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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

schaft auch in der praktischen Sozialpolitik in Anspruch nehmen möchte, wo
doch Doktrinarismus und Einseitigkeit von der verantwortlichen Stelle aus
entschieden zurückgewiesen werden müssen. Vor allem aber ist dem entgegen
zu treten, daß solche Kathederpolitiker ihr Streben nach Herrschaft, wo ihnen
die Staatsgewalt nicht nachgiebt, in agitatorischer Einwirkung auf die Massen
oder doch in der Form einer politischen Fronde zu verwirklichen suchen.

Was die Stellung der heutigen Staatswissenschaft zu der gegen die so¬
genannte Zuchthausvorlage inszenierten Entrüstungskomödie betrifft, so liegt
ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der die Katheder beherrschenden sozia¬
listischen Doktrin und dem Vorgang im Reichstage auf der Hand. Es giebt
sicher Professoren und Doktoren der Staatswissenschaft, die ihre helle Freude
an der Komödie haben und sich ihrer vielleicht als einer Frucht des Katheder¬
sozialismus rühmen, wenn sie nicht etwa gar als Regisseure und Souffleure
unmittelbar daran teilgenommen haben. Aber trotzdem ist durch die deutsche
Staatswissenschaft die Ablehnung der Vorlage in Wahrheit nicht nur nicht
gerechtfertigt, sondern vielmehr als eine sachlich ganz unbegründete, man
möchte fast sagen, launenhaft vom Zaune gebrochne Demonstration gekenn¬
zeichnet worden.

Zunächst sei daran erinnert, daß sich ein so arbeiterfreundlicher Katheder¬
sozialist wie Professor Schönberg noch 1898 in seiner Volkswirtschaftslehre
(Handbuch der politischen Ökonomie. Vierte Auflage, zweiter Band, zweiter
Halbhart) über die notwendige Einschränkung der Koalitions- und Streikfrei¬
heit genau auf den Boden gestellt hat, aus dem die verbündeten Regierungen
in der Vorlage von 1899 stehn. Er sagt darüber unter anderm wörtlich:

Aber die an sich berechtigte Freiheit darf nicht so weit gehn, daß Arbeiter,
welche streiken wollen oder streiken, auf andre einen Zwang (durch Drohung, Ehr-
verletzuug, Verrufserklärung, Mißhandlung usw.) ausüben dürfen, gleichfalls die
Arbeit einzustellen oder nicht bei den betreffenden Unternehmern in Arbeit zu treten.
Dies ist als widerrechtliche Freiheitsbeschränkung Dritter zu bestrafen. Diese Grenze
hat zwar die Gesetzgebung aller Staaten gezogen, aber nirgends in genügender
Weise. Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit zeigen, daß es in dieser
Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Vergewaltigung sehlt,
welche von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter, die sich einem
Streik nicht anschließen oder nach ausgebrochnem Streik die Arbeit wieder auf¬
nehmen wollen, ausgeübt wird.

Eine weitere Einschränkung des Koalitionsrechts und des Streikrechts
hält er aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Füllen für gerecht¬
fertigt, wenn durch allgemeine Arbeitseinstellungen die Befriedigung unab¬
weisbarer und unaufschiebbarer Bedürfnisse verhindert oder "in gemeingefähr¬
licher Weise" erschwert wird. Es handle sich dabei "namentlich um Arbeiter an
Transportunternehmungen, in Gas- und Wasserwerken, in manchen Nahrungs¬
mittelgewerben, unter Umständen auch in Kohlenbergwerken usw." Dieses


Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

schaft auch in der praktischen Sozialpolitik in Anspruch nehmen möchte, wo
doch Doktrinarismus und Einseitigkeit von der verantwortlichen Stelle aus
entschieden zurückgewiesen werden müssen. Vor allem aber ist dem entgegen
zu treten, daß solche Kathederpolitiker ihr Streben nach Herrschaft, wo ihnen
die Staatsgewalt nicht nachgiebt, in agitatorischer Einwirkung auf die Massen
oder doch in der Form einer politischen Fronde zu verwirklichen suchen.

Was die Stellung der heutigen Staatswissenschaft zu der gegen die so¬
genannte Zuchthausvorlage inszenierten Entrüstungskomödie betrifft, so liegt
ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der die Katheder beherrschenden sozia¬
listischen Doktrin und dem Vorgang im Reichstage auf der Hand. Es giebt
sicher Professoren und Doktoren der Staatswissenschaft, die ihre helle Freude
an der Komödie haben und sich ihrer vielleicht als einer Frucht des Katheder¬
sozialismus rühmen, wenn sie nicht etwa gar als Regisseure und Souffleure
unmittelbar daran teilgenommen haben. Aber trotzdem ist durch die deutsche
Staatswissenschaft die Ablehnung der Vorlage in Wahrheit nicht nur nicht
gerechtfertigt, sondern vielmehr als eine sachlich ganz unbegründete, man
möchte fast sagen, launenhaft vom Zaune gebrochne Demonstration gekenn¬
zeichnet worden.

