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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Döllingers Jugend

bewegt; in der Kirche lassen sich dergleichen konstitutionelle Einrichtungen nicht
so leicht treffen. In einer andern Beziehung ist freilich die Kirche bedeutend
besser daran als der Staat. Indem sich ihre innern Streitigkeiten hauptsächlich
auf Meinungen beziehn, die Masse aber über diese Meinungen gar nicht nach¬
denkt und der zu einem selbständigen Urteile darüber erforderlichen Kenntnisse
ermangelt, bleiben die Konsliktsfälle meist auf den engen Kreis der gelehrten
Theologen beschränkt, während der Staat, der im Gebiet der materiellen Inter¬
essen waltet, bald die gesamte Masse des niedern Volkes, bald die Vornehmen
und Mächtigen, manchmal sogar beide gegen sich hat.

Die bedeutendsten unter den Freunden und Mitkämpfern Döllingers, der
zartsinnige, gemütvolle, fromme und doch mit philosophischem Genie ausgerüstete
Möhler und der phantastisch-mystische, vulkanische Görres waren grundver¬
schieden von ihm, aber die Weite des Geistes, die Fülle des Wissens und die
strenge Wahrheitsliebe hatten sie mit ihm gemein, und aus diesem Grunde
würden sie, wenn sie das Jahr 1870 erlebt hätten, auf Döllingers Seite ge¬
standen haben. Am Janus hätte Möhler freilich nicht mitgearbeitet, er würde
dieses Buch verabscheut haben, aber den Zumutungen der römischen Kurie
gegenüber würde sich seine milde Seele stahlhart erwiesen haben. In einer
Rezension von Döllingers Kirchengeschichte hebt er zwar die Vorzüge des
Werkes gebührend hervor, beleuchtet aber auch mit seiner unbestechlichen
Wahrheitsliebe die Mängel und schreibt u. a. über die Behandlung der jan-
senistischen Streitigkeiten: "Herr Döllinger ergreift geradezu die Partei der
Jesuiten. Der katholische Historiker sollte über den Parteien seiner Kirche
stehen, und das Gute in jeder mit Unbefangenheit anerkennen, und nicht minder
das Irrige, Einseitige oder gar Falsche und Schädliche ohne Rückhalt be¬
merklich machen." Das viele Gute, das die Jcmsenisten im Gegensatz zu den
Jesuiten auszeichne, sei bei Döllinger "unentwickelt geblieben." Moslem ist
also Döllinger anfangs zu ultramontan gewesen. Görres aber nahm auch der
Kurie gegenüber kein Blatt vor den Mund. Das ließ sie sich gefallen, so¬
lange man in katholischen Kreisen froh sein mußte, daß man ihn hatte; 1870
hätte man ihn nicht mehr gebraucht. Es ist der Geist, der sich den Leib
baut, aber hat sich der Leib ein Väuchlein angefressen, dann will er sich nicht
mehr durch den rnmorenden Geist die Verdauung stören lassen. Diepenbrock
gab 1828 das Leben und die Schriften des Mystikers Heinrich Suso heraus.
Görres schrieb dazu eine Einleitung, worin Stellen wie die folgenden vor¬
kommen: "Die Päpste, die in gerechter Notwehr den weltlichen Fürsten
zum Schutze und Vertreter des geistlichen aufgerufen, hatten, um die Sprache
Susos auf diese Sache anzuwenden, bald mit allzu großer Begierde an den
Bilden sso!^ sich angeheftet und im Zeitlichen ihre Lust gesucht, sie hatten ihren
Widerschein im Irdischen mit Wohlgefallen angeschaut, und die verführerische
Macht von unten hatte die Unbehutsamen zu sich hinabgezogen, sie waren


Döllingers Jugend

bewegt; in der Kirche lassen sich dergleichen konstitutionelle Einrichtungen nicht
so leicht treffen. In einer andern Beziehung ist freilich die Kirche bedeutend
besser daran als der Staat. Indem sich ihre innern Streitigkeiten hauptsächlich
auf Meinungen beziehn, die Masse aber über diese Meinungen gar nicht nach¬
denkt und der zu einem selbständigen Urteile darüber erforderlichen Kenntnisse
ermangelt, bleiben die Konsliktsfälle meist auf den engen Kreis der gelehrten
Theologen beschränkt, während der Staat, der im Gebiet der materiellen Inter¬
essen waltet, bald die gesamte Masse des niedern Volkes, bald die Vornehmen
und Mächtigen, manchmal sogar beide gegen sich hat.

