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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Ablehnung des Mittellandkanals

tragen wurden. Diesen Herren waren aber die Verhältnisse in Ostelbien selbst¬
verständlich nicht bekannt, und da ein Ministerialrat selten aus seinem Bureau
herauskommt, und wenn es geschieht, nur zu sehr kurzen Dienstreisen, da sie
ihre Urlaubswochen selbstverständlich in der alten westlichen Heimat zubrachten,
so beschränkten sich auch die Kenntnisse, die sie erwarben, nur auf den Inhalt
der Akten. Land und Leute blieben ihnen fremd, und sie wandten mehr als
häufig ihre heimatlichen Anschauungen und Maximen auf Verhältnisse an, die
ganz anders lagen, als sie meinten, in einer den thatsächlichen Umstünden
wenig günstigen Weise. Auch sehlte ihnen zumeist das warme Interesse für
die ostelbischen Provinzen. "Preußen" war in ihrer Heimat eher verhaßt als
beliebt gewesen, und die staatspolitischen Veränderungen hatten ihnen nicht alle
Jugendantipathien aus dem Herzen gerissen. Sie stellten das alte Vater¬
land mit seinen Einrichtungen turmhoch über das neue und ließen von den
ursprünglichen Bestandteilen des neuen etwa noch die westlichen Provinzen,
Rheinland und Westfalen, gelten, während ihnen, was rechts von der Elbe oder
gar von der Oder lag, als minderwertig erschien.

Dazu kam nun noch die allgemeine Tendenz der damaligen Staatspolitik,
den einverleibten Provinzen den Übertritt und das Einleben in die neuen Ver¬
hältnisse so vorteilhaft als möglich zu gestalten. Man bevorzugte sie that¬
sächlich in aller und jeder Beziehung, und die alten mußten zurückstehn. Der
angrenzende Westen, ja auch noch die Provinz Sachsen belasten manche Vor¬
teile dieser Politik ein, namentlich auf dem Verkehrsgebiete, aber der Osten
ging völlig leer aus, und doch war er vor 1866 der überwiegend größere
Teil des preußischen Staatskörpers gewesen.

Dieser Teil war es, der 1813 die Hauptarbeit gethan hat, und das
Preußen von 1866 schlug nicht allein Königgrätz, sondern stellte auch zum
Kriege von 1870/71 sowohl überhaupt wie insonderheit aus den gebildeten
und bemittelten Schichten ein sehr viel höheres Kontingent von Streitern als
das übrige Deutschland und die neuen Provinzen. Der Grund hierfür lag
einfach darin, daß damals nur Preußen die allgemeine Wehrpflicht, die alle
Stände zum Waffendienst berief, eingeführt hatte und seit der Armeereorgani¬
sation von 1859 mehr oder minder jeden gesunden Mann in das Heer ein¬
stellte. Auch aus den neuen Provinzen zog 1870 die ganze junge Mannschaft
in den Krieg, aber das waren doch nur die Jahrgänge 1867 bis 1870, also
noch nicht einmal der erforderliche Bedarf an Reservisten, um die Regimenter
auf den Kriegsstand zu bringen; die gesamte Landwehr, die bei Metz, Paris
und vor allem unter Werber ihr Blut vergoß, mußte einschließlich der Offi¬
ziere fast allein von den ältern Provinzen gestellt werden.

Aber nicht nur die Kriegsleistung kommt in Betracht; auch im Frieden
hat das alte eng eingeschnürte Preußen manch schweres Opfer gebracht. Man
nannte früher Österreich Deutschlands Schild und Preußen Deutschlands
Schwert; um dieses Schwert zu sein und ein entsprechendes Heer unterhalten


Die Ablehnung des Mittellandkanals

tragen wurden. Diesen Herren waren aber die Verhältnisse in Ostelbien selbst¬
verständlich nicht bekannt, und da ein Ministerialrat selten aus seinem Bureau
herauskommt, und wenn es geschieht, nur zu sehr kurzen Dienstreisen, da sie
ihre Urlaubswochen selbstverständlich in der alten westlichen Heimat zubrachten,
so beschränkten sich auch die Kenntnisse, die sie erwarben, nur auf den Inhalt
der Akten. Land und Leute blieben ihnen fremd, und sie wandten mehr als
häufig ihre heimatlichen Anschauungen und Maximen auf Verhältnisse an, die
ganz anders lagen, als sie meinten, in einer den thatsächlichen Umstünden
wenig günstigen Weise. Auch sehlte ihnen zumeist das warme Interesse für
die ostelbischen Provinzen. „Preußen" war in ihrer Heimat eher verhaßt als
beliebt gewesen, und die staatspolitischen Veränderungen hatten ihnen nicht alle
Jugendantipathien aus dem Herzen gerissen. Sie stellten das alte Vater¬
land mit seinen Einrichtungen turmhoch über das neue und ließen von den
ursprünglichen Bestandteilen des neuen etwa noch die westlichen Provinzen,
Rheinland und Westfalen, gelten, während ihnen, was rechts von der Elbe oder
gar von der Oder lag, als minderwertig erschien.

Dazu kam nun noch die allgemeine Tendenz der damaligen Staatspolitik,
den einverleibten Provinzen den Übertritt und das Einleben in die neuen Ver¬
hältnisse so vorteilhaft als möglich zu gestalten. Man bevorzugte sie that¬
sächlich in aller und jeder Beziehung, und die alten mußten zurückstehn. Der
angrenzende Westen, ja auch noch die Provinz Sachsen belasten manche Vor¬
teile dieser Politik ein, namentlich auf dem Verkehrsgebiete, aber der Osten
ging völlig leer aus, und doch war er vor 1866 der überwiegend größere
Teil des preußischen Staatskörpers gewesen.

