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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Thüringer Märchen

Der Alfcmz lag mit seinem Gesicht neben der Distelmutter. Sie und alle
ihre Kinder, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter und Enkel ringsherum gafften den
toten Buben an und wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Denn einen hüpfenden
und springenden Ahorn, der einen Buben totschlägt, hatten sie alle noch nicht ge¬
sehen, viel weniger, daß aus einem Ahorn ein Mensch geworden wäre.

Die Distelmutter sah das blitzende Messer in des toten Buben Hand, die den
Messergriff so fest umklammerte, als wäre sie selbst von Eisen. Aha! sagte die
Distelmutter, das ist der Distclschinder! Mit dem blitzenden Ding da hat er im
vorigen Sommer meinen Kindern die Köpfe weggeschnippt. Und sie merkte, daß
in der Brust des Buben noch Atem war, und streckte eine Hand ein wenig aus
und tippte mit einem Finger dem Alfcmz an die Nasenspitze. Die Distelfinger
haben aber, wie alle Welt weiß, statt der Fingernagel verwünscht spitzige Stacheln.
Und von der Berührung des Distelfingers entstand um der Nasenspitze des Alfcmz
ein Blutströpflein, klein wie eine Stecknadelkuppe, und durch sein Gesicht ging ein
kleiner Schmerzensriß. Und wieder tippte die Distelmutter mit ihrem Finger an
die Nase, ein klein wenig weiter oben, daß das Gesicht wieder zuckte und über dem
Blutstrvpflein an der Nasenspitze ein zweites hervorkam, und dann zauberte sie noch
ein drittes hervor. Grinsend schaute sie ringsherum im Kreise ihrer Lieben und
zeigte auf die drei Blutstrvpflein an der Nase und winkte und grinste immer
lustiger. Nun ging es dem Alfcmz schlecht. Die ganze Distelsippschaft begann
ihn zu stechen, ins Gesicht, in die Hciude, durch die Hosen hindurch und in die
nackten Füße. Mit jämmerlichem Geschrei sprang da der Alfcmz auf. Er war
nicht wirklich tot. Und nach dem Spruch und Recht der Hexe Akris wäre da in
dem ganzen Zauber eigentlich ein Versehen vorgekommen. Denn danach hätte
der Bartel-Ahorn doch erst dann in einen Menschen verwandelt werden können,
wenn der Ahornanzapfer richtig und ganz tot geblieben wäre. Wie mans nehmen
will. Denn hinter allem Zauber und Bösen steht in Ewigkeit die Gnade. So
wird es nicht ein Versehen, sonder" Gnade gewesen sein. -- Alfcmz floh und schrie
jämmerlich.

Als der nachdenkliche Bartel das Geschrei hörte, stand er auf und stellte sich
dem daherkommenden Alfcmz in den Weg. Steh, Bube! Bist du nicht tot? sprach
der Bartel mit tiefer Baßstimme. Warum schreist du so?

Der Alfcmz blieb stehn. Er hatte immer noch sein Messer in der Hand und
starrte den Bartel an und hörte auf zu schreien. In weinerlichen Tone antwortete
er dann: Die bösen Disteln haben mich blutig gestochen. Dem Bartel fiel da das
Ahornanzapfen ein, und er sprach: Und du hast mit deinem Messer da den Ahorn
angestochen! Weißt du das uoch? Dafür hast du deine Strafe vom Ahorn be¬
kommen. Hast du vielleicht auch den Disteln einmal weh gethan? Der Alfcmz
riß die Augen weit ans und glotzte de" Bartel an. Dann nickte er. -- Da hast
dus! Ich war auch ein Frevler und habe hart dafür büßen müssen. Danach fuhr
der Bartel fort mit feierlicher Baßstimme: Ich habe sinniert in die vergangne Zeit
zurück und hinüber und herüber. Und da habe ich solches bedacht. Das Eisen
kommt aus der Erde; Gras und Kraut, Getreide und Wein wächst aus der Erde
hervor, und auch die Disteln, Kletten, Birken und Ahorne wachsen aus der Erde
hervor. Und alles hat seine Bestimmung. Und wer solcher Bestimmung zuwider
ist, der frevelt. Ich bin ein Büttner und soll das schneidige Eisen in meinem
Handwerk spielen lassen, aber nicht zum Baumschinden. Und du sollst es brauche"
zum Griffelspitzen und Brotschneiden, aber nicht zum Frevel an Gottes Schöpfung.
Und nun wirf dein Sündenmesser ins Wasser, wie ich meine Snndenbnrte hinein¬
geworfen habe.


