Er¬ Die Fahrt von Hamburg nach Lübeck enthüllt nichts Großes, nichts <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0522" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231692"/> <fw type="header" place="top"> Briefe eines Zurückgekehrten</fw><lb/> <p xml:id="ID_1704" prev="#ID_1703"> daß die Jahrhunderte hindurch fortgesetzte vortreffliche Ernährung und Er¬<lb/> ziehung, Sorgenfreiheit, Lebenskunst, fest gegründetes Besitzgefühl nicht imstande<lb/> sind, zu verhüten, daß die plebejischsten Gesichter und die schlotterigsten<lb/> Jammergestalten von schönen, sorgenfreien Eltern gezeugt und herangezogen<lb/> werden. Es spricht sich darin eine der merkwürdigsten Eigenschaften des<lb/> Menschengeschlechts aus, daß sich die Natur entschieden ablehnend gegen die<lb/> Bildung einer Daueraristokratie verhält. Konnten Eigenschaften der Über¬<lb/> menschen durch Züchtung befestigt und fortgepflanzt werden, dann wehe uns<lb/> andern, die aus der Masse des mittlern Bauern-, Bürger- und Beamten¬<lb/> stands hervorgegangen sind. Aber die gütige Natur sorgt für ihre Kinder.<lb/> Zu denen, die die Unterschiede des Besitzes und Standes ihren Nachkommen<lb/> für immer sicherstellen möchten, sagt sie einfach: Ich will nicht. Sie macht,<lb/> daß fürstliche Gestalten und königliche Geister in Bauernhütten geboren werden.<lb/> Die Nation wäre thöricht, die nicht der Natur ihr ausgleichendes Werk<lb/> erleichtern wollte, indem sie alles thut, um die Lage der untern Klassen zu<lb/> verbessern. Es liegt vielleicht in der bessern Lebenshaltung der einheimischen<lb/> Arbeiter — ich spreche nicht von den importierten, billig arbeitenden Slowaken,<lb/> Polen und Italienern, die für den Amerikaner gleich hinter den Chinesen<lb/> kommen —, die der zweifelloseste Vorzug Amerikas vor Europa ist. Sie erzeugt<lb/> Männer und Frauen, deren Gestalt, Gang und Mienen niemand die Tage¬<lb/> löhnerarbeit ansieht. Sobald sich ein Weg nach oben aufthut, sind sie bereit,<lb/> in eine höhere Schicht einzudringen, wo sie sich ganz zu Hause fühlen. Ich<lb/> fürchte allerdings, daß gerade diese Schicht an der Unlust, Kinder zu haben,<lb/> einst noch früher als die Franzosen zu Grunde gehn wird.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_1705" next="#ID_1706"> Die Fahrt von Hamburg nach Lübeck enthüllt nichts Großes, nichts<lb/> schlagendes. Es ist eben ein bescheidnes Stück Land, etwas aus der Vossischen<lb/> Luise, den Idyllen Storms und Geibels, ein beschauliches, friedsames Stück<lb/> Erde, das übrigens in der Heide der schleswigschen Höhenrücken und überall,<lb/> wo das Meer hereinschaut, auch größere Züge hat. Fernow, ein Bewundrer<lb/> klassischer Landschaft aus dem Weimarischen Kreise zu Goethes Zeiten, sagte<lb/> kecklich von der niederländischen Natur, in diesen flachen Gegenden herrsche<lb/> Reiz und Schönheit, doch sei die Schönheit keine hohe, und Größe finde sich<lb/> gar nicht darin. Die Größe der Düne, des Meeres und des hohen Himmels,<lb/> wie sie Nembrcindt auf dem Bilde Haarlem um Haag) zeigt, galt also nicht<lb/> neben der gewaltsamen Größe der schroffen Gebirge oder den stilvollen Kegeln<lb/> und Wölbungen der Albaner Berge. Das war die Zeit, wo man in der Land¬<lb/> schaft Fülle mit Größe verwechselte. Ein erst nur halb entwickeltes Schön¬<lb/> heitsgefühl vergnügte sich an der genrehaften Staffage, ohne die kein Lmid-<lb/> schaftsbild auch nur des Anblicks wert zu sein schien. Dagegen schlummerte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0522]
