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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

grünt des Simplizissimus bilden. Handgreiflich ist die Erinnerung daran in dem
weitverbreiteten Kindergebete: ^)

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Was du ererbt von deinen Vätern hast . . .

Ja, ich möchte auch ein
Scherflein beisteuern zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstage; hier ist es. Es
besteht nur in einem bescheidnen Vorschlage: Wollen wir uns nicht eine falsche Be¬
tonung wieder abgewöhnen, die uns so geläufig ist, daß sie keinem Menschen mehr
auffällt? Eben deshalb, so könnte man einwenden, mögen wir sie ruhig beibe¬
halten. Gewiß, es geht auch so. Aber da wir doch eine ausgebildete Goethe-
Philologie haben, die jeden Buchstaben und jedes Komma auf seine Berechtigung
untersucht, so wird es wohl auch erlaubt sein müssen, auf einen falschen Ton auf¬
merksam zu machen, der uns zur Gewohnheit geworden ist. Lebendig wird uns
des Dichters Wort ja doch nur, wenn es uns ins Ohr klingt. Aber wo immer
sein Lebenswerk, der Faust, lebendig gemacht, das heißt vorgetragen oder dargestellt
wird, da wird an einer Stelle des Dichters Meinung ins Gegenteil verkehrt, ohne
daß es jemand ausfiele. Ist das auch gerade kein nationales Unglück, so ist es
doch immerhin ein bemerkenswertes Kuriosum.


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

Welcher Gebildete hätte nicht über dieses Thema einst goldne Worte moralischer
Lebensweisheit geschrieben, die uns ja nie im Leben wieder so reichlich quillt, wie
auf den Schulbänken der Prima. Daran mußte ich denken, als ich kürzlich "Der
Vater Erbe" von Richard Voß las, wo ein alter Bauer das Zitat zu hören be¬
kommt und es beifällig also kommentiert: "Das will sagen: was einer vom Vater
übernommen und bekommen hat, soll er sich durch eigne Thätigkeit erst verdienen.
Erst dann gehvrts ihm wirklich nud ganz, und erst dann kann er seines Erbes von
Herzen froh werden." Ungefähr in dem Sinne haben wir das Thema denn auch
behandelt; wenigstens, wenn wirs wesentlich anders machten, wird der Lehrer des
Deutschen ungenügend unter unsern Aufsatz geschrieben haben. Darüber kann ja
auch kein Zweifel sein, daß die Moral, wie sie der alte Bauer entwickelt, schätzens¬
wert und für den ordnungsliebenden Staatsbürger durchaus zu empfehlen ist.
Fraglich will mirs scheinen, ob Faust, der gestürzte Titan, in dem eben der Selbst¬
mordgedanke reift, gerade in der geeignete" Verfassung ist, moralische Grundsätze
für ordnungsliebende Staatsbürger zu entwickeln. Man sehe sich, bitte, daraufhin



Meier Ur. 54. Simrock Ur. 114. Wegener 724. Kehrein S. 86, 33.
Grenzboten III 1899 42
Maßgebliches und Unmaßgebliches

grünt des Simplizissimus bilden. Handgreiflich ist die Erinnerung daran in dem
weitverbreiteten Kindergebete: ^)

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Was du ererbt von deinen Vätern hast . . .

Ja, ich möchte auch ein
Scherflein beisteuern zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstage; hier ist es. Es
besteht nur in einem bescheidnen Vorschlage: Wollen wir uns nicht eine falsche Be¬
tonung wieder abgewöhnen, die uns so geläufig ist, daß sie keinem Menschen mehr
auffällt? Eben deshalb, so könnte man einwenden, mögen wir sie ruhig beibe¬
halten. Gewiß, es geht auch so. Aber da wir doch eine ausgebildete Goethe-
Philologie haben, die jeden Buchstaben und jedes Komma auf seine Berechtigung
untersucht, so wird es wohl auch erlaubt sein müssen, auf einen falschen Ton auf¬
merksam zu machen, der uns zur Gewohnheit geworden ist. Lebendig wird uns
des Dichters Wort ja doch nur, wenn es uns ins Ohr klingt. Aber wo immer
sein Lebenswerk, der Faust, lebendig gemacht, das heißt vorgetragen oder dargestellt
wird, da wird an einer Stelle des Dichters Meinung ins Gegenteil verkehrt, ohne
daß es jemand ausfiele. Ist das auch gerade kein nationales Unglück, so ist es
doch immerhin ein bemerkenswertes Kuriosum.


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.

