Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Der Aschenkrug und die treulose Witwe Gieb mir zu trinken, sagt er. Dann schreibt er folgende Verse auf ein Blatt Papier: Welche Liebe haben Gatte und Gattin zu einander, die zusammen geschlafen Sobald sie ein neues Gesicht erblicken, vergessen sie das alte! Und können mit eigner Hand das Beil ergreifen, um den Sargdeckel zu Wie könnten sie warten, bis das Grab trocken ist! Zugleich streckt er seinen Finger aus, und seine Frau sieht zwei Schatten: den Ob aus Scham oder aus Schmerz um den zerronnenen Prinzen, erfahren Tschwang-Sang schneidet die Entseelte von dem Balken ab, an dem sie hängt, Dies in Kürze die chinesische Geschichte von der treulosen Witwe. Es ist be¬ Was den Zusammenhang dieser Erzählung mit der des Petronius betrifft, so Noch wenige Worte über die Änderungen, die mit der chinesischen Novelle Der Aschenkrug und die treulose Witwe Gieb mir zu trinken, sagt er. Dann schreibt er folgende Verse auf ein Blatt Papier: Welche Liebe haben Gatte und Gattin zu einander, die zusammen geschlafen Sobald sie ein neues Gesicht erblicken, vergessen sie das alte! Und können mit eigner Hand das Beil ergreifen, um den Sargdeckel zu Wie könnten sie warten, bis das Grab trocken ist! Zugleich streckt er seinen Finger aus, und seine Frau sieht zwei Schatten: den Ob aus Scham oder aus Schmerz um den zerronnenen Prinzen, erfahren Tschwang-Sang schneidet die Entseelte von dem Balken ab, an dem sie hängt, Dies in Kürze die chinesische Geschichte von der treulosen Witwe. Es ist be¬ Was den Zusammenhang dieser Erzählung mit der des Petronius betrifft, so Noch wenige Worte über die Änderungen, die mit der chinesischen Novelle <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0148" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231318"/> <fw type="header" place="top"> Der Aschenkrug und die treulose Witwe</fw><lb/> <p xml:id="ID_443"> Gieb mir zu trinken, sagt er.</p><lb/> <p xml:id="ID_444"> Dann schreibt er folgende Verse auf ein Blatt Papier:</p><lb/> <p xml:id="ID_445"> Welche Liebe haben Gatte und Gattin zu einander, die zusammen geschlafen<lb/> haben hundert Nächte?</p><lb/> <p xml:id="ID_446"> Sobald sie ein neues Gesicht erblicken, vergessen sie das alte!</p><lb/> <p xml:id="ID_447"> Und können mit eigner Hand das Beil ergreifen, um den Sargdeckel zu<lb/> offnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_448"> Wie könnten sie warten, bis das Grab trocken ist!</p><lb/> <p xml:id="ID_449"> Zugleich streckt er seinen Finger aus, und seine Frau sieht zwei Schatten: den<lb/> Prinzen und dessen Diener. Denn Tschwnng-Sang war ein so großer Weiser, daß<lb/> er „sein Wesen in zwei zu teilen verstand und seinen Körper von dessen Schatten¬<lb/> bild zu trennen wußte." Er läßt die Schatten dann wieder verschwinden, und die<lb/> Frau erhenkt sich.</p><lb/> <p xml:id="ID_450"> Ob aus Scham oder aus Schmerz um den zerronnenen Prinzen, erfahren<lb/> wir nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_451"> Tschwang-Sang schneidet die Entseelte von dem Balken ab, an dem sie hängt,<lb/> legt sie in den von ihm eingeweihten Sarg, zündet die Hütte an und zieht gen<lb/> Westen — man weiß nicht, wohin.</p><lb/> <p xml:id="ID_452"> Dies in Kürze die chinesische Geschichte von der treulosen Witwe. Es ist be¬<lb/> merkenswert, daß die spätern Erzähler das Aufleben des Gatten und seine Zauber¬<lb/> kraft nicht erwähnen, sehr zum Nachteil der Witwe. Denn eigentlich ist ja der Gatte<lb/> in der chinesischen Erzählung uoch strafbarer als seine junge Witwe, ganz abgesehen<lb/> von seinem verdrießlichen Pessimismus, der sich an der Rose nicht zu freuen ver¬<lb/> mag, weil sich in ihren Wurzeln möglicherweise ein Regenwurm birgt, er ist sogar<lb/> ein sträflicher Versucher und Mörder. Oder hat sein Blendwerk die arme Frau<lb/> nicht in den Tod getrieben? Durfte sie nur unter der einen Bedingung leben,<lb/> daß sie nach seinem Tode allen Versuchungen widerstehn würde? Wo ist ein<lb/> Gesetz, das den Witwen dies vorschreibt, und wo ist das Gesetz, das einem Gatten<lb/> erlaubt, sich scheintot zu stellen und selber als jugendlicher Prinz verkleidet sich<lb/> seiner Witwe mit verführerischen Zauber zu nähern?</p><lb/> <p xml:id="ID_453"> Was den Zusammenhang dieser Erzählung mit der des Petronius betrifft, so<lb/> ist wohl noch folgendes ins Auge zu fassen. Seit zweitausend Jahren hat die treu¬<lb/> lose Witwe des Petronius keine wesentlich größere Veränderung, außer den er¬<lb/> wähnten, erlitten, als daß aus dem Kreuz, an dem der gestohlue Verbrecher<lb/> hing, ein Galgen geworden ist. Der Kern der Geschichte blieb nämlich der ge-<lb/> stohlne Dieb, der liebreizende Wächter, die vermeinte Unersetzlichkeit und UnVer¬<lb/> geßlichkeit des verstorbnen Gatten, seine plötzliche Entwertung von dem Augen¬<lb/> blicke an, wo die Witwe ihr Herz einem andern zuwandte. Auch die Ver¬<lb/> stümmlung und das Aufhängen sind geblieben, wenn auch unter kleinen Ab¬<lb/> weichungen. Dies beweist einerseits die Vortrefflichkeit des Motivs. Der Wahr¬<lb/> heit nacherzählt oder nicht, es ist so festgesetzt, daß jede Änderung eine Ver¬<lb/> schlechterung sein mußte. Andrerseits beweist es die zähe Dauer solcher gut<lb/> abgerundeten Überlieferung. Und endlich bürgt es dafür, daß die Geschichte des<lb/> Petronius, wie schon vorhin angedeutet worden ist, zwar eine Seitenverwandte der<lb/> chinesischen Novelle ist, daß derartige Motive aber ebenso wenig auf einen gemein¬<lb/> samen Ursprung zurückgeführt zu werden brauchen, wie die Menschheit ans ein ein¬<lb/> ziges erstes Paar.</p><lb/> <p xml:id="ID_454" next="#ID_455"> Noch wenige Worte über die Änderungen, die mit der chinesischen Novelle<lb/> seit ihrem Bekanntwerden in Europa vorgegangen sind. Es sind deren zwei, beide</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0148]
Der Aschenkrug und die treulose Witwe
Gieb mir zu trinken, sagt er.
