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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Kritische Studien zu Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

weder der französischen Thorheit noch des Ehrgeizes der Hohenzollern noch
des Königs und des Kronprinzen, die beide von den politischen Hintergedanken
Bismarcks nichts geahnt, sondern die ganze Sache als eine rein dynastische
aufgefaßt Habens) außerdem hat sich dieser vorher und nachher oft genug grund¬
sätzlich gegen absichtlich heraufbeschworne "Präventivkriege" ausgesprochen/)
er hat im Frühjahr 1870 in der Presse entschieden die Ansicht vertreten lassen,
daß ein Krieg mit Frankreich "Thorheit, wenn nicht Verbrechen" wäre, wenn
man die deutsche Einheit auf friedlichem Wege erreichen könne, und daß die
Wendung Napoleons zum Liberalismus dafür günstig sei/) er ist endlich im
Sommer 1870 sichtlich vom Ausbruche des Konflikts überrascht worden, wie
er gelegentlich auch selbst erklärt hat/) sodaß man kaum berechtigt ist, selbst
bei der sehr starken Beförderung der spanischen Thronkandidatur, an kriegerische
Absichten auf seiner Seite von vornherein zu glauben.

Warum hat nun Fürst Vismarck von diesen Verwicklungen eine teils lücken¬
hafte, teils abgeschwächte Darstellung gegeben und nicht die Dinge so erzählt,
wie sie sich jetzt jedem Unbefangnen aufdrängen? Hat er seinen Feinden keine
Waffen in die Hand geben wollen? Das sieht ihm sehr unähnlich, schon
weil es nichts geholfen Hütte, und weil diese Waffen stumpf wären. Hat er
sich nicht in Widerspruch setzen wollen mit den amtlichen Erklärungen von
1870, die immer wieder betonen, daß die Angelegenheit niemals amtlich be¬
handelt worden sei? Aber man spricht doch in amtlichen Aktenstücken anders
als in Memoiren. Haben sich ihm in der Erinnerung die Thatsachen wirklich
verschoben und sind sie verblaßt, und hat er sich, weil er das endliche Mi߬
lingen der von ihm mit solchem Nachdruck und aus so guten Gründen be-
triebnen spanischen Kandidatur als eine persönliche Niederlage empfand, all¬
mählich und unwillkürlich ein Bild von ihnen zurecht gelegt, das ihm die
ganze Angelegenheit als nebensächlich und als unbedeutender zeigte, als sie in
Wirklichkeit gewesen war?

Das Letzte ist psychologisch um so wahrscheinlicher, als er die Geschichte der
"Emser Depesche," die nicht weniger zu Ausstellungen und Angriffen Veranlassung
gegeben hat, selbst im zweiten Teile des Kapitels mit lebendigster Anschaulichkeit
und mit großartiger Offenheit erzählt. Er sieht auf der Stelle, daß die






') Bucher bei Busch III, 238 f., vergl. E. Marcks, Wilhelm 1., 274 f,
") z. B, Gedanken und Erinnerungen II, 93. Poschinger, Tischgespräche und Interviews II,
139 (von 1887). Bismarck und die Parlamentarier I, 44 (1869). II, 97. (1807). III, 284
("Nur für die Ehre des Landes, nur für seine vitalste" Interessen darf ein Krieg begonnen
werden").
") Instruktion für Busch I, 7. 10.
°) z, B. 20. Januar 1888 in Friedrichsruh, wo er sagte, er fürchte für dieses Jahr keinen
Krieg, aber "fast ohne Unterbrechung" hinzusetzt: "Allerdings habe ich das auch im Jahre 1870
geglaubt, und eS kam doch anders."
Kritische Studien zu Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

weder der französischen Thorheit noch des Ehrgeizes der Hohenzollern noch
des Königs und des Kronprinzen, die beide von den politischen Hintergedanken
Bismarcks nichts geahnt, sondern die ganze Sache als eine rein dynastische
aufgefaßt Habens) außerdem hat sich dieser vorher und nachher oft genug grund¬
sätzlich gegen absichtlich heraufbeschworne „Präventivkriege" ausgesprochen/)
er hat im Frühjahr 1870 in der Presse entschieden die Ansicht vertreten lassen,
daß ein Krieg mit Frankreich „Thorheit, wenn nicht Verbrechen" wäre, wenn
man die deutsche Einheit auf friedlichem Wege erreichen könne, und daß die
Wendung Napoleons zum Liberalismus dafür günstig sei/) er ist endlich im
Sommer 1870 sichtlich vom Ausbruche des Konflikts überrascht worden, wie
er gelegentlich auch selbst erklärt hat/) sodaß man kaum berechtigt ist, selbst
bei der sehr starken Beförderung der spanischen Thronkandidatur, an kriegerische
Absichten auf seiner Seite von vornherein zu glauben.

Warum hat nun Fürst Vismarck von diesen Verwicklungen eine teils lücken¬
hafte, teils abgeschwächte Darstellung gegeben und nicht die Dinge so erzählt,
wie sie sich jetzt jedem Unbefangnen aufdrängen? Hat er seinen Feinden keine
Waffen in die Hand geben wollen? Das sieht ihm sehr unähnlich, schon
weil es nichts geholfen Hütte, und weil diese Waffen stumpf wären. Hat er
sich nicht in Widerspruch setzen wollen mit den amtlichen Erklärungen von
1870, die immer wieder betonen, daß die Angelegenheit niemals amtlich be¬
handelt worden sei? Aber man spricht doch in amtlichen Aktenstücken anders
als in Memoiren. Haben sich ihm in der Erinnerung die Thatsachen wirklich
verschoben und sind sie verblaßt, und hat er sich, weil er das endliche Mi߬
lingen der von ihm mit solchem Nachdruck und aus so guten Gründen be-
triebnen spanischen Kandidatur als eine persönliche Niederlage empfand, all¬
mählich und unwillkürlich ein Bild von ihnen zurecht gelegt, das ihm die
ganze Angelegenheit als nebensächlich und als unbedeutender zeigte, als sie in
Wirklichkeit gewesen war?

Das Letzte ist psychologisch um so wahrscheinlicher, als er die Geschichte der
„Emser Depesche," die nicht weniger zu Ausstellungen und Angriffen Veranlassung
gegeben hat, selbst im zweiten Teile des Kapitels mit lebendigster Anschaulichkeit
und mit großartiger Offenheit erzählt. Er sieht auf der Stelle, daß die






') Bucher bei Busch III, 238 f., vergl. E. Marcks, Wilhelm 1., 274 f,
») z. B, Gedanken und Erinnerungen II, 93. Poschinger, Tischgespräche und Interviews II,
139 (von 1887). Bismarck und die Parlamentarier I, 44 (1869). II, 97. (1807). III, 284
(„Nur für die Ehre des Landes, nur für seine vitalste» Interessen darf ein Krieg begonnen
werden").
") Instruktion für Busch I, 7. 10.
°) z, B. 20. Januar 1888 in Friedrichsruh, wo er sagte, er fürchte für dieses Jahr keinen
Krieg, aber „fast ohne Unterbrechung" hinzusetzt: „Allerdings habe ich das auch im Jahre 1870
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/640>, abgerufen am 28.09.2024.