Welcher Gebildete hätte nicht über dieses Thema einst goldne Worte moralischer
Lebensweisheit geschrieben, die uns ja nie im Leben wieder so reichlich quillt, wie
auf den Schulbänken der Prima. Daran mußte ich denken, als ich kürzlich „Der
Vater Erbe" von Richard Voß las, wo ein alter Bauer das Zitat zu hören be¬
kommt und es beifällig also kommentiert: „Das will sagen: was einer vom Vater
übernommen und bekommen hat, soll er sich durch eigne Thätigkeit erst verdienen.
Erst dann gehvrts ihm wirklich nud ganz, und erst dann kann er seines Erbes von
Herzen froh werden." Ungefähr in dem Sinne haben wir das Thema denn auch
behandelt; wenigstens, wenn wirs wesentlich anders machten, wird der Lehrer des
Deutschen ungenügend unter unsern Aufsatz geschrieben haben. Darüber kann ja
auch kein Zweifel sein, daß die Moral, wie sie der alte Bauer entwickelt, schätzens¬
wert und für den ordnungsliebenden Staatsbürger durchaus zu empfehlen ist.
Fraglich will mirs scheinen, ob Faust, der gestürzte Titan, in dem eben der Selbst¬
mordgedanke reift, gerade in der geeignete» Verfassung ist, moralische Grundsätze
für ordnungsliebende Staatsbürger zu entwickeln. Man sehe sich, bitte, daraufhin



Meier Ur. 54. Simrock Ur. 114. Wegener 724. Kehrein S. 86, 33.
Grenzboten III 1899 42
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[0337] Maßgebliches und Unmaßgebliches grünt des Simplizissimus bilden. Handgreiflich ist die Erinnerung daran in dem weitverbreiteten Kindergebete: ^) (Schluß folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Was du ererbt von deinen Vätern hast . . . Ja, ich möchte auch ein Scherflein beisteuern zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstage; hier ist es. Es besteht nur in einem bescheidnen Vorschlage: Wollen wir uns nicht eine falsche Be¬ tonung wieder abgewöhnen, die uns so geläufig ist, daß sie keinem Menschen mehr auffällt? Eben deshalb, so könnte man einwenden, mögen wir sie ruhig beibe¬ halten. Gewiß, es geht auch so. Aber da wir doch eine ausgebildete Goethe- Philologie haben, die jeden Buchstaben und jedes Komma auf seine Berechtigung untersucht, so wird es wohl auch erlaubt sein müssen, auf einen falschen Ton auf¬ merksam zu machen, der uns zur Gewohnheit geworden ist. Lebendig wird uns des Dichters Wort ja doch nur, wenn es uns ins Ohr klingt. Aber wo immer sein Lebenswerk, der Faust, lebendig gemacht, das heißt vorgetragen oder dargestellt wird, da wird an einer Stelle des Dichters Meinung ins Gegenteil verkehrt, ohne daß es jemand ausfiele. Ist das auch gerade kein nationales Unglück, so ist es doch immerhin ein bemerkenswertes Kuriosum. Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen. Welcher Gebildete hätte nicht über dieses Thema einst goldne Worte moralischer Lebensweisheit geschrieben, die uns ja nie im Leben wieder so reichlich quillt, wie auf den Schulbänken der Prima. Daran mußte ich denken, als ich kürzlich „Der Vater Erbe" von Richard Voß las, wo ein alter Bauer das Zitat zu hören be¬ kommt und es beifällig also kommentiert: „Das will sagen: was einer vom Vater übernommen und bekommen hat, soll er sich durch eigne Thätigkeit erst verdienen. Erst dann gehvrts ihm wirklich nud ganz, und erst dann kann er seines Erbes von Herzen froh werden." Ungefähr in dem Sinne haben wir das Thema denn auch behandelt; wenigstens, wenn wirs wesentlich anders machten, wird der Lehrer des Deutschen ungenügend unter unsern Aufsatz geschrieben haben. Darüber kann ja auch kein Zweifel sein, daß die Moral, wie sie der alte Bauer entwickelt, schätzens¬ wert und für den ordnungsliebenden Staatsbürger durchaus zu empfehlen ist. Fraglich will mirs scheinen, ob Faust, der gestürzte Titan, in dem eben der Selbst¬ mordgedanke reift, gerade in der geeignete» Verfassung ist, moralische Grundsätze für ordnungsliebende Staatsbürger zu entwickeln. Man sehe sich, bitte, daraufhin Meier Ur. 54. Simrock Ur. 114. Wegener 724. Kehrein S. 86, 33. Grenzboten III 1899 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/337>, abgerufen am 15.01.2025.