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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen Politik Deutschlands

Möglichkeit einer Überbrückung der Kluft zwischen Deutschland und Frankreich
gezeigt. Beider Länder Regierungen haben freilich wiederholt in einzelnen
Fällen eine Gleichartigkeit ihrer Kolonialinteressen anerkannt und bewiesen.
Aber es braucht nur an die seit einiger Zeit bekannt gewordne Thatsache
erinnert zu werden, daß Frankreich Anfang 1896, als die Transvaaldepesche
des Kaisers Wilhelm die Engländer in ein thörichtes Fieber der Entrüstung
versetzte, sofort in London seine Unterstützung anbot, falls es zu kriegerischen
Ereignissen kommen sollte, während Nußland kühl erklärte, die Angelegenheit
berühre es nicht im mindesten. Damals hätte ein geschlossenes und energisches
Auftreten des Kontinents gegen England, das überdies in allerlei stachlige
Zwistigkeiten mit den Vereinigten Staaten verstrickt war, einen neuen Abschnitt
der Weltgeschichte einleiten können. Was aber in jenen Tagen, wo die Ent¬
scheidung auf des Messers Schneide -- viel mehr, als man zur Zeit in weitern
Kreisen geahnt hat -- lag, versäumt worden ist, das wird in absehbarer Frist
nicht wiederkehren. Seit drei Jahrzehnten, kann man sagen, wird der Gedanke
eines mitteleuropäischen Zollbündnisses mit Schranken gegen die geschlossenen
Wirtschaftsgebiete Amerika und Großbritannien erörtert. Verschwindet er heute
von der Tagesordnung, so ruft ihn morgen ein neuer handelspolitischer Über¬
griff Amerikas oder ein neuer Ausbruch der Imperial ?o1lo^ Englands wieder
ins Leben. Und ist das Projekt jetzt auch nur um Haaresbreite der Ver¬
wirklichung näher gerückt, als bei seinem ersten Auftauchen?

Aber selbst wenn das Unwahrscheinliche Ereignis geworden wäre, wenn
sich die festländischen Staaten Europas samt und sonders zu einem Schutz-
und Trutzbündnis gegen England und die Union vereinigt hätten, so lägen in
der Seeunion selbst so große technische, taktische und strategische Schwierig¬
keiten, daß sie im Kriegsfalle eine grausame Enttäuschung bereiten würde.
Eine Flotte besteht nicht aus einem beliebigen Haufen verschiedner Schiffe,
sondern sie ist ein höchst kunstvoller, sinnreich erdachter, kraftvoll regierter, ein¬
heitlichem Willen gehorchender Mechanismus. Jede Kriegsmarine hat ihre
eignen Prinzipien für Bau, Panzerung und Armierung ihrer Schiffe, für ihr
Offizierkorps und ihre Bemannung, für ihre taktischen Verbände und sür ihr
strategisches Vorgehen. Wir können es uns hier ersparen, auf eine objektive
Würdigung dieser Grundsätze einzugehn, sie zu vergleichen und gegen einander
abzuschätzen. Es genügt, daß sie bestehn, und daß diese Folgen einer histo¬
rischen Entwicklung nicht durch eine Seeunion von heut auf morgen beseitigt
werden können. Im Gegenteil, die Kriegsflotte des vereinigten Kontinents
würde ein höchst buntscheckiges Konglomerat von ganz verschiedenartigen Teilen
sein, die nun und nimmer dem Drucke einer Hand gehorchen würden, selbst
wenn es gelänge, ein einziges Oberkommando für sie einzusetzen. Demgegen¬
über aber steht die englische Marine, eine geschlossene, in sich gefestete, nach
außen einheitlich gegliederte Organisation, in die Schiffe und Kanonen, Offi-


Grenzboten III 1899 2
Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen Politik Deutschlands

Möglichkeit einer Überbrückung der Kluft zwischen Deutschland und Frankreich
gezeigt. Beider Länder Regierungen haben freilich wiederholt in einzelnen
Fällen eine Gleichartigkeit ihrer Kolonialinteressen anerkannt und bewiesen.
Aber es braucht nur an die seit einiger Zeit bekannt gewordne Thatsache
erinnert zu werden, daß Frankreich Anfang 1896, als die Transvaaldepesche
des Kaisers Wilhelm die Engländer in ein thörichtes Fieber der Entrüstung
versetzte, sofort in London seine Unterstützung anbot, falls es zu kriegerischen
Ereignissen kommen sollte, während Nußland kühl erklärte, die Angelegenheit
berühre es nicht im mindesten. Damals hätte ein geschlossenes und energisches
Auftreten des Kontinents gegen England, das überdies in allerlei stachlige
Zwistigkeiten mit den Vereinigten Staaten verstrickt war, einen neuen Abschnitt
der Weltgeschichte einleiten können. Was aber in jenen Tagen, wo die Ent¬
scheidung auf des Messers Schneide — viel mehr, als man zur Zeit in weitern
Kreisen geahnt hat — lag, versäumt worden ist, das wird in absehbarer Frist
nicht wiederkehren. Seit drei Jahrzehnten, kann man sagen, wird der Gedanke
eines mitteleuropäischen Zollbündnisses mit Schranken gegen die geschlossenen
Wirtschaftsgebiete Amerika und Großbritannien erörtert. Verschwindet er heute
von der Tagesordnung, so ruft ihn morgen ein neuer handelspolitischer Über¬
griff Amerikas oder ein neuer Ausbruch der Imperial ?o1lo^ Englands wieder
ins Leben. Und ist das Projekt jetzt auch nur um Haaresbreite der Ver¬
wirklichung näher gerückt, als bei seinem ersten Auftauchen?

