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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Dekorative Aunst

für die belgischen Sozialdemokraten ein Denkmal ihres Führers Volders machen.
Er gab ihnen zwei nackte Männer, Schnitzfiguren ohne Gesichtsausdruck, die
auf den Rändern eines schaukelnden Kahns stehn und einander zugewandt sich
balancierend stützen, ihre Arme berühren sich kaum, aber diese schematische An¬
deutung ist "das Beste, was der Moderne von den Alten gelernt hat," besser
als die alltägliche, ausführlich beschreibende Skulptur. Seine Auftraggeber
verstanden das nicht, sie zogen den Auftrag zurück. "Die Herren Sozialisten
haben bewiesen, daß sie in Kunstdingen zum mindesten nicht besser sind als
die andern." Ja warum sollten sie auch, wird der verehrte Leser mit uns
denken, wenn er die Abbildung ansieht. Minne, so hören wir weiter, ist zu¬
nächst von dem Franzosen Robim beeinflußt worden, aber während dieser mit
seinem Überfluß nicht hinwußte und darum nicht "monumental" wirken kann
(denn monumental sei ornamental, unsachlich, einfach), hat der Vlamlünder,
ein Mann des Volkes und frommer Katholik, in voller Naivität die summa¬
rische Behandlung und den ornamentalen Linienausdruck der alten einheimischen
Gotiker wiedergewonnen. Er hat die Kraft des Germanentums, die einst den
von "dem Wurm raffinierter Svnderkunst" angenagten Italienern ebenso bar¬
barisch vorkommen mußte, wie sie heute der an der Antike und den Florentinern
genährten Kunst eines Hildebrand oder Klinger entgegengesetzt ist. Minnes
Kunst hat ihr Leben durch große Linien und Umrisse, sie flieht die Lüsternheit,
liebt das Magere, die "Poesie der unentwickelten Glieder" und gewährt Er¬
regungen, deren Ursprung nichts mit dem sachlichen zu thun hat und die
allein künstlerische Empfindungen sind. Der kundige Leser sieht sich allhier
in die Kreise des krausen Wundermanns Ruskin gezogen, dessen Zauberformeln
schon manchen berückt haben. Der Verfasser findet es selbstverständlich, wenn
sein Künstler eine Körperform bedeutend verlängert, die die Natur zum Sitzen
bestimmt hat; wenn er ihr gefolgt wäre, hätte er seine Linien verdorben. Er
giebt den Kritikern einer andern Figur zu, daß dieser knieende Körper, wenn
er lebte, vornüber fallen müßte. "Die Stellung ist unmöglich, und trotzdem
wird sie sich ein Mensch, der dieser Kunst überhaupt zugänglich ist, nicht anders
zu wünschen wagen." Der Künstler folgte nicht anatomisch-mechanischen Be¬
rechnungen, sondern seinem Schönheitsgefühl und seinen Linien; was in der
Natur richtig ist, wäre hier Irrtum, und wer das nicht findet, "hat von dem
innersten Wesen von Kunst und Natur nicht den leisesten Schimmer." Un¬
geachtet dieser wenig erfreulichen Folgerung werden doch manche Leser mit uns
das dunkle Gefühl nicht unterdrücken mögen, daß Freiheiten, die z. B. dem
angelsächsischen Buchmaler erlaubt waren und sogar als Vorzüge angerechnet
werden konnten, in die Körperlichkeit der Skulptur übersetzt uns wunderlich
vorkommen. Sie werden auch nicht einsehen, warum sie, was ihnen auf den
ersten Blick archaistisch erscheint, sür natürlich halten, warum sie einen Exotiker
(Gauguin in Paris), der seine Muster aus Tahiti bezieht, nicht als affektiert


Dekorative Aunst

für die belgischen Sozialdemokraten ein Denkmal ihres Führers Volders machen.
Er gab ihnen zwei nackte Männer, Schnitzfiguren ohne Gesichtsausdruck, die
auf den Rändern eines schaukelnden Kahns stehn und einander zugewandt sich
balancierend stützen, ihre Arme berühren sich kaum, aber diese schematische An¬
deutung ist „das Beste, was der Moderne von den Alten gelernt hat," besser
als die alltägliche, ausführlich beschreibende Skulptur. Seine Auftraggeber
verstanden das nicht, sie zogen den Auftrag zurück. „Die Herren Sozialisten
haben bewiesen, daß sie in Kunstdingen zum mindesten nicht besser sind als
die andern." Ja warum sollten sie auch, wird der verehrte Leser mit uns
denken, wenn er die Abbildung ansieht. Minne, so hören wir weiter, ist zu¬
nächst von dem Franzosen Robim beeinflußt worden, aber während dieser mit
seinem Überfluß nicht hinwußte und darum nicht „monumental" wirken kann
(denn monumental sei ornamental, unsachlich, einfach), hat der Vlamlünder,
ein Mann des Volkes und frommer Katholik, in voller Naivität die summa¬
rische Behandlung und den ornamentalen Linienausdruck der alten einheimischen
Gotiker wiedergewonnen. Er hat die Kraft des Germanentums, die einst den
von „dem Wurm raffinierter Svnderkunst" angenagten Italienern ebenso bar¬
barisch vorkommen mußte, wie sie heute der an der Antike und den Florentinern
genährten Kunst eines Hildebrand oder Klinger entgegengesetzt ist. Minnes
Kunst hat ihr Leben durch große Linien und Umrisse, sie flieht die Lüsternheit,
liebt das Magere, die „Poesie der unentwickelten Glieder" und gewährt Er¬
regungen, deren Ursprung nichts mit dem sachlichen zu thun hat und die
allein künstlerische Empfindungen sind. Der kundige Leser sieht sich allhier
in die Kreise des krausen Wundermanns Ruskin gezogen, dessen Zauberformeln
schon manchen berückt haben. Der Verfasser findet es selbstverständlich, wenn
sein Künstler eine Körperform bedeutend verlängert, die die Natur zum Sitzen
bestimmt hat; wenn er ihr gefolgt wäre, hätte er seine Linien verdorben. Er
giebt den Kritikern einer andern Figur zu, daß dieser knieende Körper, wenn
er lebte, vornüber fallen müßte. „Die Stellung ist unmöglich, und trotzdem
wird sie sich ein Mensch, der dieser Kunst überhaupt zugänglich ist, nicht anders
zu wünschen wagen." Der Künstler folgte nicht anatomisch-mechanischen Be¬
rechnungen, sondern seinem Schönheitsgefühl und seinen Linien; was in der
Natur richtig ist, wäre hier Irrtum, und wer das nicht findet, „hat von dem
innersten Wesen von Kunst und Natur nicht den leisesten Schimmer." Un¬
geachtet dieser wenig erfreulichen Folgerung werden doch manche Leser mit uns
das dunkle Gefühl nicht unterdrücken mögen, daß Freiheiten, die z. B. dem
angelsächsischen Buchmaler erlaubt waren und sogar als Vorzüge angerechnet
werden konnten, in die Körperlichkeit der Skulptur übersetzt uns wunderlich
vorkommen. Sie werden auch nicht einsehen, warum sie, was ihnen auf den
ersten Blick archaistisch erscheint, sür natürlich halten, warum sie einen Exotiker
(Gauguin in Paris), der seine Muster aus Tahiti bezieht, nicht als affektiert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/650>, abgerufen am 28.09.2024.