Dann schreibt er folgende Verse auf ein Blatt Papier:
Welche Liebe haben Gatte und Gattin zu einander, die zusammen geschlafen
haben hundert Nächte?
Sobald sie ein neues Gesicht erblicken, vergessen sie das alte!
Und können mit eigner Hand das Beil ergreifen, um den Sargdeckel zu
offnen.
Wie könnten sie warten, bis das Grab trocken ist!
Zugleich streckt er seinen Finger aus, und seine Frau sieht zwei Schatten: den
Prinzen und dessen Diener. Denn Tschwnng-Sang war ein so großer Weiser, daß
er „sein Wesen in zwei zu teilen verstand und seinen Körper von dessen Schatten¬
bild zu trennen wußte." Er läßt die Schatten dann wieder verschwinden, und die
Frau erhenkt sich.
Ob aus Scham oder aus Schmerz um den zerronnenen Prinzen, erfahren
wir nicht.
Tschwang-Sang schneidet die Entseelte von dem Balken ab, an dem sie hängt,
legt sie in den von ihm eingeweihten Sarg, zündet die Hütte an und zieht gen
Westen — man weiß nicht, wohin.
Dies in Kürze die chinesische Geschichte von der treulosen Witwe. Es ist be¬
merkenswert, daß die spätern Erzähler das Aufleben des Gatten und seine Zauber¬
kraft nicht erwähnen, sehr zum Nachteil der Witwe. Denn eigentlich ist ja der Gatte
in der chinesischen Erzählung uoch strafbarer als seine junge Witwe, ganz abgesehen
von seinem verdrießlichen Pessimismus, der sich an der Rose nicht zu freuen ver¬
mag, weil sich in ihren Wurzeln möglicherweise ein Regenwurm birgt, er ist sogar
ein sträflicher Versucher und Mörder. Oder hat sein Blendwerk die arme Frau
nicht in den Tod getrieben? Durfte sie nur unter der einen Bedingung leben,
daß sie nach seinem Tode allen Versuchungen widerstehn würde? Wo ist ein
Gesetz, das den Witwen dies vorschreibt, und wo ist das Gesetz, das einem Gatten
erlaubt, sich scheintot zu stellen und selber als jugendlicher Prinz verkleidet sich
seiner Witwe mit verführerischen Zauber zu nähern?
Was den Zusammenhang dieser Erzählung mit der des Petronius betrifft, so
ist wohl noch folgendes ins Auge zu fassen. Seit zweitausend Jahren hat die treu¬
lose Witwe des Petronius keine wesentlich größere Veränderung, außer den er¬
wähnten, erlitten, als daß aus dem Kreuz, an dem der gestohlue Verbrecher
hing, ein Galgen geworden ist. Der Kern der Geschichte blieb nämlich der ge-
stohlne Dieb, der liebreizende Wächter, die vermeinte Unersetzlichkeit und UnVer¬
geßlichkeit des verstorbnen Gatten, seine plötzliche Entwertung von dem Augen¬
blicke an, wo die Witwe ihr Herz einem andern zuwandte. Auch die Ver¬
stümmlung und das Aufhängen sind geblieben, wenn auch unter kleinen Ab¬
weichungen. Dies beweist einerseits die Vortrefflichkeit des Motivs. Der Wahr¬
heit nacherzählt oder nicht, es ist so festgesetzt, daß jede Änderung eine Ver¬
schlechterung sein mußte. Andrerseits beweist es die zähe Dauer solcher gut
abgerundeten Überlieferung. Und endlich bürgt es dafür, daß die Geschichte des
Petronius, wie schon vorhin angedeutet worden ist, zwar eine Seitenverwandte der
chinesischen Novelle ist, daß derartige Motive aber ebenso wenig auf einen gemein¬
samen Ursprung zurückgeführt zu werden brauchen, wie die Menschheit ans ein ein¬
ziges erstes Paar.
Noch wenige Worte über die Änderungen, die mit der chinesischen Novelle
seit ihrem Bekanntwerden in Europa vorgegangen sind. Es sind deren zwei, beide
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |