Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Der Aschenkrug und die treulose Witwe Nun stirbt er, Ihr Schmerz ist grenzenlos. Sie schläft nicht, sie ißt nicht, Bei den gemeinsamen Trauerandachten, denen sie sich nun hingeben, verliebt Sie antwortet: ein toter Körper sei nicht die Quelle des Lebens; hinter dem Und das Mittel dagegen? ruft sie. Etwas von dem Hirn eines Lebendigen. Welches Unglück! Aber mein Mann Mein Mann, sagt die Witwe, ist erst zwanzig Tage tot; könnten wir nicht Ich besorge nur, antwortet der Diener, daß Ihr das nicht gern thun werdet. Ich und der Prinz, giebt sie Bescheid, sind Mann und Weib. Und sie holt Jetzt gilt es, sich herauszulügeu. Sie behauptet, vou einer frohen Ahnung Und deine gestickten Ärmel und Beinkleider? forscht er, da du doch in Alles im Gefühl sichrer Vorfreude! ruft sie. Sehr gut, sagt Tschwang-Sang, aber warum steht mein Sarg hier im Stall? Auf diese Frage bleibt sie die Antwort schuldig. Daß sie jemand mit Wein regalierte, sieht er an den halb geleerten Gläsern Der Aschenkrug und die treulose Witwe Nun stirbt er, Ihr Schmerz ist grenzenlos. Sie schläft nicht, sie ißt nicht, Bei den gemeinsamen Trauerandachten, denen sie sich nun hingeben, verliebt Sie antwortet: ein toter Körper sei nicht die Quelle des Lebens; hinter dem Und das Mittel dagegen? ruft sie. Etwas von dem Hirn eines Lebendigen. Welches Unglück! Aber mein Mann Mein Mann, sagt die Witwe, ist erst zwanzig Tage tot; könnten wir nicht Ich besorge nur, antwortet der Diener, daß Ihr das nicht gern thun werdet. Ich und der Prinz, giebt sie Bescheid, sind Mann und Weib. Und sie holt Jetzt gilt es, sich herauszulügeu. Sie behauptet, vou einer frohen Ahnung Und deine gestickten Ärmel und Beinkleider? forscht er, da du doch in Alles im Gefühl sichrer Vorfreude! ruft sie. Sehr gut, sagt Tschwang-Sang, aber warum steht mein Sarg hier im Stall? Auf diese Frage bleibt sie die Antwort schuldig. Daß sie jemand mit Wein regalierte, sieht er an den halb geleerten Gläsern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231317"/> <fw type="header" place="top"> Der Aschenkrug und die treulose Witwe</fw><lb/> <p xml:id="ID_429"> Nun stirbt er, Ihr Schmerz ist grenzenlos. Sie schläft nicht, sie ißt nicht,<lb/> sie trinkt nicht. Am neunten Tage, nachdem ihr Gatte im Sarge liegt, meldet sich<lb/> bei ihr ein Student. Es hat ihn der Wunsch Hergetrieben, den Weisesten der<lb/> Weisen kennen zu lernen. Er ist prinzlichen Blutes und bittet, ihm jetzt wenigstens<lb/> zu gestatten, daß er im Hause bleibe, bis der teure Meister bestattet sei. Die Witwe<lb/> kann auch nicht umhin, es ihm zu erlauben.</p><lb/> <p xml:id="ID_430"> Bei den gemeinsamen Trauerandachten, denen sie sich nun hingeben, verliebt<lb/> sich die Witwe in den schönen Jüngling. Sie vertraut sich dem von ihm mitge¬<lb/> brachten alten Diener. Dieser gesteht, daß auch sein Herr sie liebe und nur fürchte,<lb/> es sei gegen das Gesetz, wenn ein Schüler die Witwe seines Meisters heirate.<lb/> Sie beschwichtigt des Dieners Sorgen, giebt ihm Wein, und nachdem der Prinz<lb/> von ihm erfahren hat, daß die schöne Witwe seiner begehre, erklärt dieser durch<lb/> seineu Diener, drei Dinge stünden ihrem Bunde im Wege, selbst wenn er jenen<lb/> Einwand seines Dieners fallen lasse. Zunächst stehe der Sarg noch im Hause.<lb/> Dann fürchte er ihre Mißachtung, da er nur ein Schüler sei, ihr Verstorbner<lb/> aber der Meister aller Meister. Zum dritten: er habe nur Gepäck, kein Geld<lb/> bei sich.</p><lb/> <p xml:id="ID_431"> Sie antwortet: ein toter Körper sei nicht die Quelle des Lebens; hinter dem<lb/> Hause sei ein kleiner Stall — dorthin wolle sie den Sarg tragen lassen. Was<lb/> die Berühmtheit ihres Gatten betreffe, nun, sie bestreite sie nicht; aber übergescheit<lb/> sei er keineswegs gewesen. Geld endlich habe sie selbst genug, sie wolle auch für<lb/> Hochzeitskleider sorgen, er solle nur eilen. Nun hat auch der Prinz keine weitem<lb/> Bedenken, der Sarg wird in den Stall geschafft, sie legt prächtige Kleider an, „ist<lb/> selig wie im Himmel und glücklich wie die Erde" und läßt sich mit ihm einsegnen.<lb/> Aber plötzlich stürzt der Prinz um. Sie ist in Verzweiflung. Der Diener deutet<lb/> an, dergleichen sei seinem Herrn öfter passiert.</p><lb/> <p xml:id="ID_432"> Und das Mittel dagegen? ruft sie.