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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Wie Bayern ein moderner Staat wurde

konnte, wie die pfalzbayrische Erdbeschreibung von 1795 eingiebt, unter hundert
und in manchen Gegenden unter zweihundert Menschen nur einer, aber trinken,
spielen, raufen konnte jeder.

In die Verwaltung hatte sich Nepotismus und Bestechlichkeit in schranken¬
loser Weise eingenistet. Dazu kam noch das Unwesen der Anwartschaften, das
der fürstlichen Kasse reiche Einnahmen zuwandte. Die meisten kurfürstlichen
Beamten und Diener hatten, wie der Adreßkalender von 1799 nachweist, schon
bei Lebzeiten einen Nachfolger erhalten. Im Oberamt Neustadt z. B. fand
sich nicht ein einziger Beamter, dem nicht der Amtserbe beigeschrieben war;
das Amt einer Leibnäherin, einer Küchenjungenwäscherin, aber auch das des
Oberamtsschultheiß war zur Handelsware geworden; das Pfleggericht zu Eck-
mühl wurde im Namen unmündiger Kinder versehen, das in Rotenburg und
Donciuwörth war an Frauen verliehen. Zu Stadtamhof war eine Mademoiselle
beanwartete Grenzhauptmautnerin, und zu Vurglengenfeld stand ein Fräulein
als Oberforstmeister an der Spitze zahlreicher Ober- und Unterförster. Unheilbar
waren die Finanzen zerrüttet; das jährliche Defizit betrug fünf Millionen, die
öffentlichen Kassen hatten allen Kredit verloren. Das stehende Heer sollte eine
Stärke von 23000 Mann haben, in der Wirklichkeit konnte kaum die Hälfte
aufgebracht werden; auf fünfzehn Soldaten traf ein Offizier. Es fehlte an
allen Enden, nicht einmal Pulver war vorhanden.

Woher allein neues Leben in die Abgestorbenheit aller Zustände hätte ge¬
bracht werden können, davon hatte sich der Kurstaat jahrhundertelang geflissent¬
lich ferngehalten. Schon Herzog Wilhelm IV. erließ 1522 ein Mandat des In¬
halts, daß sich kein Unterthan der neuen Lehre zuzuwenden wagen solle. Trotzdem
verbreitete sie sich auch in den altbayrischen Landen, und erst der rücksichtslosem
Energie Wilhelms V. und Maximilians I. gelang es, im Verein mit den Jesuiten
das Luthertum mit Stumpf und Stiel auszurotten. Seitdem blieb eine chine¬
sische Mauer zwischen Bayern und dem übrigen Reiche; die aus dem Prote¬
stantismus erwachsene Kultur ging spurlos an den bayrischen Grenzen vorüber.
Nur das, was nicht bayrisch und nicht österreichisch war, nannte der Bayer
Deutschland, und dieses Deutschland war ihm ein fremdes Wort. Jeder
Deutsche galt als Protestant und umgekehrt; die Bayern fingen an, sich als
Nation zu fühlen. Alles war entartet, abgestorben, tot; das Feld mit den
toten Gebeinen glaubte mau vor sich zu sehen.

Da starb unerwartet schnell Kurfürst Karl Theodor beim L'Hombre-Spiel;
inmitten von rauschendem Festesglanz hatte ihn der Schlag gerührt. So
groß war die Erbitterung gegen ihn, daß bei seinem Leichenzuge die Münchner
dem Sarge Steine nachwarfen mit dem Ausruf: "Der hat uns an Österreich
verkaufen wollen!" In diese neue Welt nun trat Max Joseph. Er hatte
bis ius reife Mmmesalter niemals Aussicht gehabt, eine politische Stellung
einzunehmen. Der nachgebvrue Sohn einer Seitenlinie, hatte er französische


Wie Bayern ein moderner Staat wurde

konnte, wie die pfalzbayrische Erdbeschreibung von 1795 eingiebt, unter hundert
und in manchen Gegenden unter zweihundert Menschen nur einer, aber trinken,
spielen, raufen konnte jeder.

In die Verwaltung hatte sich Nepotismus und Bestechlichkeit in schranken¬
loser Weise eingenistet. Dazu kam noch das Unwesen der Anwartschaften, das
der fürstlichen Kasse reiche Einnahmen zuwandte. Die meisten kurfürstlichen
Beamten und Diener hatten, wie der Adreßkalender von 1799 nachweist, schon
bei Lebzeiten einen Nachfolger erhalten. Im Oberamt Neustadt z. B. fand
sich nicht ein einziger Beamter, dem nicht der Amtserbe beigeschrieben war;
das Amt einer Leibnäherin, einer Küchenjungenwäscherin, aber auch das des
Oberamtsschultheiß war zur Handelsware geworden; das Pfleggericht zu Eck-
mühl wurde im Namen unmündiger Kinder versehen, das in Rotenburg und
Donciuwörth war an Frauen verliehen. Zu Stadtamhof war eine Mademoiselle
beanwartete Grenzhauptmautnerin, und zu Vurglengenfeld stand ein Fräulein
als Oberforstmeister an der Spitze zahlreicher Ober- und Unterförster. Unheilbar
waren die Finanzen zerrüttet; das jährliche Defizit betrug fünf Millionen, die
öffentlichen Kassen hatten allen Kredit verloren. Das stehende Heer sollte eine
Stärke von 23000 Mann haben, in der Wirklichkeit konnte kaum die Hälfte
aufgebracht werden; auf fünfzehn Soldaten traf ein Offizier. Es fehlte an
allen Enden, nicht einmal Pulver war vorhanden.

Woher allein neues Leben in die Abgestorbenheit aller Zustände hätte ge¬
bracht werden können, davon hatte sich der Kurstaat jahrhundertelang geflissent¬
lich ferngehalten. Schon Herzog Wilhelm IV. erließ 1522 ein Mandat des In¬
halts, daß sich kein Unterthan der neuen Lehre zuzuwenden wagen solle. Trotzdem
verbreitete sie sich auch in den altbayrischen Landen, und erst der rücksichtslosem
Energie Wilhelms V. und Maximilians I. gelang es, im Verein mit den Jesuiten
das Luthertum mit Stumpf und Stiel auszurotten. Seitdem blieb eine chine¬
sische Mauer zwischen Bayern und dem übrigen Reiche; die aus dem Prote¬
stantismus erwachsene Kultur ging spurlos an den bayrischen Grenzen vorüber.
Nur das, was nicht bayrisch und nicht österreichisch war, nannte der Bayer
Deutschland, und dieses Deutschland war ihm ein fremdes Wort. Jeder
Deutsche galt als Protestant und umgekehrt; die Bayern fingen an, sich als
Nation zu fühlen. Alles war entartet, abgestorben, tot; das Feld mit den
toten Gebeinen glaubte mau vor sich zu sehen.

Da starb unerwartet schnell Kurfürst Karl Theodor beim L'Hombre-Spiel;
inmitten von rauschendem Festesglanz hatte ihn der Schlag gerührt. So
groß war die Erbitterung gegen ihn, daß bei seinem Leichenzuge die Münchner
dem Sarge Steine nachwarfen mit dem Ausruf: „Der hat uns an Österreich
verkaufen wollen!" In diese neue Welt nun trat Max Joseph. Er hatte
bis ius reife Mmmesalter niemals Aussicht gehabt, eine politische Stellung
einzunehmen. Der nachgebvrue Sohn einer Seitenlinie, hatte er französische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/80>, abgerufen am 28.09.2024.