Thüringer Märchen

Der Alfcmz lag mit seinem Gesicht neben der Distelmutter. Sie und alle
ihre Kinder, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter und Enkel ringsherum gafften den
toten Buben an und wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Denn einen hüpfenden
und springenden Ahorn, der einen Buben totschlägt, hatten sie alle noch nicht ge¬
sehen, viel weniger, daß aus einem Ahorn ein Mensch geworden wäre.

Die Distelmutter sah das blitzende Messer in des toten Buben Hand, die den
Messergriff so fest umklammerte, als wäre sie selbst von Eisen. Aha! sagte die
Distelmutter, das ist der Distclschinder! Mit dem blitzenden Ding da hat er im
vorigen Sommer meinen Kindern die Köpfe weggeschnippt. Und sie merkte, daß
in der Brust des Buben noch Atem war, und streckte eine Hand ein wenig aus
und tippte mit einem Finger dem Alfcmz an die Nasenspitze. Die Distelfinger
haben aber, wie alle Welt weiß, statt der Fingernagel verwünscht spitzige Stacheln.
Und von der Berührung des Distelfingers entstand um der Nasenspitze des Alfcmz
ein Blutströpflein, klein wie eine Stecknadelkuppe, und durch sein Gesicht ging ein
kleiner Schmerzensriß. Und wieder tippte die Distelmutter mit ihrem Finger an
die Nase, ein klein wenig weiter oben, daß das Gesicht wieder zuckte und über dem
Blutstrvpflein an der Nasenspitze ein zweites hervorkam, und dann zauberte sie noch
ein drittes hervor. Grinsend schaute sie ringsherum im Kreise ihrer Lieben und
zeigte auf die drei Blutstrvpflein an der Nase und winkte und grinste immer
lustiger. Nun ging es dem Alfcmz schlecht. Die ganze Distelsippschaft begann
ihn zu stechen, ins Gesicht, in die Hciude, durch die Hosen hindurch und in die
nackten Füße. Mit jämmerlichem Geschrei sprang da der Alfcmz auf. Er war
nicht wirklich tot. Und nach dem Spruch und Recht der Hexe Akris wäre da in
dem ganzen Zauber eigentlich ein Versehen vorgekommen. Denn danach hätte
der Bartel-Ahorn doch erst dann in einen Menschen verwandelt werden können,
wenn der Ahornanzapfer richtig und ganz tot geblieben wäre. Wie mans nehmen
will. Denn hinter allem Zauber und Bösen steht in Ewigkeit die Gnade. So
wird es nicht ein Versehen, sonder» Gnade gewesen sein. — Alfcmz floh und schrie
jämmerlich.

Als der nachdenkliche Bartel das Geschrei hörte, stand er auf und stellte sich
dem daherkommenden Alfcmz in den Weg. Steh, Bube! Bist du nicht tot? sprach
der Bartel mit tiefer Baßstimme. Warum schreist du so?

Der Alfcmz blieb stehn. Er hatte immer noch sein Messer in der Hand und
starrte den Bartel an und hörte auf zu schreien. In weinerlichen Tone antwortete
er dann: Die bösen Disteln haben mich blutig gestochen. Dem Bartel fiel da das
Ahornanzapfen ein, und er sprach: Und du hast mit deinem Messer da den Ahorn
angestochen! Weißt du das uoch? Dafür hast du deine Strafe vom Ahorn be¬
kommen. Hast du vielleicht auch den Disteln einmal weh gethan? Der Alfcmz
riß die Augen weit ans und glotzte de» Bartel an. Dann nickte er. — Da hast
dus! Ich war auch ein Frevler und habe hart dafür büßen müssen. Danach fuhr
der Bartel fort mit feierlicher Baßstimme: Ich habe sinniert in die vergangne Zeit
zurück und hinüber und herüber. Und da habe ich solches bedacht. Das Eisen
kommt aus der Erde; Gras und Kraut, Getreide und Wein wächst aus der Erde
hervor, und auch die Disteln, Kletten, Birken und Ahorne wachsen aus der Erde
hervor. Und alles hat seine Bestimmung. Und wer solcher Bestimmung zuwider
ist, der frevelt. Ich bin ein Büttner und soll das schneidige Eisen in meinem
Handwerk spielen lassen, aber nicht zum Baumschinden. Und du sollst es brauche»
zum Griffelspitzen und Brotschneiden, aber nicht zum Frevel an Gottes Schöpfung.
Und nun wirf dein Sündenmesser ins Wasser, wie ich meine Snndenbnrte hinein¬
geworfen habe.


