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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Aus den schwarzen Bergen

höher. Um so wertvoller und somit gänzlich verschieden von unsrer Sitte,
die den Gescing dem Text gegenüber bevorzugt, ist der Inhalt der serbischen
Heldengesänge, der sogenannten Piesmas. Sie erzählen die Geschichte des
Volkes, sein Leben und Lieben, sein Hoffen und Glauben, sie besingen seine
Siege und seine Helden. Skanderbeg, der Albanerfürst, ist einer von ihnen,
deren das Lied oft gedenkt, Marko Kraljewitsch der Königssohn ein andrer,
und gern wird besonders in der Gegenwart der Geist Iwan Begs, der, ein
zweiter Barbarossa, noch heute in seiner Burg schläft, bis sein Serbenvolk
wieder einig sein wird, heraufbeschworen. Das Piesma gedenkt auch oft der
Wilas, der altheidnischen Vorfahren, der guten Feen mit den langen flatternden
Haaren und den weißen Prunkgewündern, die dem im Karst Verdurstenden
verborgne Quellen zeigen, dem in der Schlacht Verwundeten lindernde Kräuter
auflegen, die noch heute das Serbenvolk beschützen und mit seinen Helden
Bundesbrüderschaft schließen und nur denen gram werden, die sie nächtlicher¬
weile beim Kolotanz überraschen.

Viele Gesänge erzählen von Heidukeuleid und -Rache, von diesem rebellischen
Bauern, der an ^"aufs vondonimö des französischen Bauernaufruhrs erinnern
würde, wäre nicht sein räuberischer Aufstand gleichzeitig gegen einen Feind
seines Glaubens und seiner Nation gerichtet gewesen. Da wird erzählt, wie
der Bedrücker, ein wollüstiger Pascha, ein habgieriger Sipahi, ein übermütiger
Aga des armen Najahs Haus geplündert, Kuh und Pferd davongetrieben, die
Äcker verwüstet und die jammernden Weiber geschändet habe. Der Bauer ist
Rache brütend in das Gebirge, in die verschwiegnen Höhlen der Herzegowina
entflohen, in einsamem Bergversteck fand er rauhe Unterkunft und Brüder, die
ein gleiches Unbill zu Heiduken gemacht hatte. Bald sind die mutigen Räuber
der Schrecken der Umgegend geworden, sie lauerten den nach Stambul ab¬
gehenden Geldsendungen auf, sie setzten den Begs den roten Hahn aufs Haus,
und mancher Pascha schloß gar mit ihnen ein gütliches Übereinkommen: das
serbische Piesma verherrlichte diese Thaten freier, starker, unbezähmbarer
Männer, der Vater sang sie zur Gusla dem Sohne, der Sohn dem Enkel;
oft war auch der Heiduke selbst ein begabter Rhapsode und sang dem Wirte,
der ihn, wenn die kalte Bom über die nackten Felsen strich oder der Schnee¬
sturm über dem Karst wehte, vor Türkenrache barg, sein eignes und seiner
Kameraden Jammer und Lust beim Herdfeuer des Abends -- gerade so wie
uns der Sänger dort drüben.

(AmnMr ä<z klein, o'sse olnmg'ör alö -Mois, sagt der vielgereiste Marquis
de Custine irgendwo. Ähnelt nicht die serbische Nationalpoesie, nicht nur in
ihren vielen Wiederholungen, der behaglichen Breite der Entwicklung, in den
höhnenden und schmeichelnden Beinamen, die Freund und Feind gegeben
werden, sondern auch ein wenig in der köstlichen Frische, der jugendlichen
Naivität der Auffassung, der andern südlichen Schwester, die vor mehreren
tausend Jahren in Hellas geboren wurde? Und ist es uns nicht gerade hier


Aus den schwarzen Bergen

höher. Um so wertvoller und somit gänzlich verschieden von unsrer Sitte,
die den Gescing dem Text gegenüber bevorzugt, ist der Inhalt der serbischen
Heldengesänge, der sogenannten Piesmas. Sie erzählen die Geschichte des
Volkes, sein Leben und Lieben, sein Hoffen und Glauben, sie besingen seine
Siege und seine Helden. Skanderbeg, der Albanerfürst, ist einer von ihnen,
deren das Lied oft gedenkt, Marko Kraljewitsch der Königssohn ein andrer,
und gern wird besonders in der Gegenwart der Geist Iwan Begs, der, ein
zweiter Barbarossa, noch heute in seiner Burg schläft, bis sein Serbenvolk
wieder einig sein wird, heraufbeschworen. Das Piesma gedenkt auch oft der
Wilas, der altheidnischen Vorfahren, der guten Feen mit den langen flatternden
Haaren und den weißen Prunkgewündern, die dem im Karst Verdurstenden
verborgne Quellen zeigen, dem in der Schlacht Verwundeten lindernde Kräuter
auflegen, die noch heute das Serbenvolk beschützen und mit seinen Helden
Bundesbrüderschaft schließen und nur denen gram werden, die sie nächtlicher¬
weile beim Kolotanz überraschen.

