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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

der Forderung entsprechen, die der Heidelberger Professor Nöthe vor fünfzig
Jahren an die Ungebildeten wie an die Gebildeten stellte, er muß "Unab¬
hängigkeit von der öffentlichen Meinung, Selbständigkeit ihr gegenüber" haben.
Und er muß die Regierungen, die dazu ganz besonders verpflichtet sind, in
dieser Unabhängigkeit und Selbständigkeit unterstützen. Die süddeutschen National¬
liberalen, die, wie es fast scheint, die Partei zur Teilnahme an der Entrüstungs¬
komödie, d. h. zu einer ausgesprochnermaßen gegen die monarchische Spitze des
Reichs gerichteten Demonstration veranlaßt haben, mögen durch eine schwäch¬
liche Rücksicht auf die sich ihnen zu Hause zur Zeit aufdringende öffentliche
Meinung ihre so sehr unsicher gewordnen Mandate vielleicht ein wenig befestigen
zu können wähnen. Wer die Wandlungen der öffentlichen Meinung im Süden
kennt und die monarchische Gesinnung -- d. h. die in Bezug auf das Reich --
dort seit 1370 verfolgt hat, der wird das verstehen. Wollen die Süddeutschen
aber auch in Zukunft auf den so dringend notwendigen gemäßigten Liberalismus
im Reich guten Einfluß ausüben, so haben sie dem Kantönligeist noch sehr viel
mehr zu entsagen und endlich wieder einzusehen, daß es im Reich auch noch ein
Preußen und schließlich auch in ihm eine öffentliche Meinung giebt, und daß dieses
Preußen wirklich für das Reich auch noch etwas bedeutet. Es ist ganz erstaunlich,
wie wenig seit 1871 selbst in Baden und Württemberg -- von Bayern gar nicht
zu reden -- die Kenntnis des oft- und norddeutschen Volkstums zugenommen
hat. Mußte man damals über die süddeutschen Vorstellungen über Ostelbien
lachen, so muß man heute darüber erschrecken. Nur diese naive Unkenntnis
kann eigentlich den politischen dummen Streich erklären, den die National¬
liberalen jetzt gemacht haben.

Solche Bundesgenossen im Kampfe gegen die agrarisch-junkerliche Reaktion
sind viel schlimmer als keine. Die Übeln Folgen des Streichs sind in der
Sitzung des preußischen Herrenhauses vom 5. Juli schon bemerkbar geworden,
woraus die im Schlepptau der sozialistischen Fronde segelnden National¬
liberalen sehr viel lernen könnten. Oder sind sie auch dazu zu eitel? Die Ent¬
schuldigungsrede Schmollers sollte doch auch die Eitelsten ernüchtern.

Die Stellung der deutschen Staatswissenschaft zu der Entrüstungskomvdie
wird in einem dritten und letzten Artikel besprochen werden.




Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

der Forderung entsprechen, die der Heidelberger Professor Nöthe vor fünfzig
Jahren an die Ungebildeten wie an die Gebildeten stellte, er muß „Unab¬
hängigkeit von der öffentlichen Meinung, Selbständigkeit ihr gegenüber" haben.
Und er muß die Regierungen, die dazu ganz besonders verpflichtet sind, in
dieser Unabhängigkeit und Selbständigkeit unterstützen. Die süddeutschen National¬
liberalen, die, wie es fast scheint, die Partei zur Teilnahme an der Entrüstungs¬
komödie, d. h. zu einer ausgesprochnermaßen gegen die monarchische Spitze des
Reichs gerichteten Demonstration veranlaßt haben, mögen durch eine schwäch¬
liche Rücksicht auf die sich ihnen zu Hause zur Zeit aufdringende öffentliche
Meinung ihre so sehr unsicher gewordnen Mandate vielleicht ein wenig befestigen
zu können wähnen. Wer die Wandlungen der öffentlichen Meinung im Süden
kennt und die monarchische Gesinnung — d. h. die in Bezug auf das Reich —
dort seit 1370 verfolgt hat, der wird das verstehen. Wollen die Süddeutschen
aber auch in Zukunft auf den so dringend notwendigen gemäßigten Liberalismus
im Reich guten Einfluß ausüben, so haben sie dem Kantönligeist noch sehr viel
mehr zu entsagen und endlich wieder einzusehen, daß es im Reich auch noch ein
Preußen und schließlich auch in ihm eine öffentliche Meinung giebt, und daß dieses
Preußen wirklich für das Reich auch noch etwas bedeutet. Es ist ganz erstaunlich,
wie wenig seit 1871 selbst in Baden und Württemberg — von Bayern gar nicht
zu reden — die Kenntnis des oft- und norddeutschen Volkstums zugenommen
hat. Mußte man damals über die süddeutschen Vorstellungen über Ostelbien
lachen, so muß man heute darüber erschrecken. Nur diese naive Unkenntnis
kann eigentlich den politischen dummen Streich erklären, den die National¬
liberalen jetzt gemacht haben.

