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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

übertragen bedeuten diese Neigungen die rücksichtslose Anfechtung der Gesetze
zum Schutz der Sonntagsstille und aller Mäßigkeitsbestrebungen, das dem An¬
sehen der Deutschen in Amerika die schwersten Wunden geschlagen hat. Sie
mögen in sehr vielen Beziehungen recht haben und ihren Gebrauch geistiger Ge¬
tränke dem Mißbrauch, den die Anglokelten damit treiben, mit voller Begrün¬
dung entgegenstellen. Der freie Bierausschank und die Bierfiedelei in Sommer-
gärteu sind aber nun einmal keine politischen Programme für ein großes Volk.
Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und Bierwirte in den politischen
Gruppen der Deutschamerikaner hat dazu beigetragen, daß höhere nationale
Bildungsbestrebungen bei den deutschamerikanischen Politikern so selten eine
warme Unterstützung gesunde:? haben. Sie sind mit Feuer gegen jede Be¬
schränkung der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volksbiblio¬
theken stehn viele Deutsche teilnahmlos gegenüber.

Das Bedürfnis des "Anschlusses" ist bei Deutschen immer stärker als bei
andern Völkern. Ich meine beim Durchschnitt. Hochgebildete Deutsche be¬
wegen sich geradeso wie andre um ihren eignen Mittelpunkt und sind sich so¬
lange selbst genug, als sie nicht einen andern Fixstern finden, mit dem sie sich
zum Doppelstern verbinden. Es ist aber das Eigentümliche, daß der Engländer
ein tieferes Beruhen in sich selbst auch dann zeigt, wenn er keinen geistigen
Schwerpunkt hat, vielmehr eine taube Nuß ist. Ist es Naturell? Ist es
praktische Lebensweisheit? Wohl beides: die Weisheit wächst aus der Natur¬
anlage heraus; sie hat sich einmal die Regel gebildet, jede Lebenslage kühl zu
überschauen und sich die Frage vorzulegen: Wie pasfest du da hinein? Und
die befolgt sie nun wie ein Naturgesetz instinktiv. Der Deutsche ist beweg¬
licher, läßt sich leichter anziehn, folgt einem oberflächlichen Unterhaltungs¬
bedürfnis und fühlt sich sehr häufig ebenso rasch abgestoßen, wie er sich vorher
anziehn ließ. Ein gutes Teil des Streites und Haders in großen und kleinen
deutschen Gemeinschaften kann man darauf zurückführen, daß die Persönlichkeiten
nicht hinreichend scharf abgegrenzt sind, nicht genau genug wissen und rasch
genug entscheiden, was sie wollen und sollen, weshalb sie ans Übereinstimmung
oder aus Widerspruch wechselseitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen.
Daher die endlosen Reibungen. Ein Halbdeutscher russischer Abkunft, der die
Dinge in einer kleinen Hafenstadt Guatemalas halbneutral viele Jahre be¬
obachtet hatte, sagte mir einmal das treffende Wort: Wir streiten uns gerade
so, als ob wir alle Mieter enger Wohnungen in einer einzigen Berliner
Mietkaserne wären, und doch könnte hier jeder unter seinen eignen Palmen
und zwischen seinen blühenden Kaffeehecken so friedlich leben. Ich bin immer
überzeugt gewesen, daß ein großer Teil der deutscheu Vereinsmeierei zuletzt in
dem Bedürfnis wurzelt, in die einander wirr durchkreuzenden Anziehungen und
Abstoßnngen eine gesetzliche Ordnung zu bringen. In den Vereinen platzen
sie zwar erst recht aufeinander, aber da sind dann die Statuten, die Gewohnheit


Briefe eines Zurückgekehrten

übertragen bedeuten diese Neigungen die rücksichtslose Anfechtung der Gesetze
zum Schutz der Sonntagsstille und aller Mäßigkeitsbestrebungen, das dem An¬
sehen der Deutschen in Amerika die schwersten Wunden geschlagen hat. Sie
mögen in sehr vielen Beziehungen recht haben und ihren Gebrauch geistiger Ge¬
tränke dem Mißbrauch, den die Anglokelten damit treiben, mit voller Begrün¬
dung entgegenstellen. Der freie Bierausschank und die Bierfiedelei in Sommer-
gärteu sind aber nun einmal keine politischen Programme für ein großes Volk.
Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und Bierwirte in den politischen
Gruppen der Deutschamerikaner hat dazu beigetragen, daß höhere nationale
Bildungsbestrebungen bei den deutschamerikanischen Politikern so selten eine
warme Unterstützung gesunde:? haben. Sie sind mit Feuer gegen jede Be¬
schränkung der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volksbiblio¬
theken stehn viele Deutsche teilnahmlos gegenüber.

