Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die kulturgeschichtliche Stellung der heutigen Griechen

Türken sowohl gegeben als auch von ihnen empfangen haben, und zwar haben
sie den Slawen mehr gegeben, von den Türken mehr empfangen. Dieses
Verhältnis entspricht durchaus der sowohl dem Orient wie dem Occident zu¬
gekehrten Stellung der spätern Griechen: von beiden Seiten ist ihnen neuer
Kulturstosf zugeführt worden, während sie auf der Valkanhalbinsel selbst
überwiegend Geber waren, am stärksten den Albanesen, weniger den Südslawen
und Rumänen gegenüber.

Um die Kulturstcllnng der spätern Griechen ganz klar zu bezeichnen,
können wir sie uns als solche mit drei Fronten vorstellen, einer westlichen
(Italien), einer nördlichen (albanesisches und südslawisches Gebiet) und einer
östlichen (türkisch-kleinasiatisches Gebiet). Die westliche war die schwächste,
insofern sie einem kulturstarken Gegner gegenüberstand und sich daher lediglich
passiv verhielt, sodaß die Linie stark von fremden Elementen durchbrochen
wurde. Die nördliche Linie war am stärksten; sie hat den weitesten Vorstoß
in fremdes Gebiet unternommen und nur wenige Positionen verloren. Die
östliche Linie hält etwa die Mitte zwischen den beiden andern: sie ist stärker
als die westliche, aber schwächer als die nördliche; sie hat starke Niederlagen
erlitten, aber auch einige Siege errungen. -- Im Norden hat also die griechische
Sprache die meisten Eroberungen gemacht, im Osten schon weniger, im Westen
die wenigsten.

Daraus ergiebt sich, was auch der spätern Geschichte und der geogra¬
phischen Lage des Landes entspricht, daß das Griechentum des Mittelalters
seine festeste Fühlung mit dem Norden und Osten hatte, während sie mit dem
Westen nur locker war, wenigstens in aktiver Beziehung. Dagegen war
Griechenland doch zu stark dem occidentalischen Einfluß geöffnet, besonders
seit den Zeiten der Kreuzzüge, als daß man es schlechthin zum Orient rechnen
könnte. Es ist vielmehr wie in der Sprache und dem physischen Habitus so
auch im Temperamente des Volkes eine starke, noch nicht ganz fertig voll¬
zogn? und ausgeglichne Mischung zu bemerken, eine Mischung südlicher Leiden¬
schaft und Lebendigkeit mit orientalischem Phlegma und slawischer Innigkeit.

Die Zukunft muß es lehren, ob es dem griechischen Volke gelingt, die
verschiedenartigen Elemente, die es in sich aufgenommen hat, so zu verarbeiten,
daß es sie zu einer eignen Individualität gestaltet. Sein Mischcharakter steht
ihm dabei durchaus nicht im Wege, noch braucht es sich dessen zu schämen
oder ihn gar zu leugnen, im Gegenteil, er kann ihm nur förderlich sein, wie
das Beispiel der Engländer zeigt, die trotz aller Mischung in Blut und Sprache
das am individuellsten entwickelte und zäheste.Volk von Europa sind. Daß
die Bedingungen dazu --. mutMs muwuäis -- auch in Griechenland gegeben
sind, lehrt das Schicksal der Albanesen, die immer mehr von dem griechischen
Elemente aufgesogen und assimiliert werden. Vielleicht gelingt es Griechen¬
land auch noch, europäische und orientalische Kultur, d. h. die guten Seiten


Die kulturgeschichtliche Stellung der heutigen Griechen

Türken sowohl gegeben als auch von ihnen empfangen haben, und zwar haben
sie den Slawen mehr gegeben, von den Türken mehr empfangen. Dieses
Verhältnis entspricht durchaus der sowohl dem Orient wie dem Occident zu¬
gekehrten Stellung der spätern Griechen: von beiden Seiten ist ihnen neuer
Kulturstosf zugeführt worden, während sie auf der Valkanhalbinsel selbst
überwiegend Geber waren, am stärksten den Albanesen, weniger den Südslawen
und Rumänen gegenüber.

Um die Kulturstcllnng der spätern Griechen ganz klar zu bezeichnen,
können wir sie uns als solche mit drei Fronten vorstellen, einer westlichen
(Italien), einer nördlichen (albanesisches und südslawisches Gebiet) und einer
östlichen (türkisch-kleinasiatisches Gebiet). Die westliche war die schwächste,
insofern sie einem kulturstarken Gegner gegenüberstand und sich daher lediglich
passiv verhielt, sodaß die Linie stark von fremden Elementen durchbrochen
wurde. Die nördliche Linie war am stärksten; sie hat den weitesten Vorstoß
in fremdes Gebiet unternommen und nur wenige Positionen verloren. Die
östliche Linie hält etwa die Mitte zwischen den beiden andern: sie ist stärker
als die westliche, aber schwächer als die nördliche; sie hat starke Niederlagen
erlitten, aber auch einige Siege errungen. — Im Norden hat also die griechische
Sprache die meisten Eroberungen gemacht, im Osten schon weniger, im Westen
die wenigsten.

