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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Angelsachsen und Deutsche in Südamerika

seiner Geldleute annehmen und sich etwa statt des Danaergeschenks der Zentral¬
bahn nach einem solidern Faustpfand umsehen könnte.

Wohin wir also den Blick richten, sehen wir die angelsächsischen Gro߬
mächte an der Arbeit, um auch hier ihren Zukunftstraum zu verwirklichen,
die wirtschaftliche oder selbst politische Unterwerfung aller Länder, die noch
nicht in festen europäischen Händen sind, als Handels- und Absatzgebiete für
die "große Werkstätte" England und die Trustgesellschaften Nordamerikas, die
immer mehr dessen äußerer Politik ihren Stempel aufdrücken. Es heißt die
großartige Weitsichtigkeit der Politik beider Staaten verkennen, wenn man ihnen
nicht zutraut, daß sie, solange der gemeinsame. Vorteil ein Bindeglied ist,
kleinere Differenzen übersehen und nach dem Grundsatz, daß ein gut Geschüft
gute Freunde macht, die Verteilung der dem Handel und der Kolonisation
noch zu erschließenden Länder der Erde in verständnisinnigem Zusammenwirken
vornehmen werden. Man höre darüber Ratzel, der in seiner "Politischen
Geographie" sagt: "Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen
als kleinräumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen
politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen
Geographie merkwürdig kontrastiert. Die großrüumige Politik hat den Vorteil
der weitschichtigen Pläne, die ihrer Politik vorauseilen; sie steckt ihre Ziele
lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß politische Werte zu finden seien,
und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar dünnen,
aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt."

Diese Sachlage verdient von deutscher Seite in die ernsteste Erwägung
gezogen zu werden. Die noch wenig erschlossenen, dünn besiedelten Niesengebiete
des innern Südamerikas, insbesondre die südlich vom Wendekreis des Stein¬
bocks liegenden Länder bieten die letzte große Möglichkeit für das hinter den
germanischen Kolonialmächten zurückgebliebne Deutschland, sich an einer kolo¬
nisatorischen Aufgabe allerersten Ranges zu versuchen, deren Lösung oder Nicht-
lösung darüber entscheiden wird, ob es der deutschen Nation überhaupt vor¬
behalten ist, eine eigne vollwertige Weltkultur auszuprägen. Denn nur durch
die Gewinnung gewaltiger Auswauderungsgebiete, in die sich der Überschuß
unsrer Volkskraft ergießen kann, ohne seine Stammesart zu verlieren, wird
Deutschland imstande sein, neben den bisherigen großräumigen Reichen, die
sich immer mehr über die bloßen Großmächte, die nur dieses und keine Welt¬
mächte sind, emporheben, den ihm gebührenden Platz einzunehmen. Kommen
wir auch diesesmal zu spät, so bleibt uns nichts andres mehr übrig, als, wenn
uns die Übervölkerung dazu zwingt, es gleich den alten Normannen des Mittel-
alters mit dein Seekönigtum zu versuchen und neue überseeische Reiche mit
Waffengewalt zu erobern, was aber für einen Festlandsstaat wie Deutschland
auf absehbare Zeit seinen Haken haben dürfte; oder uns ein für allemal zu
bescheiden, im Innern die schon vorhandnen Ansätze zum Chiueseutum kräftig


Angelsachsen und Deutsche in Südamerika

seiner Geldleute annehmen und sich etwa statt des Danaergeschenks der Zentral¬
bahn nach einem solidern Faustpfand umsehen könnte.

Wohin wir also den Blick richten, sehen wir die angelsächsischen Gro߬
mächte an der Arbeit, um auch hier ihren Zukunftstraum zu verwirklichen,
die wirtschaftliche oder selbst politische Unterwerfung aller Länder, die noch
nicht in festen europäischen Händen sind, als Handels- und Absatzgebiete für
die „große Werkstätte" England und die Trustgesellschaften Nordamerikas, die
immer mehr dessen äußerer Politik ihren Stempel aufdrücken. Es heißt die
großartige Weitsichtigkeit der Politik beider Staaten verkennen, wenn man ihnen
nicht zutraut, daß sie, solange der gemeinsame. Vorteil ein Bindeglied ist,
kleinere Differenzen übersehen und nach dem Grundsatz, daß ein gut Geschüft
gute Freunde macht, die Verteilung der dem Handel und der Kolonisation
noch zu erschließenden Länder der Erde in verständnisinnigem Zusammenwirken
vornehmen werden. Man höre darüber Ratzel, der in seiner „Politischen
Geographie" sagt: „Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen
als kleinräumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen
politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen
Geographie merkwürdig kontrastiert. Die großrüumige Politik hat den Vorteil
der weitschichtigen Pläne, die ihrer Politik vorauseilen; sie steckt ihre Ziele
lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß politische Werte zu finden seien,
und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar dünnen,
aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt."