Das Bedürfnis des „Anschlusses" ist bei Deutschen immer stärker als bei
andern Völkern. Ich meine beim Durchschnitt. Hochgebildete Deutsche be¬
wegen sich geradeso wie andre um ihren eignen Mittelpunkt und sind sich so¬
lange selbst genug, als sie nicht einen andern Fixstern finden, mit dem sie sich
zum Doppelstern verbinden. Es ist aber das Eigentümliche, daß der Engländer
ein tieferes Beruhen in sich selbst auch dann zeigt, wenn er keinen geistigen
Schwerpunkt hat, vielmehr eine taube Nuß ist. Ist es Naturell? Ist es
praktische Lebensweisheit? Wohl beides: die Weisheit wächst aus der Natur¬
anlage heraus; sie hat sich einmal die Regel gebildet, jede Lebenslage kühl zu
überschauen und sich die Frage vorzulegen: Wie pasfest du da hinein? Und
die befolgt sie nun wie ein Naturgesetz instinktiv. Der Deutsche ist beweg¬
licher, läßt sich leichter anziehn, folgt einem oberflächlichen Unterhaltungs¬
bedürfnis und fühlt sich sehr häufig ebenso rasch abgestoßen, wie er sich vorher
anziehn ließ. Ein gutes Teil des Streites und Haders in großen und kleinen
deutschen Gemeinschaften kann man darauf zurückführen, daß die Persönlichkeiten
nicht hinreichend scharf abgegrenzt sind, nicht genau genug wissen und rasch
genug entscheiden, was sie wollen und sollen, weshalb sie ans Übereinstimmung
oder aus Widerspruch wechselseitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen.
Daher die endlosen Reibungen. Ein Halbdeutscher russischer Abkunft, der die
Dinge in einer kleinen Hafenstadt Guatemalas halbneutral viele Jahre be¬
obachtet hatte, sagte mir einmal das treffende Wort: Wir streiten uns gerade
so, als ob wir alle Mieter enger Wohnungen in einer einzigen Berliner
Mietkaserne wären, und doch könnte hier jeder unter seinen eignen Palmen
und zwischen seinen blühenden Kaffeehecken so friedlich leben. Ich bin immer
überzeugt gewesen, daß ein großer Teil der deutscheu Vereinsmeierei zuletzt in
dem Bedürfnis wurzelt, in die einander wirr durchkreuzenden Anziehungen und
Abstoßnngen eine gesetzliche Ordnung zu bringen. In den Vereinen platzen
sie zwar erst recht aufeinander, aber da sind dann die Statuten, die Gewohnheit


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[0515] Briefe eines Zurückgekehrten übertragen bedeuten diese Neigungen die rücksichtslose Anfechtung der Gesetze zum Schutz der Sonntagsstille und aller Mäßigkeitsbestrebungen, das dem An¬ sehen der Deutschen in Amerika die schwersten Wunden geschlagen hat. Sie mögen in sehr vielen Beziehungen recht haben und ihren Gebrauch geistiger Ge¬ tränke dem Mißbrauch, den die Anglokelten damit treiben, mit voller Begrün¬ dung entgegenstellen. Der freie Bierausschank und die Bierfiedelei in Sommer- gärteu sind aber nun einmal keine politischen Programme für ein großes Volk. Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und Bierwirte in den politischen Gruppen der Deutschamerikaner hat dazu beigetragen, daß höhere nationale Bildungsbestrebungen bei den deutschamerikanischen Politikern so selten eine warme Unterstützung gesunde:? haben. Sie sind mit Feuer gegen jede Be¬ schränkung der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volksbiblio¬ theken stehn viele Deutsche teilnahmlos gegenüber. Das Bedürfnis des „Anschlusses" ist bei Deutschen immer stärker als bei andern Völkern. Ich meine beim Durchschnitt. Hochgebildete Deutsche be¬ wegen sich geradeso wie andre um ihren eignen Mittelpunkt und sind sich so¬ lange selbst genug, als sie nicht einen andern Fixstern finden, mit dem sie sich zum Doppelstern verbinden. Es ist aber das Eigentümliche, daß der Engländer ein tieferes Beruhen in sich selbst auch dann zeigt, wenn er keinen geistigen Schwerpunkt hat, vielmehr eine taube Nuß ist. Ist es Naturell? Ist es praktische Lebensweisheit? Wohl beides: die Weisheit wächst aus der Natur¬ anlage heraus; sie hat sich einmal die Regel gebildet, jede Lebenslage kühl zu überschauen und sich die Frage vorzulegen: Wie pasfest du da hinein? Und die befolgt sie nun wie ein Naturgesetz instinktiv. Der Deutsche ist beweg¬ licher, läßt sich leichter anziehn, folgt einem oberflächlichen Unterhaltungs¬ bedürfnis und fühlt sich sehr häufig ebenso rasch abgestoßen, wie er sich vorher anziehn ließ. Ein gutes Teil des Streites und Haders in großen und kleinen deutschen Gemeinschaften kann man darauf zurückführen, daß die Persönlichkeiten nicht hinreichend scharf abgegrenzt sind, nicht genau genug wissen und rasch genug entscheiden, was sie wollen und sollen, weshalb sie ans Übereinstimmung oder aus Widerspruch wechselseitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen. Daher die endlosen Reibungen. Ein Halbdeutscher russischer Abkunft, der die Dinge in einer kleinen Hafenstadt Guatemalas halbneutral viele Jahre be¬ obachtet hatte, sagte mir einmal das treffende Wort: Wir streiten uns gerade so, als ob wir alle Mieter enger Wohnungen in einer einzigen Berliner Mietkaserne wären, und doch könnte hier jeder unter seinen eignen Palmen und zwischen seinen blühenden Kaffeehecken so friedlich leben. Ich bin immer überzeugt gewesen, daß ein großer Teil der deutscheu Vereinsmeierei zuletzt in dem Bedürfnis wurzelt, in die einander wirr durchkreuzenden Anziehungen und Abstoßnngen eine gesetzliche Ordnung zu bringen. In den Vereinen platzen sie zwar erst recht aufeinander, aber da sind dann die Statuten, die Gewohnheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/515>, abgerufen am 15.01.2025.