Viele Gesänge erzählen von Heidukeuleid und -Rache, von diesem rebellischen
Bauern, der an ^«aufs vondonimö des französischen Bauernaufruhrs erinnern
würde, wäre nicht sein räuberischer Aufstand gleichzeitig gegen einen Feind
seines Glaubens und seiner Nation gerichtet gewesen. Da wird erzählt, wie
der Bedrücker, ein wollüstiger Pascha, ein habgieriger Sipahi, ein übermütiger
Aga des armen Najahs Haus geplündert, Kuh und Pferd davongetrieben, die
Äcker verwüstet und die jammernden Weiber geschändet habe. Der Bauer ist
Rache brütend in das Gebirge, in die verschwiegnen Höhlen der Herzegowina
entflohen, in einsamem Bergversteck fand er rauhe Unterkunft und Brüder, die
ein gleiches Unbill zu Heiduken gemacht hatte. Bald sind die mutigen Räuber
der Schrecken der Umgegend geworden, sie lauerten den nach Stambul ab¬
gehenden Geldsendungen auf, sie setzten den Begs den roten Hahn aufs Haus,
und mancher Pascha schloß gar mit ihnen ein gütliches Übereinkommen: das
serbische Piesma verherrlichte diese Thaten freier, starker, unbezähmbarer
Männer, der Vater sang sie zur Gusla dem Sohne, der Sohn dem Enkel;
oft war auch der Heiduke selbst ein begabter Rhapsode und sang dem Wirte,
der ihn, wenn die kalte Bom über die nackten Felsen strich oder der Schnee¬
sturm über dem Karst wehte, vor Türkenrache barg, sein eignes und seiner
Kameraden Jammer und Lust beim Herdfeuer des Abends — gerade so wie
uns der Sänger dort drüben.

(AmnMr ä<z klein, o'sse olnmg'ör alö -Mois, sagt der vielgereiste Marquis
de Custine irgendwo. Ähnelt nicht die serbische Nationalpoesie, nicht nur in
ihren vielen Wiederholungen, der behaglichen Breite der Entwicklung, in den
höhnenden und schmeichelnden Beinamen, die Freund und Feind gegeben
werden, sondern auch ein wenig in der köstlichen Frische, der jugendlichen
Naivität der Auffassung, der andern südlichen Schwester, die vor mehreren
tausend Jahren in Hellas geboren wurde? Und ist es uns nicht gerade hier


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[0663] Aus den schwarzen Bergen höher. Um so wertvoller und somit gänzlich verschieden von unsrer Sitte, die den Gescing dem Text gegenüber bevorzugt, ist der Inhalt der serbischen Heldengesänge, der sogenannten Piesmas. Sie erzählen die Geschichte des Volkes, sein Leben und Lieben, sein Hoffen und Glauben, sie besingen seine Siege und seine Helden. Skanderbeg, der Albanerfürst, ist einer von ihnen, deren das Lied oft gedenkt, Marko Kraljewitsch der Königssohn ein andrer, und gern wird besonders in der Gegenwart der Geist Iwan Begs, der, ein zweiter Barbarossa, noch heute in seiner Burg schläft, bis sein Serbenvolk wieder einig sein wird, heraufbeschworen. Das Piesma gedenkt auch oft der Wilas, der altheidnischen Vorfahren, der guten Feen mit den langen flatternden Haaren und den weißen Prunkgewündern, die dem im Karst Verdurstenden verborgne Quellen zeigen, dem in der Schlacht Verwundeten lindernde Kräuter auflegen, die noch heute das Serbenvolk beschützen und mit seinen Helden Bundesbrüderschaft schließen und nur denen gram werden, die sie nächtlicher¬ weile beim Kolotanz überraschen. Viele Gesänge erzählen von Heidukeuleid und -Rache, von diesem rebellischen Bauern, der an ^«aufs vondonimö des französischen Bauernaufruhrs erinnern würde, wäre nicht sein räuberischer Aufstand gleichzeitig gegen einen Feind seines Glaubens und seiner Nation gerichtet gewesen. Da wird erzählt, wie der Bedrücker, ein wollüstiger Pascha, ein habgieriger Sipahi, ein übermütiger Aga des armen Najahs Haus geplündert, Kuh und Pferd davongetrieben, die Äcker verwüstet und die jammernden Weiber geschändet habe. Der Bauer ist Rache brütend in das Gebirge, in die verschwiegnen Höhlen der Herzegowina entflohen, in einsamem Bergversteck fand er rauhe Unterkunft und Brüder, die ein gleiches Unbill zu Heiduken gemacht hatte. Bald sind die mutigen Räuber der Schrecken der Umgegend geworden, sie lauerten den nach Stambul ab¬ gehenden Geldsendungen auf, sie setzten den Begs den roten Hahn aufs Haus, und mancher Pascha schloß gar mit ihnen ein gütliches Übereinkommen: das serbische Piesma verherrlichte diese Thaten freier, starker, unbezähmbarer Männer, der Vater sang sie zur Gusla dem Sohne, der Sohn dem Enkel; oft war auch der Heiduke selbst ein begabter Rhapsode und sang dem Wirte, der ihn, wenn die kalte Bom über die nackten Felsen strich oder der Schnee¬ sturm über dem Karst wehte, vor Türkenrache barg, sein eignes und seiner Kameraden Jammer und Lust beim Herdfeuer des Abends — gerade so wie uns der Sänger dort drüben. (AmnMr ä<z klein, o'sse olnmg'ör alö -Mois, sagt der vielgereiste Marquis de Custine irgendwo. Ähnelt nicht die serbische Nationalpoesie, nicht nur in ihren vielen Wiederholungen, der behaglichen Breite der Entwicklung, in den höhnenden und schmeichelnden Beinamen, die Freund und Feind gegeben werden, sondern auch ein wenig in der köstlichen Frische, der jugendlichen Naivität der Auffassung, der andern südlichen Schwester, die vor mehreren tausend Jahren in Hellas geboren wurde? Und ist es uns nicht gerade hier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/663>, abgerufen am 28.09.2024.