Zunächst sei daran erinnert, daß sich ein so arbeiterfreundlicher Katheder¬
sozialist wie Professor Schönberg noch 1898 in seiner Volkswirtschaftslehre
(Handbuch der politischen Ökonomie. Vierte Auflage, zweiter Band, zweiter
Halbhart) über die notwendige Einschränkung der Koalitions- und Streikfrei¬
heit genau auf den Boden gestellt hat, aus dem die verbündeten Regierungen
in der Vorlage von 1899 stehn. Er sagt darüber unter anderm wörtlich:

Aber die an sich berechtigte Freiheit darf nicht so weit gehn, daß Arbeiter,
welche streiken wollen oder streiken, auf andre einen Zwang (durch Drohung, Ehr-
verletzuug, Verrufserklärung, Mißhandlung usw.) ausüben dürfen, gleichfalls die
Arbeit einzustellen oder nicht bei den betreffenden Unternehmern in Arbeit zu treten.
Dies ist als widerrechtliche Freiheitsbeschränkung Dritter zu bestrafen. Diese Grenze
hat zwar die Gesetzgebung aller Staaten gezogen, aber nirgends in genügender
Weise. Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit zeigen, daß es in dieser
Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Vergewaltigung sehlt,
welche von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter, die sich einem
Streik nicht anschließen oder nach ausgebrochnem Streik die Arbeit wieder auf¬
nehmen wollen, ausgeübt wird.

Eine weitere Einschränkung des Koalitionsrechts und des Streikrechts
hält er aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Füllen für gerecht¬
fertigt, wenn durch allgemeine Arbeitseinstellungen die Befriedigung unab¬
weisbarer und unaufschiebbarer Bedürfnisse verhindert oder „in gemeingefähr¬
licher Weise" erschwert wird. Es handle sich dabei „namentlich um Arbeiter an
Transportunternehmungen, in Gas- und Wasserwerken, in manchen Nahrungs¬
mittelgewerben, unter Umständen auch in Kohlenbergwerken usw." Dieses


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[0208] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage schaft auch in der praktischen Sozialpolitik in Anspruch nehmen möchte, wo doch Doktrinarismus und Einseitigkeit von der verantwortlichen Stelle aus entschieden zurückgewiesen werden müssen. Vor allem aber ist dem entgegen zu treten, daß solche Kathederpolitiker ihr Streben nach Herrschaft, wo ihnen die Staatsgewalt nicht nachgiebt, in agitatorischer Einwirkung auf die Massen oder doch in der Form einer politischen Fronde zu verwirklichen suchen. Was die Stellung der heutigen Staatswissenschaft zu der gegen die so¬ genannte Zuchthausvorlage inszenierten Entrüstungskomödie betrifft, so liegt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der die Katheder beherrschenden sozia¬ listischen Doktrin und dem Vorgang im Reichstage auf der Hand. Es giebt sicher Professoren und Doktoren der Staatswissenschaft, die ihre helle Freude an der Komödie haben und sich ihrer vielleicht als einer Frucht des Katheder¬ sozialismus rühmen, wenn sie nicht etwa gar als Regisseure und Souffleure unmittelbar daran teilgenommen haben. Aber trotzdem ist durch die deutsche Staatswissenschaft die Ablehnung der Vorlage in Wahrheit nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern vielmehr als eine sachlich ganz unbegründete, man möchte fast sagen, launenhaft vom Zaune gebrochne Demonstration gekenn¬ zeichnet worden. Zunächst sei daran erinnert, daß sich ein so arbeiterfreundlicher Katheder¬ sozialist wie Professor Schönberg noch 1898 in seiner Volkswirtschaftslehre (Handbuch der politischen Ökonomie. Vierte Auflage, zweiter Band, zweiter Halbhart) über die notwendige Einschränkung der Koalitions- und Streikfrei¬ heit genau auf den Boden gestellt hat, aus dem die verbündeten Regierungen in der Vorlage von 1899 stehn. Er sagt darüber unter anderm wörtlich: Aber die an sich berechtigte Freiheit darf nicht so weit gehn, daß Arbeiter, welche streiken wollen oder streiken, auf andre einen Zwang (durch Drohung, Ehr- verletzuug, Verrufserklärung, Mißhandlung usw.) ausüben dürfen, gleichfalls die Arbeit einzustellen oder nicht bei den betreffenden Unternehmern in Arbeit zu treten. Dies ist als widerrechtliche Freiheitsbeschränkung Dritter zu bestrafen. Diese Grenze hat zwar die Gesetzgebung aller Staaten gezogen, aber nirgends in genügender Weise. Alle großen Streikbewegungen der neuern Zeit zeigen, daß es in dieser Hinsicht an einem genügenden Schutz gegen die thatsächliche Vergewaltigung sehlt, welche von den Führern und ihren Werkzeugen gegen Arbeiter, die sich einem Streik nicht anschließen oder nach ausgebrochnem Streik die Arbeit wieder auf¬ nehmen wollen, ausgeübt wird. Eine weitere Einschränkung des Koalitionsrechts und des Streikrechts hält er aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Füllen für gerecht¬ fertigt, wenn durch allgemeine Arbeitseinstellungen die Befriedigung unab¬ weisbarer und unaufschiebbarer Bedürfnisse verhindert oder „in gemeingefähr¬ licher Weise" erschwert wird. Es handle sich dabei „namentlich um Arbeiter an Transportunternehmungen, in Gas- und Wasserwerken, in manchen Nahrungs¬ mittelgewerben, unter Umständen auch in Kohlenbergwerken usw." Dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/208>, abgerufen am 15.01.2025.