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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Brauchen wir fremdes Brotkorn?

Jedenfalls hat er Recht, wenn er die 171 Kilogramm als Bedarf auf den Kopf
als eine ganz willkürliche Annahme bezeichnet. Die ganze Verechnnng des
Landwirtschaftsrats beruht auf den von vier verschiednen Privatpersonen nach
eigner, unkontrollierbarer Methode zu verschiednen Zeiten gemachten Notizen
über den Brot- und Mehlverbrauch in nur 22 Familien verschiednen Standes
und Wohnsitzes, wie der Zufall es ergab. Der Bedarf schwankt von 100
bis 300 Kilogramm auf den Kopf. Wer eine Spur von statistischen Gewissen
hat und weiß, wie gerade bei solchen "Privatenqueten" nur Massenbeobachtungen
zu einigermaßen verwendbaren Zahlen führen können, erschrickt über die Kühn¬
heit, mit der hier der Statistiker des Landwirtschaftsrats auf nichts einen in
sich selbst sehr geschickt und originell ausgeführten statistischen Kunstbau er¬
richtet hat, der in der verblüffend bestimmten Zahl von 171 Kilogramm auf
den Kopf gipfelt. Wir müssen es uns versagen, das Kunstwerk in seinen un¬
bestreitbaren Schönheiten hier näher darzulegen, obwohl es schlagend beweist,
zu welchem Mißbrauch die statistische BeHandlungsweise solcher Fragen aus¬
zuarten droht.

Über den Bedarf an Getreide zur menschlichen Nahrung macht Conrad
auf Grund seiner jahrzehntelangen Beobachtungen und Studien unter anderm
noch folgende beachtenswerte Mitteilungen. Zu Beginn des Jahrhunderts
habe sich die Bevölkerung in der Tuchter Heide hauptsächlich vou Kohl er¬
nährt, wie auch jetzt noch der russische Bauer; dann ging sie zur Kartoffel¬
nahrung über. Noch in den vierziger Jahren galten Mehl und Brot auf dem
Lande im Osten, besonders in den polnischen Gegenden, für Luxusgegenstände,
die nur ausnahmsweise genossen wurden. In den folgenden Dezennien habe
fortdauernd der Getreidekvnsum auf dem Lande zugenommen und sei mehr und
mehr die Grundlage der Ernährung geworden. Der Gesamtbedarf sei un¬
zweifelhaft gestiegen. In den Städten sei die Entwicklung vielfach anders
gewesen, je nachdem der Fleisch- oder der Kartosfelkonsum mit dem Getreide
in höhere Konkurrenz getreten sei. Er habe ermittelt, daß am Ende des
vorigen Jahrhunderts in Berlin mehr Getreide auf den Kopf verzehrt worden
sei als in der Neuzeit. Bei einem Handwerker habe er in den siebziger Jahren
den Verbrauch auf 185 Kilogramm berechnen können, bei einer Lohndiener¬
familie nur auf 86, bei einem niedern Beamten auf 70, dagegen bei einem
höhern Beamten mit mehreren Dienstboten auf 136 Kilogramm. Durch die
Zunahme der Arbeiterfamilien in den Städten sei aber sicher auch dort der
Getreideverbrauch neuerdings gestiegen, in einer kleinen Residenz werde er ab¬
genommen haben. "Wir würden -- fügt er wörtlich hinzu -- überhaupt
auf jene ganz unhaltbaren Berechnungen nicht eingegangen sein, wenn sie nicht
vom Landwirtschaftsrat ausgegangen wären, und in der agrarischen Presse
daraufhin wiederholt behauptet wäre, es sei bewiesen, daß in Deutschland ein
Bedarf an ausländischem Brodgetreide nicht vorliege."

Für durchaus unrichtig erklärt Conrad auch die Auffassung, daß Roggen


Brauchen wir fremdes Brotkorn?

Jedenfalls hat er Recht, wenn er die 171 Kilogramm als Bedarf auf den Kopf
als eine ganz willkürliche Annahme bezeichnet. Die ganze Verechnnng des
Landwirtschaftsrats beruht auf den von vier verschiednen Privatpersonen nach
eigner, unkontrollierbarer Methode zu verschiednen Zeiten gemachten Notizen
über den Brot- und Mehlverbrauch in nur 22 Familien verschiednen Standes
und Wohnsitzes, wie der Zufall es ergab. Der Bedarf schwankt von 100
bis 300 Kilogramm auf den Kopf. Wer eine Spur von statistischen Gewissen
hat und weiß, wie gerade bei solchen „Privatenqueten" nur Massenbeobachtungen
zu einigermaßen verwendbaren Zahlen führen können, erschrickt über die Kühn¬
heit, mit der hier der Statistiker des Landwirtschaftsrats auf nichts einen in
sich selbst sehr geschickt und originell ausgeführten statistischen Kunstbau er¬
richtet hat, der in der verblüffend bestimmten Zahl von 171 Kilogramm auf
den Kopf gipfelt. Wir müssen es uns versagen, das Kunstwerk in seinen un¬
bestreitbaren Schönheiten hier näher darzulegen, obwohl es schlagend beweist,
zu welchem Mißbrauch die statistische BeHandlungsweise solcher Fragen aus¬
zuarten droht.

