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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Dekorative Kunst

ansehen sollen, und der Hinweis auf den Primitivisten Maeterlinck wird ihnen
für Minne nicht gerade empfehlend scheinen. Findet aber jemand umgekehrt
feine Freude daran, die Skulptur nach dreitausend Jahren einmal wieder ver¬
suchsweise auf das Niveau eines Düdalischen Schnitzbildes zurückgeschraubt zu
sehen, so darf man ihm seine Freude gönnen, ohne daß man sich dadurch auf
die Formel der dekorativen Skulptur verpflichtet hätte.

"Es giebt Kleinskulpturen in unendlicher Fülle, sagt der Verfasser im
Anfang seines Aufsatzes, reizende Sächelchen, die man dekorativ nennt, weil
sie niedlich sind; das, was dekorative Skulptur heißt, davon haben heute nur
wenige einen bestimmbaren Begriff." Dürfen wir uns nicht zu diesen wenigen
rechnen, so wollen wir uns dafür an einer Sammlung solcher reizenden
Sächelchen entschädigen, die gerade zur rechten Zeit bei Julius Hoffmann in
Stuttgart erschienen ist: "Die französischen Medailleure unsrer Zeit.
Eine Sammlung von 442 Medaillen und Plciquetten, herausgegeben und mit
einem Vorwort versehen von Roger Marx" (32 Tafeln Hochquart in Mappe).
Wundervoll klar giebt scharfer Lichtdruck bei verschiedner Tönung diese aller¬
liebsten Kunstwerke wieder, die in ihrer Kleinheit oft einen so großen Stil
zeigen. Es sind Porträtköpfe und Figurengruppen, manchmal in Landschaft
gestellt, darunter Historisches, Gelegenheitsdarstellungen, Allegorien und Genre¬
bilder. Strenge Stilisierung, malerische Auffassung, ganz freier Naturalismus
wechseln je nach den Künstlern ab. Manche Aufgaben scheinen ganz vor der
Natur gelöst zu sein, hier findet man des Bewunderns kein Ende unter der
Menge so ganz verschieden wiedergegebner Bildnisse, Frauen- und Kinderköpfe,
bei andern wieder spielt die ältere Kunst als Vorbild mit hinein, die franzö¬
sische, aber auch die italienische, andre endlich zeigen allerlei Grade des Anti-
kisierens. Und doch, wie echt französisch sind alle diese Bilder! Wie leicht
ist es dem Romanen gemacht, national zu bleiben, er braucht die lange latei¬
nische Schulung nicht aufzugeben. Wie viel "Renaissance" hat unsre angel¬
sächsisch-germanische Moderne erst abzuschütteln, ehe sie zu ihrem Linicn-
geschlinge gelangt, worin sie sich volkstümlich und der Gotik nahe vorkommen
darf! Nun wollen wir aber nicht vergessen, daß das gotische Ornament doch
viel mehr sachliches und Naturinhalt hat. Damals und in der romanischen
Zeit schufen wir Deutsche noch mit an den Schmuckformen der historischen
Stile, später haben wir diese Begabung verloren, unsre besten Ornamentisten
folgen beim Einbruch der Renaissance den Italienern doch nur mit Abständen
nach, wie ja auch die Holländer, denen wir die moderne Malerei verdanken,
keinen Sinn für dekorative Formen haben und in den Niederlanden überhaupt
sich alles importierte Ornament vergröbert. Die Franzosen sind also die
letzten Besitzer dieses historischen, von der Antike her angesammelten Formen-
schatzes (denn die heutigen Italiener sind nicht mehr zu rechnen), sie schalten
frei damit, wie die Erben des Hauses; den andern ist es zugewandtes Gut,


Dekorative Kunst

ansehen sollen, und der Hinweis auf den Primitivisten Maeterlinck wird ihnen
für Minne nicht gerade empfehlend scheinen. Findet aber jemand umgekehrt
feine Freude daran, die Skulptur nach dreitausend Jahren einmal wieder ver¬
suchsweise auf das Niveau eines Düdalischen Schnitzbildes zurückgeschraubt zu
sehen, so darf man ihm seine Freude gönnen, ohne daß man sich dadurch auf
die Formel der dekorativen Skulptur verpflichtet hätte.

