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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Dekorative Kunst

ist aber, wie uns ein Aufsatz über ihn im Pari (IV, 2) belehrt, ein Fortschritt
gewesen. Nämlich "alle bildende Kunst war ursprünglich ein dekoratives Mittel,
erst als Raffael begann in seiner Madonna die Mutter zu schildern, hörte
er auf dekorativ zu sein. Hiermit begann die ganze Malerei eine erzählende
Kunst zu werden, bis in unsern Tagen eine Wandlung beginnt." Also von
Raffael bis Behrens, wenn man die unnötigen Zwischenglieder wegläßt! Diese
dekorative Kunst will gar nicht einmal mehr abkürzen, das Wesentliche geben,
auch nicht symbolisch darstellen, sondern überhaupt gar nicht schildern oder
erzählen, nur ein "intensives Erleben in Linien" mitteilen. Der Japaner
Hokusai hat noch z. B. die Welle als Sache oder Vorgang wiedergegeben;
Behrens giebt, was seine Hand "mitmacht," wenn er die Welle sieht. Wir
stehen also hier "bei derjenigen Kunst, die nicht sagen will: So ists, sondern
einzig und allein: So will ichs!" Schöne Aussichten denn also, wenn die
Malerei erst von den Bildern auf die Rahmen springt und dann in freien
"Zwecklinien" weiter tanzt. Zur Erholung sieht sich der Leser vielleicht einen
Aufsatz Bodes (Pan IV, 4) an von geradezu stupender Sicherheit des Urteils,
über italienische, niederländische und französische Bilderrahmen aus den Zeiten,
wo die Bilder noch die Hauptsache waren.

Denn nun müssen wir noch einen Blick in die dekorative Plastik thun,
die freilich noch ganz in ihren Anfängen steht. Den "unheimlich geschickten
Dekorationsbildhauer Vegas," der hier natürlich nicht mitgemeint ist, weil er
ja nur den historischen Barock mit etwas frischer Modellzufuhr verstochen hat,
können wir auf sich beruhen lassen, da wir darüber mit der Münchner Zeit¬
schrift (2) einverstanden sind. Auch darüber, daß Auguste Robim bei aller
Anlehnung an Michelangelo ein ganz persönlich wirkender Bildhauer ist, und
daß seine "Pferde von Nancy," seine "Bürger von Calais" und sein "Kriegs¬
engel" (5) mehr Eindruck machen als die meisten Denkmäler unsers Jahr¬
hunderts. Aber er ist "ohne den leisesten Begriff von Architektur," ganz
malerisch, wie auch meistens sein großer belgischer Fachgenosse Constantin
Meunier, von dem ein schönes Relief, die Ernte, für das "Denkmal der Arbeit"
mitgeteilt wird (7), und man sieht nicht, wie diese malerische Plastik je zu
einer dekorativen Kunst hinleiten soll, die alle Naturerscheinung abkürzt, gleichsam
aus der Ferne sieht und auf Flächen und Linien zurückführt. Es ist ganz
richtig, daß "die Konvenienz einer spezifisch modernen Skulptur nur erst in
vagen Umrissen gedacht werden kann," schon weil sich unsre Zeit fast allein
für Malerei interessiert. Ganz äußerlich scheint uns diese Lücke gefüllt zu
werden, wenn die Bildhauer vor aller Ausführung Halt machen und sich mit
dem angehauenen Steine, dem Bozzo, wie der Italiener sagt, begnügen. Der¬
artige unfertige Figürchen in Bronze oder Marmor, wie sie sich in diesen
Heften unter andern Ausstellungsobjekten abgebildet finden, find für jeden ge¬
bildeten und an den Produkten der Kunstgeschichte genährten Geschmack einfach


Dekorative Kunst

ist aber, wie uns ein Aufsatz über ihn im Pari (IV, 2) belehrt, ein Fortschritt
gewesen. Nämlich „alle bildende Kunst war ursprünglich ein dekoratives Mittel,
erst als Raffael begann in seiner Madonna die Mutter zu schildern, hörte
er auf dekorativ zu sein. Hiermit begann die ganze Malerei eine erzählende
Kunst zu werden, bis in unsern Tagen eine Wandlung beginnt." Also von
Raffael bis Behrens, wenn man die unnötigen Zwischenglieder wegläßt! Diese
dekorative Kunst will gar nicht einmal mehr abkürzen, das Wesentliche geben,
auch nicht symbolisch darstellen, sondern überhaupt gar nicht schildern oder
erzählen, nur ein „intensives Erleben in Linien" mitteilen. Der Japaner
Hokusai hat noch z. B. die Welle als Sache oder Vorgang wiedergegeben;
Behrens giebt, was seine Hand „mitmacht," wenn er die Welle sieht. Wir
stehen also hier „bei derjenigen Kunst, die nicht sagen will: So ists, sondern
einzig und allein: So will ichs!" Schöne Aussichten denn also, wenn die
Malerei erst von den Bildern auf die Rahmen springt und dann in freien
„Zwecklinien" weiter tanzt. Zur Erholung sieht sich der Leser vielleicht einen
Aufsatz Bodes (Pan IV, 4) an von geradezu stupender Sicherheit des Urteils,
über italienische, niederländische und französische Bilderrahmen aus den Zeiten,
wo die Bilder noch die Hauptsache waren.

