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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Amber vor Gericht

der Schwerpunkt dieser Änderung weniger in der Frage nach der Zumessung
überhaupt, das heißt in der Frage nach der Bejahung der vollen Zurechnungs¬
fähigkeit liegen wird, als in der Anwendung nicht so hoher Strafarten und
Strafmaße wie für strafrechtlich Volljährige.

Dagegen legt die zuerst erwähnte Richtung das Gewicht auf den Grund,
der überhaupt die gesonderte gesetzgeberische Behandlung der Strafthaten
"Jugendlicher" rechtfertigt, nämlich auf die (infolge mangelnder Altersreife)
"mangelnde Einsicht zur Erkenntnis der Strafbarkeit" der Handlung (wie sich
die für diese Frage maßgebenden ZU 56 und 57 des deutschen Reichsstrafgesetz¬
buchs ausdrücken). Es wird nun hier behauptet -- und diese Frage ist in neuster
Zeit von den beiden beteiligten Ministerien Preußens, dem des Kultus und
der Justiz, der wissenschaftlichen Deputation für das Mediziualweseu zur Prü¬
fung und Begutachtung überwiesen worden --, daß diese zur Erkenntnis der
Strafbarkeit einer Handlung erforderliche Einsicht ganz allgemein erst mit der
Vollendung des durch den Eintritt eines bestimmten Grades der Geschlechts¬
reife (der sogenannten Pubertät) bedeutsamen vierzehnten Lebensjahres ange¬
nommen werden könne, und daß es aus diesem Grunde empfehlenswert sei,
junge Übelthäter erst von diesem Zeitpunkte ab durch den Strafrichter zu be¬
strafen.

Es mag gleich an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß sich der Staat
mit dieser Einschränkung des ordentlichen Strafrechts keineswegs des Rechtes
begiebt, noch der Pflicht entzieht, gegen strafbare Handlungen noch jüngerer
Kinder geeignete Maßregeln allgemein gesetzlich anzuordnen. Nur würden diese
dann nicht auf dem Gebiet des gemeinen Strafrechts, sondern auf dem des
Voriuundschaftsrechtes ihren Platz finden.

In den meisten deutschen Staaten, so insbesondre in Preußen durch die
Gesetze über die strafrechtliche Verfolgung Strafunmündiger vom 13. Mürz
1878, 27. März 1881 und 23. Juni 1884, sind auf Grund des Z 55 des
Reichsstrafgesetzbuchs, der diese Materie ausdrücklich der landesgesetzlichen
Regelung überweist, gesetzliche Bestimmungen in dieser Richtung getroffen,
deren eigentlicher Schwerpunkt darin zu suchen ist, daß der Staat solche
jungen Personen auf Grund von strafbaren Handlungen nicht dem Gericht,
sondern einer besondern Art von Erziehung überweisen kann und diese dann
Zu überwachen hat: das ist die Zwangserziehung. Und da Erziehung begriff¬
lich keine Strafe, sondern eine Wohlthat ist, so ist in diesem Verfahren der
wesentliche Teil des Strafrechts, die Strafe, begrifflich ausgeschlossen; wenigstens
in Bezug auf den Thäter. Als Strafe wirken kann die Maßregel allerdings
gegen ihn, mehr aber noch gegen seine Eltern. Bei diesen erscheint sie dann
auch als verdient, wenn sie durch die Wahrscheinlichkeit begründet wird, daß
bei der Fortdauer ihrer Erziehungsweise die sittliche Verwahrlosung des Thäters
uoch weitere Fortschritte machen werde.


Grenzboten II 1899 86
Amber vor Gericht

der Schwerpunkt dieser Änderung weniger in der Frage nach der Zumessung
überhaupt, das heißt in der Frage nach der Bejahung der vollen Zurechnungs¬
fähigkeit liegen wird, als in der Anwendung nicht so hoher Strafarten und
Strafmaße wie für strafrechtlich Volljährige.

Dagegen legt die zuerst erwähnte Richtung das Gewicht auf den Grund,
der überhaupt die gesonderte gesetzgeberische Behandlung der Strafthaten
„Jugendlicher" rechtfertigt, nämlich auf die (infolge mangelnder Altersreife)
„mangelnde Einsicht zur Erkenntnis der Strafbarkeit" der Handlung (wie sich
die für diese Frage maßgebenden ZU 56 und 57 des deutschen Reichsstrafgesetz¬
buchs ausdrücken). Es wird nun hier behauptet — und diese Frage ist in neuster
Zeit von den beiden beteiligten Ministerien Preußens, dem des Kultus und
der Justiz, der wissenschaftlichen Deputation für das Mediziualweseu zur Prü¬
fung und Begutachtung überwiesen worden —, daß diese zur Erkenntnis der
Strafbarkeit einer Handlung erforderliche Einsicht ganz allgemein erst mit der
Vollendung des durch den Eintritt eines bestimmten Grades der Geschlechts¬
reife (der sogenannten Pubertät) bedeutsamen vierzehnten Lebensjahres ange¬
nommen werden könne, und daß es aus diesem Grunde empfehlenswert sei,
junge Übelthäter erst von diesem Zeitpunkte ab durch den Strafrichter zu be¬
strafen.