„Es giebt Kleinskulpturen in unendlicher Fülle, sagt der Verfasser im
Anfang seines Aufsatzes, reizende Sächelchen, die man dekorativ nennt, weil
sie niedlich sind; das, was dekorative Skulptur heißt, davon haben heute nur
wenige einen bestimmbaren Begriff." Dürfen wir uns nicht zu diesen wenigen
rechnen, so wollen wir uns dafür an einer Sammlung solcher reizenden
Sächelchen entschädigen, die gerade zur rechten Zeit bei Julius Hoffmann in
Stuttgart erschienen ist: „Die französischen Medailleure unsrer Zeit.
Eine Sammlung von 442 Medaillen und Plciquetten, herausgegeben und mit
einem Vorwort versehen von Roger Marx" (32 Tafeln Hochquart in Mappe).
Wundervoll klar giebt scharfer Lichtdruck bei verschiedner Tönung diese aller¬
liebsten Kunstwerke wieder, die in ihrer Kleinheit oft einen so großen Stil
zeigen. Es sind Porträtköpfe und Figurengruppen, manchmal in Landschaft
gestellt, darunter Historisches, Gelegenheitsdarstellungen, Allegorien und Genre¬
bilder. Strenge Stilisierung, malerische Auffassung, ganz freier Naturalismus
wechseln je nach den Künstlern ab. Manche Aufgaben scheinen ganz vor der
Natur gelöst zu sein, hier findet man des Bewunderns kein Ende unter der
Menge so ganz verschieden wiedergegebner Bildnisse, Frauen- und Kinderköpfe,
bei andern wieder spielt die ältere Kunst als Vorbild mit hinein, die franzö¬
sische, aber auch die italienische, andre endlich zeigen allerlei Grade des Anti-
kisierens. Und doch, wie echt französisch sind alle diese Bilder! Wie leicht
ist es dem Romanen gemacht, national zu bleiben, er braucht die lange latei¬
nische Schulung nicht aufzugeben. Wie viel „Renaissance" hat unsre angel¬
sächsisch-germanische Moderne erst abzuschütteln, ehe sie zu ihrem Linicn-
geschlinge gelangt, worin sie sich volkstümlich und der Gotik nahe vorkommen
darf! Nun wollen wir aber nicht vergessen, daß das gotische Ornament doch
viel mehr sachliches und Naturinhalt hat. Damals und in der romanischen
Zeit schufen wir Deutsche noch mit an den Schmuckformen der historischen
Stile, später haben wir diese Begabung verloren, unsre besten Ornamentisten
folgen beim Einbruch der Renaissance den Italienern doch nur mit Abständen
nach, wie ja auch die Holländer, denen wir die moderne Malerei verdanken,
keinen Sinn für dekorative Formen haben und in den Niederlanden überhaupt
sich alles importierte Ornament vergröbert. Die Franzosen sind also die
letzten Besitzer dieses historischen, von der Antike her angesammelten Formen-
schatzes (denn die heutigen Italiener sind nicht mehr zu rechnen), sie schalten
frei damit, wie die Erben des Hauses; den andern ist es zugewandtes Gut,


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[0651] Dekorative Kunst ansehen sollen, und der Hinweis auf den Primitivisten Maeterlinck wird ihnen für Minne nicht gerade empfehlend scheinen. Findet aber jemand umgekehrt feine Freude daran, die Skulptur nach dreitausend Jahren einmal wieder ver¬ suchsweise auf das Niveau eines Düdalischen Schnitzbildes zurückgeschraubt zu sehen, so darf man ihm seine Freude gönnen, ohne daß man sich dadurch auf die Formel der dekorativen Skulptur verpflichtet hätte. „Es giebt Kleinskulpturen in unendlicher Fülle, sagt der Verfasser im Anfang seines Aufsatzes, reizende Sächelchen, die man dekorativ nennt, weil sie niedlich sind; das, was dekorative Skulptur heißt, davon haben heute nur wenige einen bestimmbaren Begriff." Dürfen wir uns nicht zu diesen wenigen rechnen, so wollen wir uns dafür an einer Sammlung solcher reizenden Sächelchen entschädigen, die gerade zur rechten Zeit bei Julius Hoffmann in Stuttgart erschienen ist: „Die französischen Medailleure unsrer Zeit. Eine Sammlung von 442 Medaillen und Plciquetten, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Roger Marx" (32 Tafeln Hochquart in Mappe). Wundervoll klar giebt scharfer Lichtdruck bei verschiedner Tönung diese aller¬ liebsten Kunstwerke wieder, die in ihrer Kleinheit oft einen so großen Stil zeigen. Es sind Porträtköpfe und Figurengruppen, manchmal in Landschaft gestellt, darunter Historisches, Gelegenheitsdarstellungen, Allegorien und Genre¬ bilder. Strenge Stilisierung, malerische Auffassung, ganz freier Naturalismus wechseln je nach den Künstlern ab. Manche Aufgaben scheinen ganz vor der Natur gelöst zu sein, hier findet man des Bewunderns kein Ende unter der Menge so ganz verschieden wiedergegebner Bildnisse, Frauen- und Kinderköpfe, bei andern wieder spielt die ältere Kunst als Vorbild mit hinein, die franzö¬ sische, aber auch die italienische, andre endlich zeigen allerlei Grade des Anti- kisierens. Und doch, wie echt französisch sind alle diese Bilder! Wie leicht ist es dem Romanen gemacht, national zu bleiben, er braucht die lange latei¬ nische Schulung nicht aufzugeben. Wie viel „Renaissance" hat unsre angel¬ sächsisch-germanische Moderne erst abzuschütteln, ehe sie zu ihrem Linicn- geschlinge gelangt, worin sie sich volkstümlich und der Gotik nahe vorkommen darf! Nun wollen wir aber nicht vergessen, daß das gotische Ornament doch viel mehr sachliches und Naturinhalt hat. Damals und in der romanischen Zeit schufen wir Deutsche noch mit an den Schmuckformen der historischen Stile, später haben wir diese Begabung verloren, unsre besten Ornamentisten folgen beim Einbruch der Renaissance den Italienern doch nur mit Abständen nach, wie ja auch die Holländer, denen wir die moderne Malerei verdanken, keinen Sinn für dekorative Formen haben und in den Niederlanden überhaupt sich alles importierte Ornament vergröbert. Die Franzosen sind also die letzten Besitzer dieses historischen, von der Antike her angesammelten Formen- schatzes (denn die heutigen Italiener sind nicht mehr zu rechnen), sie schalten frei damit, wie die Erben des Hauses; den andern ist es zugewandtes Gut,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/651>, abgerufen am 28.09.2024.