Aber selbst wenn das Unwahrscheinliche Ereignis geworden wäre, wenn
sich die festländischen Staaten Europas samt und sonders zu einem Schutz-
und Trutzbündnis gegen England und die Union vereinigt hätten, so lägen in
der Seeunion selbst so große technische, taktische und strategische Schwierig¬
keiten, daß sie im Kriegsfalle eine grausame Enttäuschung bereiten würde.
Eine Flotte besteht nicht aus einem beliebigen Haufen verschiedner Schiffe,
sondern sie ist ein höchst kunstvoller, sinnreich erdachter, kraftvoll regierter, ein¬
heitlichem Willen gehorchender Mechanismus. Jede Kriegsmarine hat ihre
eignen Prinzipien für Bau, Panzerung und Armierung ihrer Schiffe, für ihr
Offizierkorps und ihre Bemannung, für ihre taktischen Verbände und sür ihr
strategisches Vorgehen. Wir können es uns hier ersparen, auf eine objektive
Würdigung dieser Grundsätze einzugehn, sie zu vergleichen und gegen einander
abzuschätzen. Es genügt, daß sie bestehn, und daß diese Folgen einer histo¬
rischen Entwicklung nicht durch eine Seeunion von heut auf morgen beseitigt
werden können. Im Gegenteil, die Kriegsflotte des vereinigten Kontinents
würde ein höchst buntscheckiges Konglomerat von ganz verschiedenartigen Teilen
sein, die nun und nimmer dem Drucke einer Hand gehorchen würden, selbst
wenn es gelänge, ein einziges Oberkommando für sie einzusetzen. Demgegen¬
über aber steht die englische Marine, eine geschlossene, in sich gefestete, nach
außen einheitlich gegliederte Organisation, in die Schiffe und Kanonen, Offi-


Grenzboten III 1899 2
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[0017] Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen Politik Deutschlands Möglichkeit einer Überbrückung der Kluft zwischen Deutschland und Frankreich gezeigt. Beider Länder Regierungen haben freilich wiederholt in einzelnen Fällen eine Gleichartigkeit ihrer Kolonialinteressen anerkannt und bewiesen. Aber es braucht nur an die seit einiger Zeit bekannt gewordne Thatsache erinnert zu werden, daß Frankreich Anfang 1896, als die Transvaaldepesche des Kaisers Wilhelm die Engländer in ein thörichtes Fieber der Entrüstung versetzte, sofort in London seine Unterstützung anbot, falls es zu kriegerischen Ereignissen kommen sollte, während Nußland kühl erklärte, die Angelegenheit berühre es nicht im mindesten. Damals hätte ein geschlossenes und energisches Auftreten des Kontinents gegen England, das überdies in allerlei stachlige Zwistigkeiten mit den Vereinigten Staaten verstrickt war, einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte einleiten können. Was aber in jenen Tagen, wo die Ent¬ scheidung auf des Messers Schneide — viel mehr, als man zur Zeit in weitern Kreisen geahnt hat — lag, versäumt worden ist, das wird in absehbarer Frist nicht wiederkehren. Seit drei Jahrzehnten, kann man sagen, wird der Gedanke eines mitteleuropäischen Zollbündnisses mit Schranken gegen die geschlossenen Wirtschaftsgebiete Amerika und Großbritannien erörtert. Verschwindet er heute von der Tagesordnung, so ruft ihn morgen ein neuer handelspolitischer Über¬ griff Amerikas oder ein neuer Ausbruch der Imperial ?o1lo^ Englands wieder ins Leben. Und ist das Projekt jetzt auch nur um Haaresbreite der Ver¬ wirklichung näher gerückt, als bei seinem ersten Auftauchen? Aber selbst wenn das Unwahrscheinliche Ereignis geworden wäre, wenn sich die festländischen Staaten Europas samt und sonders zu einem Schutz- und Trutzbündnis gegen England und die Union vereinigt hätten, so lägen in der Seeunion selbst so große technische, taktische und strategische Schwierig¬ keiten, daß sie im Kriegsfalle eine grausame Enttäuschung bereiten würde. Eine Flotte besteht nicht aus einem beliebigen Haufen verschiedner Schiffe, sondern sie ist ein höchst kunstvoller, sinnreich erdachter, kraftvoll regierter, ein¬ heitlichem Willen gehorchender Mechanismus. Jede Kriegsmarine hat ihre eignen Prinzipien für Bau, Panzerung und Armierung ihrer Schiffe, für ihr Offizierkorps und ihre Bemannung, für ihre taktischen Verbände und sür ihr strategisches Vorgehen. Wir können es uns hier ersparen, auf eine objektive Würdigung dieser Grundsätze einzugehn, sie zu vergleichen und gegen einander abzuschätzen. Es genügt, daß sie bestehn, und daß diese Folgen einer histo¬ rischen Entwicklung nicht durch eine Seeunion von heut auf morgen beseitigt werden können. Im Gegenteil, die Kriegsflotte des vereinigten Kontinents würde ein höchst buntscheckiges Konglomerat von ganz verschiedenartigen Teilen sein, die nun und nimmer dem Drucke einer Hand gehorchen würden, selbst wenn es gelänge, ein einziges Oberkommando für sie einzusetzen. Demgegen¬ über aber steht die englische Marine, eine geschlossene, in sich gefestete, nach außen einheitlich gegliederte Organisation, in die Schiffe und Kanonen, Offi- Grenzboten III 1899 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/17>, abgerufen am 15.01.2025.