Daraus ergiebt sich, was auch der spätern Geschichte und der geogra¬
phischen Lage des Landes entspricht, daß das Griechentum des Mittelalters
seine festeste Fühlung mit dem Norden und Osten hatte, während sie mit dem
Westen nur locker war, wenigstens in aktiver Beziehung. Dagegen war
Griechenland doch zu stark dem occidentalischen Einfluß geöffnet, besonders
seit den Zeiten der Kreuzzüge, als daß man es schlechthin zum Orient rechnen
könnte. Es ist vielmehr wie in der Sprache und dem physischen Habitus so
auch im Temperamente des Volkes eine starke, noch nicht ganz fertig voll¬
zogn? und ausgeglichne Mischung zu bemerken, eine Mischung südlicher Leiden¬
schaft und Lebendigkeit mit orientalischem Phlegma und slawischer Innigkeit.

Die Zukunft muß es lehren, ob es dem griechischen Volke gelingt, die
verschiedenartigen Elemente, die es in sich aufgenommen hat, so zu verarbeiten,
daß es sie zu einer eignen Individualität gestaltet. Sein Mischcharakter steht
ihm dabei durchaus nicht im Wege, noch braucht es sich dessen zu schämen
oder ihn gar zu leugnen, im Gegenteil, er kann ihm nur förderlich sein, wie
das Beispiel der Engländer zeigt, die trotz aller Mischung in Blut und Sprache
das am individuellsten entwickelte und zäheste.Volk von Europa sind. Daß
die Bedingungen dazu —. mutMs muwuäis — auch in Griechenland gegeben
sind, lehrt das Schicksal der Albanesen, die immer mehr von dem griechischen
Elemente aufgesogen und assimiliert werden. Vielleicht gelingt es Griechen¬
land auch noch, europäische und orientalische Kultur, d. h. die guten Seiten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0227" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231397"/>
          <fw type="header" place="top"> Die kulturgeschichtliche Stellung der heutigen Griechen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_715" prev="#ID_714"> Türken sowohl gegeben als auch von ihnen empfangen haben, und zwar haben<lb/>
sie den Slawen mehr gegeben, von den Türken mehr empfangen. Dieses<lb/>
Verhältnis entspricht durchaus der sowohl dem Orient wie dem Occident zu¬<lb/>
gekehrten Stellung der spätern Griechen: von beiden Seiten ist ihnen neuer<lb/>
Kulturstosf zugeführt worden, während sie auf der Valkanhalbinsel selbst<lb/>
überwiegend Geber waren, am stärksten den Albanesen, weniger den Südslawen<lb/>
und Rumänen gegenüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_716"> Um die Kulturstcllnng der spätern Griechen ganz klar zu bezeichnen,<lb/>
können wir sie uns als solche mit drei Fronten vorstellen, einer westlichen<lb/>
(Italien), einer nördlichen (albanesisches und südslawisches Gebiet) und einer<lb/>
östlichen (türkisch-kleinasiatisches Gebiet). Die westliche war die schwächste,<lb/>
insofern sie einem kulturstarken Gegner gegenüberstand und sich daher lediglich<lb/>
passiv verhielt, sodaß die Linie stark von fremden Elementen durchbrochen<lb/>
wurde. Die nördliche Linie war am stärksten; sie hat den weitesten Vorstoß<lb/>
in fremdes Gebiet unternommen und nur wenige Positionen verloren. Die<lb/>
östliche Linie hält etwa die Mitte zwischen den beiden andern: sie ist stärker<lb/>
als die westliche, aber schwächer als die nördliche; sie hat starke Niederlagen<lb/>
erlitten, aber auch einige Siege errungen. &#x2014; Im Norden hat also die griechische<lb/>
Sprache die meisten Eroberungen gemacht, im Osten schon weniger, im Westen<lb/>
die wenigsten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_717"> Daraus ergiebt sich, was auch der spätern Geschichte und der geogra¬<lb/>
phischen Lage des Landes entspricht, daß das Griechentum des Mittelalters<lb/>
seine festeste Fühlung mit dem Norden und Osten hatte, während sie mit dem<lb/>
Westen nur locker war, wenigstens in aktiver Beziehung. Dagegen war<lb/>
Griechenland doch zu stark dem occidentalischen Einfluß geöffnet, besonders<lb/>
seit den Zeiten der Kreuzzüge, als daß man es schlechthin zum Orient rechnen<lb/>
könnte. Es ist vielmehr wie in der Sprache und dem physischen Habitus so<lb/>
auch im Temperamente des Volkes eine starke, noch nicht ganz fertig voll¬<lb/>
zogn? und ausgeglichne Mischung zu bemerken, eine Mischung südlicher Leiden¬<lb/>