Denn nun müssen wir noch einen Blick in die dekorative Plastik thun,
die freilich noch ganz in ihren Anfängen steht. Den „unheimlich geschickten
Dekorationsbildhauer Vegas," der hier natürlich nicht mitgemeint ist, weil er
ja nur den historischen Barock mit etwas frischer Modellzufuhr verstochen hat,
können wir auf sich beruhen lassen, da wir darüber mit der Münchner Zeit¬
schrift (2) einverstanden sind. Auch darüber, daß Auguste Robim bei aller
Anlehnung an Michelangelo ein ganz persönlich wirkender Bildhauer ist, und
daß seine „Pferde von Nancy," seine „Bürger von Calais" und sein „Kriegs¬
engel" (5) mehr Eindruck machen als die meisten Denkmäler unsers Jahr¬
hunderts. Aber er ist „ohne den leisesten Begriff von Architektur," ganz
malerisch, wie auch meistens sein großer belgischer Fachgenosse Constantin
Meunier, von dem ein schönes Relief, die Ernte, für das „Denkmal der Arbeit"
mitgeteilt wird (7), und man sieht nicht, wie diese malerische Plastik je zu
einer dekorativen Kunst hinleiten soll, die alle Naturerscheinung abkürzt, gleichsam
aus der Ferne sieht und auf Flächen und Linien zurückführt. Es ist ganz
richtig, daß „die Konvenienz einer spezifisch modernen Skulptur nur erst in
vagen Umrissen gedacht werden kann," schon weil sich unsre Zeit fast allein
für Malerei interessiert. Ganz äußerlich scheint uns diese Lücke gefüllt zu
werden, wenn die Bildhauer vor aller Ausführung Halt machen und sich mit
dem angehauenen Steine, dem Bozzo, wie der Italiener sagt, begnügen. Der¬
artige unfertige Figürchen in Bronze oder Marmor, wie sie sich in diesen
Heften unter andern Ausstellungsobjekten abgebildet finden, find für jeden ge¬
bildeten und an den Produkten der Kunstgeschichte genährten Geschmack einfach


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[0648] Dekorative Kunst ist aber, wie uns ein Aufsatz über ihn im Pari (IV, 2) belehrt, ein Fortschritt gewesen. Nämlich „alle bildende Kunst war ursprünglich ein dekoratives Mittel, erst als Raffael begann in seiner Madonna die Mutter zu schildern, hörte er auf dekorativ zu sein. Hiermit begann die ganze Malerei eine erzählende Kunst zu werden, bis in unsern Tagen eine Wandlung beginnt." Also von Raffael bis Behrens, wenn man die unnötigen Zwischenglieder wegläßt! Diese dekorative Kunst will gar nicht einmal mehr abkürzen, das Wesentliche geben, auch nicht symbolisch darstellen, sondern überhaupt gar nicht schildern oder erzählen, nur ein „intensives Erleben in Linien" mitteilen. Der Japaner Hokusai hat noch z. B. die Welle als Sache oder Vorgang wiedergegeben; Behrens giebt, was seine Hand „mitmacht," wenn er die Welle sieht. Wir stehen also hier „bei derjenigen Kunst, die nicht sagen will: So ists, sondern einzig und allein: So will ichs!" Schöne Aussichten denn also, wenn die Malerei erst von den Bildern auf die Rahmen springt und dann in freien „Zwecklinien" weiter tanzt. Zur Erholung sieht sich der Leser vielleicht einen Aufsatz Bodes (Pan IV, 4) an von geradezu stupender Sicherheit des Urteils, über italienische, niederländische und französische Bilderrahmen aus den Zeiten, wo die Bilder noch die Hauptsache waren. Denn nun müssen wir noch einen Blick in die dekorative Plastik thun, die freilich noch ganz in ihren Anfängen steht. Den „unheimlich geschickten Dekorationsbildhauer Vegas," der hier natürlich nicht mitgemeint ist, weil er ja nur den historischen Barock mit etwas frischer Modellzufuhr verstochen hat, können wir auf sich beruhen lassen, da wir darüber mit der Münchner Zeit¬ schrift (2) einverstanden sind. Auch darüber, daß Auguste Robim bei aller Anlehnung an Michelangelo ein ganz persönlich wirkender Bildhauer ist, und daß seine „Pferde von Nancy," seine „Bürger von Calais" und sein „Kriegs¬ engel" (5) mehr Eindruck machen als die meisten Denkmäler unsers Jahr¬ hunderts. Aber er ist „ohne den leisesten Begriff von Architektur," ganz malerisch, wie auch meistens sein großer belgischer Fachgenosse Constantin Meunier, von dem ein schönes Relief, die Ernte, für das „Denkmal der Arbeit" mitgeteilt wird (7), und man sieht nicht, wie diese malerische Plastik je zu einer dekorativen Kunst hinleiten soll, die alle Naturerscheinung abkürzt, gleichsam aus der Ferne sieht und auf Flächen und Linien zurückführt. Es ist ganz richtig, daß „die Konvenienz einer spezifisch modernen Skulptur nur erst in vagen Umrissen gedacht werden kann," schon weil sich unsre Zeit fast allein für Malerei interessiert. Ganz äußerlich scheint uns diese Lücke gefüllt zu werden, wenn die Bildhauer vor aller Ausführung Halt machen und sich mit dem angehauenen Steine, dem Bozzo, wie der Italiener sagt, begnügen. Der¬ artige unfertige Figürchen in Bronze oder Marmor, wie sie sich in diesen Heften unter andern Ausstellungsobjekten abgebildet finden, find für jeden ge¬ bildeten und an den Produkten der Kunstgeschichte genährten Geschmack einfach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/648>, abgerufen am 28.09.2024.