Über den Bedarf an Getreide zur menschlichen Nahrung macht Conrad
auf Grund seiner jahrzehntelangen Beobachtungen und Studien unter anderm
noch folgende beachtenswerte Mitteilungen. Zu Beginn des Jahrhunderts
habe sich die Bevölkerung in der Tuchter Heide hauptsächlich vou Kohl er¬
nährt, wie auch jetzt noch der russische Bauer; dann ging sie zur Kartoffel¬
nahrung über. Noch in den vierziger Jahren galten Mehl und Brot auf dem
Lande im Osten, besonders in den polnischen Gegenden, für Luxusgegenstände,
die nur ausnahmsweise genossen wurden. In den folgenden Dezennien habe
fortdauernd der Getreidekvnsum auf dem Lande zugenommen und sei mehr und
mehr die Grundlage der Ernährung geworden. Der Gesamtbedarf sei un¬
zweifelhaft gestiegen. In den Städten sei die Entwicklung vielfach anders
gewesen, je nachdem der Fleisch- oder der Kartosfelkonsum mit dem Getreide
in höhere Konkurrenz getreten sei. Er habe ermittelt, daß am Ende des
vorigen Jahrhunderts in Berlin mehr Getreide auf den Kopf verzehrt worden
sei als in der Neuzeit. Bei einem Handwerker habe er in den siebziger Jahren
den Verbrauch auf 185 Kilogramm berechnen können, bei einer Lohndiener¬
familie nur auf 86, bei einem niedern Beamten auf 70, dagegen bei einem
höhern Beamten mit mehreren Dienstboten auf 136 Kilogramm. Durch die
Zunahme der Arbeiterfamilien in den Städten sei aber sicher auch dort der
Getreideverbrauch neuerdings gestiegen, in einer kleinen Residenz werde er ab¬
genommen haben. „Wir würden — fügt er wörtlich hinzu — überhaupt
auf jene ganz unhaltbaren Berechnungen nicht eingegangen sein, wenn sie nicht
vom Landwirtschaftsrat ausgegangen wären, und in der agrarischen Presse
daraufhin wiederholt behauptet wäre, es sei bewiesen, daß in Deutschland ein
Bedarf an ausländischem Brodgetreide nicht vorliege."

Für durchaus unrichtig erklärt Conrad auch die Auffassung, daß Roggen


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[0024] Brauchen wir fremdes Brotkorn? Jedenfalls hat er Recht, wenn er die 171 Kilogramm als Bedarf auf den Kopf als eine ganz willkürliche Annahme bezeichnet. Die ganze Verechnnng des Landwirtschaftsrats beruht auf den von vier verschiednen Privatpersonen nach eigner, unkontrollierbarer Methode zu verschiednen Zeiten gemachten Notizen über den Brot- und Mehlverbrauch in nur 22 Familien verschiednen Standes und Wohnsitzes, wie der Zufall es ergab. Der Bedarf schwankt von 100 bis 300 Kilogramm auf den Kopf. Wer eine Spur von statistischen Gewissen hat und weiß, wie gerade bei solchen „Privatenqueten" nur Massenbeobachtungen zu einigermaßen verwendbaren Zahlen führen können, erschrickt über die Kühn¬ heit, mit der hier der Statistiker des Landwirtschaftsrats auf nichts einen in sich selbst sehr geschickt und originell ausgeführten statistischen Kunstbau er¬ richtet hat, der in der verblüffend bestimmten Zahl von 171 Kilogramm auf den Kopf gipfelt. Wir müssen es uns versagen, das Kunstwerk in seinen un¬ bestreitbaren Schönheiten hier näher darzulegen, obwohl es schlagend beweist, zu welchem Mißbrauch die statistische BeHandlungsweise solcher Fragen aus¬ zuarten droht. Über den Bedarf an Getreide zur menschlichen Nahrung macht Conrad auf Grund seiner jahrzehntelangen Beobachtungen und Studien unter anderm noch folgende beachtenswerte Mitteilungen. Zu Beginn des Jahrhunderts habe sich die Bevölkerung in der Tuchter Heide hauptsächlich vou Kohl er¬ nährt, wie auch jetzt noch der russische Bauer; dann ging sie zur Kartoffel¬ nahrung über. Noch in den vierziger Jahren galten Mehl und Brot auf dem Lande im Osten, besonders in den polnischen Gegenden, für Luxusgegenstände, die nur ausnahmsweise genossen wurden. In den folgenden Dezennien habe fortdauernd der Getreidekvnsum auf dem Lande zugenommen und sei mehr und mehr die Grundlage der Ernährung geworden. Der Gesamtbedarf sei un¬ zweifelhaft gestiegen. In den Städten sei die Entwicklung vielfach anders gewesen, je nachdem der Fleisch- oder der Kartosfelkonsum mit dem Getreide in höhere Konkurrenz getreten sei. Er habe ermittelt, daß am Ende des vorigen Jahrhunderts in Berlin mehr Getreide auf den Kopf verzehrt worden sei als in der Neuzeit. Bei einem Handwerker habe er in den siebziger Jahren den Verbrauch auf 185 Kilogramm berechnen können, bei einer Lohndiener¬ familie nur auf 86, bei einem niedern Beamten auf 70, dagegen bei einem höhern Beamten mit mehreren Dienstboten auf 136 Kilogramm. Durch die Zunahme der Arbeiterfamilien in den Städten sei aber sicher auch dort der Getreideverbrauch neuerdings gestiegen, in einer kleinen Residenz werde er ab¬ genommen haben. „Wir würden — fügt er wörtlich hinzu — überhaupt auf jene ganz unhaltbaren Berechnungen nicht eingegangen sein, wenn sie nicht vom Landwirtschaftsrat ausgegangen wären, und in der agrarischen Presse daraufhin wiederholt behauptet wäre, es sei bewiesen, daß in Deutschland ein Bedarf an ausländischem Brodgetreide nicht vorliege." Für durchaus unrichtig erklärt Conrad auch die Auffassung, daß Roggen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/24>, abgerufen am 15.01.2025.