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[0386] Thüringer Märchen Der Alfcmz lag mit seinem Gesicht neben der Distelmutter. Sie und alle ihre Kinder, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter und Enkel ringsherum gafften den toten Buben an und wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Denn einen hüpfenden und springenden Ahorn, der einen Buben totschlägt, hatten sie alle noch nicht ge¬ sehen, viel weniger, daß aus einem Ahorn ein Mensch geworden wäre. Die Distelmutter sah das blitzende Messer in des toten Buben Hand, die den Messergriff so fest umklammerte, als wäre sie selbst von Eisen. Aha! sagte die Distelmutter, das ist der Distclschinder! Mit dem blitzenden Ding da hat er im vorigen Sommer meinen Kindern die Köpfe weggeschnippt. Und sie merkte, daß in der Brust des Buben noch Atem war, und streckte eine Hand ein wenig aus und tippte mit einem Finger dem Alfcmz an die Nasenspitze. Die Distelfinger haben aber, wie alle Welt weiß, statt der Fingernagel verwünscht spitzige Stacheln. Und von der Berührung des Distelfingers entstand um der Nasenspitze des Alfcmz ein Blutströpflein, klein wie eine Stecknadelkuppe, und durch sein Gesicht ging ein kleiner Schmerzensriß. Und wieder tippte die Distelmutter mit ihrem Finger an die Nase, ein klein wenig weiter oben, daß das Gesicht wieder zuckte und über dem Blutstrvpflein an der Nasenspitze ein zweites hervorkam, und dann zauberte sie noch ein drittes hervor. Grinsend schaute sie ringsherum im Kreise ihrer Lieben und zeigte auf die drei Blutstrvpflein an der Nase und winkte und grinste immer lustiger. Nun ging es dem Alfcmz schlecht. Die ganze Distelsippschaft begann ihn zu stechen, ins Gesicht, in die Hciude, durch die Hosen hindurch und in die nackten Füße. Mit jämmerlichem Geschrei sprang da der Alfcmz auf. Er war nicht wirklich tot. Und nach dem Spruch und Recht der Hexe Akris wäre da in dem ganzen Zauber eigentlich ein Versehen vorgekommen. Denn danach hätte der Bartel-Ahorn doch erst dann in einen Menschen verwandelt werden können, wenn der Ahornanzapfer richtig und ganz tot geblieben wäre. Wie mans nehmen will. Denn hinter allem Zauber und Bösen steht in Ewigkeit die Gnade. So wird es nicht ein Versehen, sonder» Gnade gewesen sein. — Alfcmz floh und schrie jämmerlich. Als der nachdenkliche Bartel das Geschrei hörte, stand er auf und stellte sich dem daherkommenden Alfcmz in den Weg. Steh, Bube! Bist du nicht tot? sprach der Bartel mit tiefer Baßstimme. Warum schreist du so? Der Alfcmz blieb stehn. Er hatte immer noch sein Messer in der Hand und starrte den Bartel an und hörte auf zu schreien. In weinerlichen Tone antwortete er dann: Die bösen Disteln haben mich blutig gestochen. Dem Bartel fiel da das Ahornanzapfen ein, und er sprach: Und du hast mit deinem Messer da den Ahorn angestochen! Weißt du das uoch? Dafür hast du deine Strafe vom Ahorn be¬ kommen. Hast du vielleicht auch den Disteln einmal weh gethan? Der Alfcmz riß die Augen weit ans und glotzte de» Bartel an. Dann nickte er. — Da hast dus! Ich war auch ein Frevler und habe hart dafür büßen müssen. Danach fuhr der Bartel fort mit feierlicher Baßstimme: Ich habe sinniert in die vergangne Zeit zurück und hinüber und herüber. Und da habe ich solches bedacht. Das Eisen kommt aus der Erde; Gras und Kraut, Getreide und Wein wächst aus der Erde hervor, und auch die Disteln, Kletten, Birken und Ahorne wachsen aus der Erde hervor. Und alles hat seine Bestimmung. Und wer solcher Bestimmung zuwider ist, der frevelt. Ich bin ein Büttner und soll das schneidige Eisen in meinem Handwerk spielen lassen, aber nicht zum Baumschinden. Und du sollst es brauche» zum Griffelspitzen und Brotschneiden, aber nicht zum Frevel an Gottes Schöpfung. Und nun wirf dein Sündenmesser ins Wasser, wie ich meine Snndenbnrte hinein¬ geworfen habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/386>, abgerufen am 15.01.2025.