Dieser Teil war es, der 1813 die Hauptarbeit gethan hat, und das
Preußen von 1866 schlug nicht allein Königgrätz, sondern stellte auch zum
Kriege von 1870/71 sowohl überhaupt wie insonderheit aus den gebildeten
und bemittelten Schichten ein sehr viel höheres Kontingent von Streitern als
das übrige Deutschland und die neuen Provinzen. Der Grund hierfür lag
einfach darin, daß damals nur Preußen die allgemeine Wehrpflicht, die alle
Stände zum Waffendienst berief, eingeführt hatte und seit der Armeereorgani¬
sation von 1859 mehr oder minder jeden gesunden Mann in das Heer ein¬
stellte. Auch aus den neuen Provinzen zog 1870 die ganze junge Mannschaft
in den Krieg, aber das waren doch nur die Jahrgänge 1867 bis 1870, also
noch nicht einmal der erforderliche Bedarf an Reservisten, um die Regimenter
auf den Kriegsstand zu bringen; die gesamte Landwehr, die bei Metz, Paris
und vor allem unter Werber ihr Blut vergoß, mußte einschließlich der Offi¬
ziere fast allein von den ältern Provinzen gestellt werden.

Aber nicht nur die Kriegsleistung kommt in Betracht; auch im Frieden
hat das alte eng eingeschnürte Preußen manch schweres Opfer gebracht. Man
nannte früher Österreich Deutschlands Schild und Preußen Deutschlands
Schwert; um dieses Schwert zu sein und ein entsprechendes Heer unterhalten


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[0496] Die Ablehnung des Mittellandkanals tragen wurden. Diesen Herren waren aber die Verhältnisse in Ostelbien selbst¬ verständlich nicht bekannt, und da ein Ministerialrat selten aus seinem Bureau herauskommt, und wenn es geschieht, nur zu sehr kurzen Dienstreisen, da sie ihre Urlaubswochen selbstverständlich in der alten westlichen Heimat zubrachten, so beschränkten sich auch die Kenntnisse, die sie erwarben, nur auf den Inhalt der Akten. Land und Leute blieben ihnen fremd, und sie wandten mehr als häufig ihre heimatlichen Anschauungen und Maximen auf Verhältnisse an, die ganz anders lagen, als sie meinten, in einer den thatsächlichen Umstünden wenig günstigen Weise. Auch sehlte ihnen zumeist das warme Interesse für die ostelbischen Provinzen. „Preußen" war in ihrer Heimat eher verhaßt als beliebt gewesen, und die staatspolitischen Veränderungen hatten ihnen nicht alle Jugendantipathien aus dem Herzen gerissen. Sie stellten das alte Vater¬ land mit seinen Einrichtungen turmhoch über das neue und ließen von den ursprünglichen Bestandteilen des neuen etwa noch die westlichen Provinzen, Rheinland und Westfalen, gelten, während ihnen, was rechts von der Elbe oder gar von der Oder lag, als minderwertig erschien. Dazu kam nun noch die allgemeine Tendenz der damaligen Staatspolitik, den einverleibten Provinzen den Übertritt und das Einleben in die neuen Ver¬ hältnisse so vorteilhaft als möglich zu gestalten. Man bevorzugte sie that¬ sächlich in aller und jeder Beziehung, und die alten mußten zurückstehn. Der angrenzende Westen, ja auch noch die Provinz Sachsen belasten manche Vor¬ teile dieser Politik ein, namentlich auf dem Verkehrsgebiete, aber der Osten ging völlig leer aus, und doch war er vor 1866 der überwiegend größere Teil des preußischen Staatskörpers gewesen. Dieser Teil war es, der 1813 die Hauptarbeit gethan hat, und das Preußen von 1866 schlug nicht allein Königgrätz, sondern stellte auch zum Kriege von 1870/71 sowohl überhaupt wie insonderheit aus den gebildeten und bemittelten Schichten ein sehr viel höheres Kontingent von Streitern als das übrige Deutschland und die neuen Provinzen. Der Grund hierfür lag einfach darin, daß damals nur Preußen die allgemeine Wehrpflicht, die alle Stände zum Waffendienst berief, eingeführt hatte und seit der Armeereorgani¬ sation von 1859 mehr oder minder jeden gesunden Mann in das Heer ein¬ stellte. Auch aus den neuen Provinzen zog 1870 die ganze junge Mannschaft in den Krieg, aber das waren doch nur die Jahrgänge 1867 bis 1870, also noch nicht einmal der erforderliche Bedarf an Reservisten, um die Regimenter auf den Kriegsstand zu bringen; die gesamte Landwehr, die bei Metz, Paris und vor allem unter Werber ihr Blut vergoß, mußte einschließlich der Offi¬ ziere fast allein von den ältern Provinzen gestellt werden. Aber nicht nur die Kriegsleistung kommt in Betracht; auch im Frieden hat das alte eng eingeschnürte Preußen manch schweres Opfer gebracht. Man nannte früher Österreich Deutschlands Schild und Preußen Deutschlands Schwert; um dieses Schwert zu sein und ein entsprechendes Heer unterhalten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/496>, abgerufen am 15.01.2025.