Diese Sachlage verdient von deutscher Seite in die ernsteste Erwägung
gezogen zu werden. Die noch wenig erschlossenen, dünn besiedelten Niesengebiete
des innern Südamerikas, insbesondre die südlich vom Wendekreis des Stein¬
bocks liegenden Länder bieten die letzte große Möglichkeit für das hinter den
germanischen Kolonialmächten zurückgebliebne Deutschland, sich an einer kolo¬
nisatorischen Aufgabe allerersten Ranges zu versuchen, deren Lösung oder Nicht-
lösung darüber entscheiden wird, ob es der deutschen Nation überhaupt vor¬
behalten ist, eine eigne vollwertige Weltkultur auszuprägen. Denn nur durch
die Gewinnung gewaltiger Auswauderungsgebiete, in die sich der Überschuß
unsrer Volkskraft ergießen kann, ohne seine Stammesart zu verlieren, wird
Deutschland imstande sein, neben den bisherigen großräumigen Reichen, die
sich immer mehr über die bloßen Großmächte, die nur dieses und keine Welt¬
mächte sind, emporheben, den ihm gebührenden Platz einzunehmen. Kommen
wir auch diesesmal zu spät, so bleibt uns nichts andres mehr übrig, als, wenn
uns die Übervölkerung dazu zwingt, es gleich den alten Normannen des Mittel-
alters mit dein Seekönigtum zu versuchen und neue überseeische Reiche mit
Waffengewalt zu erobern, was aber für einen Festlandsstaat wie Deutschland
auf absehbare Zeit seinen Haken haben dürfte; oder uns ein für allemal zu
bescheiden, im Innern die schon vorhandnen Ansätze zum Chiueseutum kräftig


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[0158] Angelsachsen und Deutsche in Südamerika seiner Geldleute annehmen und sich etwa statt des Danaergeschenks der Zentral¬ bahn nach einem solidern Faustpfand umsehen könnte. Wohin wir also den Blick richten, sehen wir die angelsächsischen Gro߬ mächte an der Arbeit, um auch hier ihren Zukunftstraum zu verwirklichen, die wirtschaftliche oder selbst politische Unterwerfung aller Länder, die noch nicht in festen europäischen Händen sind, als Handels- und Absatzgebiete für die „große Werkstätte" England und die Trustgesellschaften Nordamerikas, die immer mehr dessen äußerer Politik ihren Stempel aufdrücken. Es heißt die großartige Weitsichtigkeit der Politik beider Staaten verkennen, wenn man ihnen nicht zutraut, daß sie, solange der gemeinsame. Vorteil ein Bindeglied ist, kleinere Differenzen übersehen und nach dem Grundsatz, daß ein gut Geschüft gute Freunde macht, die Verteilung der dem Handel und der Kolonisation noch zu erschließenden Länder der Erde in verständnisinnigem Zusammenwirken vornehmen werden. Man höre darüber Ratzel, der in seiner „Politischen Geographie" sagt: „Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen als kleinräumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen Geographie merkwürdig kontrastiert. Die großrüumige Politik hat den Vorteil der weitschichtigen Pläne, die ihrer Politik vorauseilen; sie steckt ihre Ziele lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß politische Werte zu finden seien, und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar dünnen, aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt." Diese Sachlage verdient von deutscher Seite in die ernsteste Erwägung gezogen zu werden. Die noch wenig erschlossenen, dünn besiedelten Niesengebiete des innern Südamerikas, insbesondre die südlich vom Wendekreis des Stein¬ bocks liegenden Länder bieten die letzte große Möglichkeit für das hinter den germanischen Kolonialmächten zurückgebliebne Deutschland, sich an einer kolo¬ nisatorischen Aufgabe allerersten Ranges zu versuchen, deren Lösung oder Nicht- lösung darüber entscheiden wird, ob es der deutschen Nation überhaupt vor¬ behalten ist, eine eigne vollwertige Weltkultur auszuprägen. Denn nur durch die Gewinnung gewaltiger Auswauderungsgebiete, in die sich der Überschuß unsrer Volkskraft ergießen kann, ohne seine Stammesart zu verlieren, wird Deutschland imstande sein, neben den bisherigen großräumigen Reichen, die sich immer mehr über die bloßen Großmächte, die nur dieses und keine Welt¬ mächte sind, emporheben, den ihm gebührenden Platz einzunehmen. Kommen wir auch diesesmal zu spät, so bleibt uns nichts andres mehr übrig, als, wenn uns die Übervölkerung dazu zwingt, es gleich den alten Normannen des Mittel- alters mit dein Seekönigtum zu versuchen und neue überseeische Reiche mit Waffengewalt zu erobern, was aber für einen Festlandsstaat wie Deutschland auf absehbare Zeit seinen Haken haben dürfte; oder uns ein für allemal zu bescheiden, im Innern die schon vorhandnen Ansätze zum Chiueseutum kräftig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/158>, abgerufen am 15.01.2025.