</p><lb/> <p xml:id="ID_433"> Etwas von dem Hirn eines Lebendigen. Welches Unglück! Aber mein Mann<lb/> liegt ja im Sarge, ist kein Lebendiger mehr. Ob nicht das Hirn eines Toten,<lb/> fragt sie, auch helfen könne? 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Sie behauptet, vou einer frohen Ahnung<lb/> zum Öffnen des Sarges getrieben worden zu sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_438"> Und deine gestickten Ärmel und Beinkleider? forscht er, da du doch in<lb/> Trauer bist?</p><lb/> <p xml:id="ID_439"> Alles im Gefühl sichrer Vorfreude! ruft sie.</p><lb/> <p xml:id="ID_440"> Sehr gut, sagt Tschwang-Sang, aber warum steht mein Sarg hier im Stall?</p><lb/> <p xml:id="ID_441"> Auf diese Frage bleibt sie die Antwort schuldig.</p><lb/> <p xml:id="ID_442"> Daß sie jemand mit Wein regalierte, sieht er an den halb geleerten Gläsern<lb/> und Flaschen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0147]
Der Aschenkrug und die treulose Witwe
Nun stirbt er, Ihr Schmerz ist grenzenlos. Sie schläft nicht, sie ißt nicht,
sie trinkt nicht. Am neunten Tage, nachdem ihr Gatte im Sarge liegt, meldet sich
bei ihr ein Student. Es hat ihn der Wunsch Hergetrieben, den Weisesten der
Weisen kennen zu lernen. Er ist prinzlichen Blutes und bittet, ihm jetzt wenigstens
zu gestatten, daß er im Hause bleibe, bis der teure Meister bestattet sei. Die Witwe
kann auch nicht umhin, es ihm zu erlauben.
Bei den gemeinsamen Trauerandachten, denen sie sich nun hingeben, verliebt
sich die Witwe in den schönen Jüngling. Sie vertraut sich dem von ihm mitge¬
brachten alten Diener. Dieser gesteht, daß auch sein Herr sie liebe und nur fürchte,
es sei gegen das Gesetz, wenn ein Schüler die Witwe seines Meisters heirate.
Sie beschwichtigt des Dieners Sorgen, giebt ihm Wein, und nachdem der Prinz
von ihm erfahren hat, daß die schöne Witwe seiner begehre, erklärt dieser durch
seineu Diener, drei Dinge stünden ihrem Bunde im Wege, selbst wenn er jenen
Einwand seines Dieners fallen lasse. Zunächst stehe der Sarg noch im Hause.
Dann fürchte er ihre Mißachtung, da er nur ein Schüler sei, ihr Verstorbner
aber der Meister aller Meister. Zum dritten: er habe nur Gepäck, kein Geld
bei sich.
Sie antwortet: ein toter Körper sei nicht die Quelle des Lebens; hinter dem
Hause sei ein kleiner Stall — dorthin wolle sie den Sarg tragen lassen. Was
die Berühmtheit ihres Gatten betreffe, nun, sie bestreite sie nicht; aber übergescheit
sei er keineswegs gewesen. Geld endlich habe sie selbst genug, sie wolle auch für
Hochzeitskleider sorgen, er solle nur eilen. Nun hat auch der Prinz keine weitem
Bedenken, der Sarg wird in den Stall geschafft, sie legt prächtige Kleider an, „ist
selig wie im Himmel und glücklich wie die Erde" und läßt sich mit ihm einsegnen.
Aber plötzlich stürzt der Prinz um. Sie ist in Verzweiflung. Der Diener deutet
an, dergleichen sei seinem Herrn öfter passiert.
Und das Mittel dagegen? ruft sie.
Etwas von dem Hirn eines Lebendigen. Welches Unglück! Aber mein Mann
liegt ja im Sarge, ist kein Lebendiger mehr. Ob nicht das Hirn eines Toten,
fragt sie, auch helfen könne? Allerdings, versichert der Diener, wenn der Tote
nämlich noch nicht neunnndvierzig Tage tot ist.
Mein Mann, sagt die Witwe, ist erst zwanzig Tage tot; könnten wir nicht
den Sarg aufbrechen und sein Gehirn nehmen?
Ich besorge nur, antwortet der Diener, daß Ihr das nicht gern thun werdet.
Ich und der Prinz, giebt sie Bescheid, sind Mann und Weib. Und sie holt
ein Beil. Nach einunddreißig Schlägen hat sie den Deckel gesprengt. Indem sie
dann aber daran geht, ihrem Verstorbnen den Schädel einzuschlagen, bemerkt sie
mit Schrecken, daß er sich langsam aufrichtet. Die Lampe und das Beil entfallen
ihren Händen. Hilf mir auf, Frau! ruft er, und sie muß ihm ans dem Sarge
helfen.
Jetzt gilt es, sich herauszulügeu. Sie behauptet, vou einer frohen Ahnung
zum Öffnen des Sarges getrieben worden zu sein.
Und deine gestickten Ärmel und Beinkleider? forscht er, da du doch in
Trauer bist?
Alles im Gefühl sichrer Vorfreude! ruft sie.
Sehr gut, sagt Tschwang-Sang, aber warum steht mein Sarg hier im Stall?
Auf diese Frage bleibt sie die Antwort schuldig.
Daß sie jemand mit Wein regalierte, sieht er an den halb geleerten Gläsern
und Flaschen.
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