Es mag gleich an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß sich der Staat
mit dieser Einschränkung des ordentlichen Strafrechts keineswegs des Rechtes
begiebt, noch der Pflicht entzieht, gegen strafbare Handlungen noch jüngerer
Kinder geeignete Maßregeln allgemein gesetzlich anzuordnen. Nur würden diese
dann nicht auf dem Gebiet des gemeinen Strafrechts, sondern auf dem des
Voriuundschaftsrechtes ihren Platz finden.

In den meisten deutschen Staaten, so insbesondre in Preußen durch die
Gesetze über die strafrechtliche Verfolgung Strafunmündiger vom 13. Mürz
1878, 27. März 1881 und 23. Juni 1884, sind auf Grund des Z 55 des
Reichsstrafgesetzbuchs, der diese Materie ausdrücklich der landesgesetzlichen
Regelung überweist, gesetzliche Bestimmungen in dieser Richtung getroffen,
deren eigentlicher Schwerpunkt darin zu suchen ist, daß der Staat solche
jungen Personen auf Grund von strafbaren Handlungen nicht dem Gericht,
sondern einer besondern Art von Erziehung überweisen kann und diese dann
Zu überwachen hat: das ist die Zwangserziehung. Und da Erziehung begriff¬
lich keine Strafe, sondern eine Wohlthat ist, so ist in diesem Verfahren der
wesentliche Teil des Strafrechts, die Strafe, begrifflich ausgeschlossen; wenigstens
in Bezug auf den Thäter. Als Strafe wirken kann die Maßregel allerdings
gegen ihn, mehr aber noch gegen seine Eltern. Bei diesen erscheint sie dann
auch als verdient, wenn sie durch die Wahrscheinlichkeit begründet wird, daß
bei der Fortdauer ihrer Erziehungsweise die sittliche Verwahrlosung des Thäters
uoch weitere Fortschritte machen werde.


Grenzboten II 1899 86
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[0689] Amber vor Gericht der Schwerpunkt dieser Änderung weniger in der Frage nach der Zumessung überhaupt, das heißt in der Frage nach der Bejahung der vollen Zurechnungs¬ fähigkeit liegen wird, als in der Anwendung nicht so hoher Strafarten und Strafmaße wie für strafrechtlich Volljährige. Dagegen legt die zuerst erwähnte Richtung das Gewicht auf den Grund, der überhaupt die gesonderte gesetzgeberische Behandlung der Strafthaten „Jugendlicher" rechtfertigt, nämlich auf die (infolge mangelnder Altersreife) „mangelnde Einsicht zur Erkenntnis der Strafbarkeit" der Handlung (wie sich die für diese Frage maßgebenden ZU 56 und 57 des deutschen Reichsstrafgesetz¬ buchs ausdrücken). Es wird nun hier behauptet — und diese Frage ist in neuster Zeit von den beiden beteiligten Ministerien Preußens, dem des Kultus und der Justiz, der wissenschaftlichen Deputation für das Mediziualweseu zur Prü¬ fung und Begutachtung überwiesen worden —, daß diese zur Erkenntnis der Strafbarkeit einer Handlung erforderliche Einsicht ganz allgemein erst mit der Vollendung des durch den Eintritt eines bestimmten Grades der Geschlechts¬ reife (der sogenannten Pubertät) bedeutsamen vierzehnten Lebensjahres ange¬ nommen werden könne, und daß es aus diesem Grunde empfehlenswert sei, junge Übelthäter erst von diesem Zeitpunkte ab durch den Strafrichter zu be¬ strafen. Es mag gleich an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß sich der Staat mit dieser Einschränkung des ordentlichen Strafrechts keineswegs des Rechtes begiebt, noch der Pflicht entzieht, gegen strafbare Handlungen noch jüngerer Kinder geeignete Maßregeln allgemein gesetzlich anzuordnen. Nur würden diese dann nicht auf dem Gebiet des gemeinen Strafrechts, sondern auf dem des Voriuundschaftsrechtes ihren Platz finden. In den meisten deutschen Staaten, so insbesondre in Preußen durch die Gesetze über die strafrechtliche Verfolgung Strafunmündiger vom 13. Mürz 1878, 27. März 1881 und 23. Juni 1884, sind auf Grund des Z 55 des Reichsstrafgesetzbuchs, der diese Materie ausdrücklich der landesgesetzlichen Regelung überweist, gesetzliche Bestimmungen in dieser Richtung getroffen, deren eigentlicher Schwerpunkt darin zu suchen ist, daß der Staat solche jungen Personen auf Grund von strafbaren Handlungen nicht dem Gericht, sondern einer besondern Art von Erziehung überweisen kann und diese dann Zu überwachen hat: das ist die Zwangserziehung. Und da Erziehung begriff¬ lich keine Strafe, sondern eine Wohlthat ist, so ist in diesem Verfahren der wesentliche Teil des Strafrechts, die Strafe, begrifflich ausgeschlossen; wenigstens in Bezug auf den Thäter. Als Strafe wirken kann die Maßregel allerdings gegen ihn, mehr aber noch gegen seine Eltern. Bei diesen erscheint sie dann auch als verdient, wenn sie durch die Wahrscheinlichkeit begründet wird, daß bei der Fortdauer ihrer Erziehungsweise die sittliche Verwahrlosung des Thäters uoch weitere Fortschritte machen werde. Grenzboten II 1899 86

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/689>, abgerufen am 28.09.2024.