Briefe eines Zurückgekehrten
daß die Jahrhunderte hindurch fortgesetzte vortreffliche Ernährung und Er¬
ziehung, Sorgenfreiheit, Lebenskunst, fest gegründetes Besitzgefühl nicht imstande
sind, zu verhüten, daß die plebejischsten Gesichter und die schlotterigsten
Jammergestalten von schönen, sorgenfreien Eltern gezeugt und herangezogen
werden. Es spricht sich darin eine der merkwürdigsten Eigenschaften des
Menschengeschlechts aus, daß sich die Natur entschieden ablehnend gegen die
Bildung einer Daueraristokratie verhält. Konnten Eigenschaften der Über¬
menschen durch Züchtung befestigt und fortgepflanzt werden, dann wehe uns
andern, die aus der Masse des mittlern Bauern-, Bürger- und Beamten¬
stands hervorgegangen sind. Aber die gütige Natur sorgt für ihre Kinder.
Zu denen, die die Unterschiede des Besitzes und Standes ihren Nachkommen
für immer sicherstellen möchten, sagt sie einfach: Ich will nicht. Sie macht,
daß fürstliche Gestalten und königliche Geister in Bauernhütten geboren werden.
Die Nation wäre thöricht, die nicht der Natur ihr ausgleichendes Werk
erleichtern wollte, indem sie alles thut, um die Lage der untern Klassen zu
verbessern. Es liegt vielleicht in der bessern Lebenshaltung der einheimischen
Arbeiter — ich spreche nicht von den importierten, billig arbeitenden Slowaken,
Polen und Italienern, die für den Amerikaner gleich hinter den Chinesen
kommen —, die der zweifelloseste Vorzug Amerikas vor Europa ist. Sie erzeugt
Männer und Frauen, deren Gestalt, Gang und Mienen niemand die Tage¬
löhnerarbeit ansieht. Sobald sich ein Weg nach oben aufthut, sind sie bereit,
in eine höhere Schicht einzudringen, wo sie sich ganz zu Hause fühlen. Ich
fürchte allerdings, daß gerade diese Schicht an der Unlust, Kinder zu haben,
einst noch früher als die Franzosen zu Grunde gehn wird.
Die Fahrt von Hamburg nach Lübeck enthüllt nichts Großes, nichts
schlagendes. Es ist eben ein bescheidnes Stück Land, etwas aus der Vossischen
Luise, den Idyllen Storms und Geibels, ein beschauliches, friedsames Stück
Erde, das übrigens in der Heide der schleswigschen Höhenrücken und überall,
wo das Meer hereinschaut, auch größere Züge hat. Fernow, ein Bewundrer
klassischer Landschaft aus dem Weimarischen Kreise zu Goethes Zeiten, sagte
kecklich von der niederländischen Natur, in diesen flachen Gegenden herrsche
Reiz und Schönheit, doch sei die Schönheit keine hohe, und Größe finde sich
gar nicht darin. Die Größe der Düne, des Meeres und des hohen Himmels,
wie sie Nembrcindt auf dem Bilde Haarlem um Haag) zeigt, galt also nicht
neben der gewaltsamen Größe der schroffen Gebirge oder den stilvollen Kegeln
und Wölbungen der Albaner Berge. Das war die Zeit, wo man in der Land¬
schaft Fülle mit Größe verwechselte. Ein erst nur halb entwickeltes Schön¬
heitsgefühl vergnügte sich an der genrehaften Staffage, ohne die kein Lmid-
schaftsbild auch nur des Anblicks wert zu sein schien. Dagegen schlummerte
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