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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

Und das ist auch kein lustiges Tanzliedchen und ist es nie gewesen, sondern ein
Kinderschrecken. Denn der Lonze, von dem hier die Rede ist, ist ein gefürchteter
Geist im Schwabenlande zwischen Mvhrmgen und Tnttlingen und ist bei Leb¬
zeiten ein Schatzgräbermeister gewesen. Derselbe Unhold ist aber auch in der Schweiz
bekannt, wo für kindliche Obstdiebe ein Drohsprnch gilt, der so lautet: ")

Doch mag der Vösewicht da zu Lande schon einen Teil seines Schreckens abgelegt
haben, denn man hat ihn ins Kinderspiel gezogen. Wo anderswo der einen Kreis
uniwandelnde Knabe warnt:

da singt er dort: 2)

Ganz ähnlich im Elsaß:")

Abgesehen von diesem letzten Elsässer Text, der erkennbar mehr an den Spiel¬
verlauf angepaßt worden ist, sind wir da Plötzlich in einer ganz andern Welt als
der von Lott, Julchen und Hannchen und in einer andern Zeit als ums Jahr 1860.
Es ist das Reich des Aberglaubens, wohin der in diesem Falle menschenfeindliche,
langfüßige Kobold gehört, mit seinen Zaubersprnchen, seiner Kunst zu bannen,
d. h. fest, unbeweglich fest zu machen, was ihm entflieh" möchte, mit seinem sonder¬
baren oder geheimnisvollen siebenjährigen Aufenthalt im Himmel. Daß dies Fabel¬
wesen in unserm Verschen älteres Heimatrecht hat als die tote Lotte, das bedarf
keines Beweises. Nur könnte man wünschen, auch aus Norddeutschland ein Zeugnis
für diesen frühern Zustand des Reims zu sehen, am liebsten natürlich das ganze
Ding, so ähnlich wie in Schwaben, Schweiz und Elsaß. Das freilich kann ich
nicht beibringe", Wohl aber spüre" davon, und nach dem, was dazu gehört, sichere
Spuren. In einem Städtchen der Halbinsel Wagrieu, dem Nachbarlande des
Herzogtums Holstein, weiß man^) folgendes zu erzählen.

Es soll da in alten Zeiten "en Unnereerdsche," d. h. eine aus dem Völkchen
unsrer Heinzelmännchen, also auch ein Kobold, aber ein gütiger, jahraus jahrein
ihre Milch in einem abgelegnen Hause geholt habe". Da sei eines Abends, als
sie eben wieder einmal mit ihrer Kanne abziehen wollte, eine andre Kleine außer
Atem angelaufen gekommen mit den, an unser "Lott ist tot, Lott ist tot" an¬
klingenden Rufe:


Eises is doel, Eises is doel.




') Rochholz 852.
"
) Bei Rochholz, wenn ich nicht irre.
"
) Firmenich II, Z43.
Müllenhosf, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und
Lnucnburg. Kiel, 1842. S. 291, Ur. 398.
Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

Und das ist auch kein lustiges Tanzliedchen und ist es nie gewesen, sondern ein
Kinderschrecken. Denn der Lonze, von dem hier die Rede ist, ist ein gefürchteter
Geist im Schwabenlande zwischen Mvhrmgen und Tnttlingen und ist bei Leb¬
zeiten ein Schatzgräbermeister gewesen. Derselbe Unhold ist aber auch in der Schweiz
bekannt, wo für kindliche Obstdiebe ein Drohsprnch gilt, der so lautet: ")

Doch mag der Vösewicht da zu Lande schon einen Teil seines Schreckens abgelegt
haben, denn man hat ihn ins Kinderspiel gezogen. Wo anderswo der einen Kreis
uniwandelnde Knabe warnt:

da singt er dort: 2)

Ganz ähnlich im Elsaß:")