schaft und Lebendigkeit mit orientalischem Phlegma und slawischer Innigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_718" next="#ID_719"> Die Zukunft muß es lehren, ob es dem griechischen Volke gelingt, die<lb/>
verschiedenartigen Elemente, die es in sich aufgenommen hat, so zu verarbeiten,<lb/>
daß es sie zu einer eignen Individualität gestaltet. Sein Mischcharakter steht<lb/>
ihm dabei durchaus nicht im Wege, noch braucht es sich dessen zu schämen<lb/>
oder ihn gar zu leugnen, im Gegenteil, er kann ihm nur förderlich sein, wie<lb/>
das Beispiel der Engländer zeigt, die trotz aller Mischung in Blut und Sprache<lb/>
das am individuellsten entwickelte und zäheste.Volk von Europa sind. Daß<lb/>
die Bedingungen dazu &#x2014;. mutMs muwuäis &#x2014; auch in Griechenland gegeben<lb/>
sind, lehrt das Schicksal der Albanesen, die immer mehr von dem griechischen<lb/>
Elemente aufgesogen und assimiliert werden. Vielleicht gelingt es Griechen¬<lb/>
land auch noch, europäische und orientalische Kultur, d. h. die guten Seiten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0227] Die kulturgeschichtliche Stellung der heutigen Griechen Türken sowohl gegeben als auch von ihnen empfangen haben, und zwar haben sie den Slawen mehr gegeben, von den Türken mehr empfangen. Dieses Verhältnis entspricht durchaus der sowohl dem Orient wie dem Occident zu¬ gekehrten Stellung der spätern Griechen: von beiden Seiten ist ihnen neuer Kulturstosf zugeführt worden, während sie auf der Valkanhalbinsel selbst überwiegend Geber waren, am stärksten den Albanesen, weniger den Südslawen und Rumänen gegenüber. Um die Kulturstcllnng der spätern Griechen ganz klar zu bezeichnen, können wir sie uns als solche mit drei Fronten vorstellen, einer westlichen (Italien), einer nördlichen (albanesisches und südslawisches Gebiet) und einer östlichen (türkisch-kleinasiatisches Gebiet). Die westliche war die schwächste, insofern sie einem kulturstarken Gegner gegenüberstand und sich daher lediglich passiv verhielt, sodaß die Linie stark von fremden Elementen durchbrochen wurde. Die nördliche Linie war am stärksten; sie hat den weitesten Vorstoß in fremdes Gebiet unternommen und nur wenige Positionen verloren. Die östliche Linie hält etwa die Mitte zwischen den beiden andern: sie ist stärker als die westliche, aber schwächer als die nördliche; sie hat starke Niederlagen erlitten, aber auch einige Siege errungen. — Im Norden hat also die griechische Sprache die meisten Eroberungen gemacht, im Osten schon weniger, im Westen die wenigsten. Daraus ergiebt sich, was auch der spätern Geschichte und der geogra¬ phischen Lage des Landes entspricht, daß das Griechentum des Mittelalters seine festeste Fühlung mit dem Norden und Osten hatte, während sie mit dem Westen nur locker war, wenigstens in aktiver Beziehung. Dagegen war Griechenland doch zu stark dem occidentalischen Einfluß geöffnet, besonders seit den Zeiten der Kreuzzüge, als daß man es schlechthin zum Orient rechnen könnte. Es ist vielmehr wie in der Sprache und dem physischen Habitus so auch im Temperamente des Volkes eine starke, noch nicht ganz fertig voll¬ zogn? und ausgeglichne Mischung zu bemerken, eine Mischung südlicher Leiden¬ schaft und Lebendigkeit mit orientalischem Phlegma und slawischer Innigkeit. Die Zukunft muß es lehren, ob es dem griechischen Volke gelingt, die verschiedenartigen Elemente, die es in sich aufgenommen hat, so zu verarbeiten, daß es sie zu einer eignen Individualität gestaltet. Sein Mischcharakter steht ihm dabei durchaus nicht im Wege, noch braucht es sich dessen zu schämen oder ihn gar zu leugnen, im Gegenteil, er kann ihm nur förderlich sein, wie das Beispiel der Engländer zeigt, die trotz aller Mischung in Blut und Sprache das am individuellsten entwickelte und zäheste.Volk von Europa sind. Daß die Bedingungen dazu —. mutMs muwuäis — auch in Griechenland gegeben sind, lehrt das Schicksal der Albanesen, die immer mehr von dem griechischen Elemente aufgesogen und assimiliert werden. Vielleicht gelingt es Griechen¬ land auch noch, europäische und orientalische Kultur, d. h. die guten Seiten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/227
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/227>, abgerufen am 15.01.2025.