Solche Bundesgenossen im Kampfe gegen die agrarisch-junkerliche Reaktion
sind viel schlimmer als keine. Die Übeln Folgen des Streichs sind in der
Sitzung des preußischen Herrenhauses vom 5. Juli schon bemerkbar geworden,
woraus die im Schlepptau der sozialistischen Fronde segelnden National¬
liberalen sehr viel lernen könnten. Oder sind sie auch dazu zu eitel? Die Ent¬
schuldigungsrede Schmollers sollte doch auch die Eitelsten ernüchtern.

Die Stellung der deutschen Staatswissenschaft zu der Entrüstungskomvdie
wird in einem dritten und letzten Artikel besprochen werden.




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[0122] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage der Forderung entsprechen, die der Heidelberger Professor Nöthe vor fünfzig Jahren an die Ungebildeten wie an die Gebildeten stellte, er muß „Unab¬ hängigkeit von der öffentlichen Meinung, Selbständigkeit ihr gegenüber" haben. Und er muß die Regierungen, die dazu ganz besonders verpflichtet sind, in dieser Unabhängigkeit und Selbständigkeit unterstützen. Die süddeutschen National¬ liberalen, die, wie es fast scheint, die Partei zur Teilnahme an der Entrüstungs¬ komödie, d. h. zu einer ausgesprochnermaßen gegen die monarchische Spitze des Reichs gerichteten Demonstration veranlaßt haben, mögen durch eine schwäch¬ liche Rücksicht auf die sich ihnen zu Hause zur Zeit aufdringende öffentliche Meinung ihre so sehr unsicher gewordnen Mandate vielleicht ein wenig befestigen zu können wähnen. Wer die Wandlungen der öffentlichen Meinung im Süden kennt und die monarchische Gesinnung — d. h. die in Bezug auf das Reich — dort seit 1370 verfolgt hat, der wird das verstehen. Wollen die Süddeutschen aber auch in Zukunft auf den so dringend notwendigen gemäßigten Liberalismus im Reich guten Einfluß ausüben, so haben sie dem Kantönligeist noch sehr viel mehr zu entsagen und endlich wieder einzusehen, daß es im Reich auch noch ein Preußen und schließlich auch in ihm eine öffentliche Meinung giebt, und daß dieses Preußen wirklich für das Reich auch noch etwas bedeutet. Es ist ganz erstaunlich, wie wenig seit 1871 selbst in Baden und Württemberg — von Bayern gar nicht zu reden — die Kenntnis des oft- und norddeutschen Volkstums zugenommen hat. Mußte man damals über die süddeutschen Vorstellungen über Ostelbien lachen, so muß man heute darüber erschrecken. Nur diese naive Unkenntnis kann eigentlich den politischen dummen Streich erklären, den die National¬ liberalen jetzt gemacht haben. Solche Bundesgenossen im Kampfe gegen die agrarisch-junkerliche Reaktion sind viel schlimmer als keine. Die Übeln Folgen des Streichs sind in der Sitzung des preußischen Herrenhauses vom 5. Juli schon bemerkbar geworden, woraus die im Schlepptau der sozialistischen Fronde segelnden National¬ liberalen sehr viel lernen könnten. Oder sind sie auch dazu zu eitel? Die Ent¬ schuldigungsrede Schmollers sollte doch auch die Eitelsten ernüchtern. Die Stellung der deutschen Staatswissenschaft zu der Entrüstungskomvdie wird in einem dritten und letzten Artikel besprochen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/122>, abgerufen am 15.01.2025.