Abgesehen von diesem letzten Elsässer Text, der erkennbar mehr an den Spiel¬
verlauf angepaßt worden ist, sind wir da Plötzlich in einer ganz andern Welt als
der von Lott, Julchen und Hannchen und in einer andern Zeit als ums Jahr 1860.
Es ist das Reich des Aberglaubens, wohin der in diesem Falle menschenfeindliche,
langfüßige Kobold gehört, mit seinen Zaubersprnchen, seiner Kunst zu bannen,
d. h. fest, unbeweglich fest zu machen, was ihm entflieh» möchte, mit seinem sonder¬
baren oder geheimnisvollen siebenjährigen Aufenthalt im Himmel. Daß dies Fabel¬
wesen in unserm Verschen älteres Heimatrecht hat als die tote Lotte, das bedarf
keines Beweises. Nur könnte man wünschen, auch aus Norddeutschland ein Zeugnis
für diesen frühern Zustand des Reims zu sehen, am liebsten natürlich das ganze
Ding, so ähnlich wie in Schwaben, Schweiz und Elsaß. Das freilich kann ich
nicht beibringe«, Wohl aber spüre» davon, und nach dem, was dazu gehört, sichere
Spuren. In einem Städtchen der Halbinsel Wagrieu, dem Nachbarlande des
Herzogtums Holstein, weiß man^) folgendes zu erzählen.

Es soll da in alten Zeiten „en Unnereerdsche," d. h. eine aus dem Völkchen
unsrer Heinzelmännchen, also auch ein Kobold, aber ein gütiger, jahraus jahrein
ihre Milch in einem abgelegnen Hause geholt habe». Da sei eines Abends, als
sie eben wieder einmal mit ihrer Kanne abziehen wollte, eine andre Kleine außer
Atem angelaufen gekommen mit den, an unser „Lott ist tot, Lott ist tot" an¬
klingenden Rufe:


Eises is doel, Eises is doel.




') Rochholz 852.
"
) Bei Rochholz, wenn ich nicht irre.
"
) Firmenich II, Z43.
Müllenhosf, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und
Lnucnburg. Kiel, 1842. S. 291, Ur. 398.
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[0373] Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele Und das ist auch kein lustiges Tanzliedchen und ist es nie gewesen, sondern ein Kinderschrecken. Denn der Lonze, von dem hier die Rede ist, ist ein gefürchteter Geist im Schwabenlande zwischen Mvhrmgen und Tnttlingen und ist bei Leb¬ zeiten ein Schatzgräbermeister gewesen. Derselbe Unhold ist aber auch in der Schweiz bekannt, wo für kindliche Obstdiebe ein Drohsprnch gilt, der so lautet: ") Doch mag der Vösewicht da zu Lande schon einen Teil seines Schreckens abgelegt haben, denn man hat ihn ins Kinderspiel gezogen. Wo anderswo der einen Kreis uniwandelnde Knabe warnt: da singt er dort: 2) Ganz ähnlich im Elsaß:") Abgesehen von diesem letzten Elsässer Text, der erkennbar mehr an den Spiel¬ verlauf angepaßt worden ist, sind wir da Plötzlich in einer ganz andern Welt als der von Lott, Julchen und Hannchen und in einer andern Zeit als ums Jahr 1860. Es ist das Reich des Aberglaubens, wohin der in diesem Falle menschenfeindliche, langfüßige Kobold gehört, mit seinen Zaubersprnchen, seiner Kunst zu bannen, d. h. fest, unbeweglich fest zu machen, was ihm entflieh» möchte, mit seinem sonder¬ baren oder geheimnisvollen siebenjährigen Aufenthalt im Himmel. Daß dies Fabel¬ wesen in unserm Verschen älteres Heimatrecht hat als die tote Lotte, das bedarf keines Beweises. Nur könnte man wünschen, auch aus Norddeutschland ein Zeugnis für diesen frühern Zustand des Reims zu sehen, am liebsten natürlich das ganze Ding, so ähnlich wie in Schwaben, Schweiz und Elsaß. Das freilich kann ich nicht beibringe«, Wohl aber spüre» davon, und nach dem, was dazu gehört, sichere Spuren. In einem Städtchen der Halbinsel Wagrieu, dem Nachbarlande des Herzogtums Holstein, weiß man^) folgendes zu erzählen. Es soll da in alten Zeiten „en Unnereerdsche," d. h. eine aus dem Völkchen unsrer Heinzelmännchen, also auch ein Kobold, aber ein gütiger, jahraus jahrein ihre Milch in einem abgelegnen Hause geholt habe». Da sei eines Abends, als sie eben wieder einmal mit ihrer Kanne abziehen wollte, eine andre Kleine außer Atem angelaufen gekommen mit den, an unser „Lott ist tot, Lott ist tot" an¬ klingenden Rufe: Eises is doel, Eises is doel. ') Rochholz 852. " ) Bei Rochholz, wenn ich nicht irre. " ) Firmenich II, Z43. Müllenhosf, Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lnucnburg. Kiel, 1842. S. 291, Ur. 398.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/373>, abgerufen am 15.01.2025.