Die bedeutendsten unter den Freunden und Mitkämpfern Döllingers, der
zartsinnige, gemütvolle, fromme und doch mit philosophischem Genie ausgerüstete
Möhler und der phantastisch-mystische, vulkanische Görres waren grundver¬
schieden von ihm, aber die Weite des Geistes, die Fülle des Wissens und die
strenge Wahrheitsliebe hatten sie mit ihm gemein, und aus diesem Grunde
würden sie, wenn sie das Jahr 1870 erlebt hätten, auf Döllingers Seite ge¬
standen haben. Am Janus hätte Möhler freilich nicht mitgearbeitet, er würde
dieses Buch verabscheut haben, aber den Zumutungen der römischen Kurie
gegenüber würde sich seine milde Seele stahlhart erwiesen haben. In einer
Rezension von Döllingers Kirchengeschichte hebt er zwar die Vorzüge des
Werkes gebührend hervor, beleuchtet aber auch mit seiner unbestechlichen
Wahrheitsliebe die Mängel und schreibt u. a. über die Behandlung der jan-
senistischen Streitigkeiten: „Herr Döllinger ergreift geradezu die Partei der
Jesuiten. Der katholische Historiker sollte über den Parteien seiner Kirche
stehen, und das Gute in jeder mit Unbefangenheit anerkennen, und nicht minder
das Irrige, Einseitige oder gar Falsche und Schädliche ohne Rückhalt be¬
merklich machen." Das viele Gute, das die Jcmsenisten im Gegensatz zu den
Jesuiten auszeichne, sei bei Döllinger „unentwickelt geblieben." Moslem ist
also Döllinger anfangs zu ultramontan gewesen. Görres aber nahm auch der
Kurie gegenüber kein Blatt vor den Mund. Das ließ sie sich gefallen, so¬
lange man in katholischen Kreisen froh sein mußte, daß man ihn hatte; 1870
hätte man ihn nicht mehr gebraucht. Es ist der Geist, der sich den Leib
baut, aber hat sich der Leib ein Väuchlein angefressen, dann will er sich nicht
mehr durch den rnmorenden Geist die Verdauung stören lassen. Diepenbrock
gab 1828 das Leben und die Schriften des Mystikers Heinrich Suso heraus.
Görres schrieb dazu eine Einleitung, worin Stellen wie die folgenden vor¬
kommen: „Die Päpste, die in gerechter Notwehr den weltlichen Fürsten
zum Schutze und Vertreter des geistlichen aufgerufen, hatten, um die Sprache
Susos auf diese Sache anzuwenden, bald mit allzu großer Begierde an den
Bilden sso!^ sich angeheftet und im Zeitlichen ihre Lust gesucht, sie hatten ihren
Widerschein im Irdischen mit Wohlgefallen angeschaut, und die verführerische
Macht von unten hatte die Unbehutsamen zu sich hinabgezogen, sie waren


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[0584] Döllingers Jugend bewegt; in der Kirche lassen sich dergleichen konstitutionelle Einrichtungen nicht so leicht treffen. In einer andern Beziehung ist freilich die Kirche bedeutend besser daran als der Staat. Indem sich ihre innern Streitigkeiten hauptsächlich auf Meinungen beziehn, die Masse aber über diese Meinungen gar nicht nach¬ denkt und der zu einem selbständigen Urteile darüber erforderlichen Kenntnisse ermangelt, bleiben die Konsliktsfälle meist auf den engen Kreis der gelehrten Theologen beschränkt, während der Staat, der im Gebiet der materiellen Inter¬ essen waltet, bald die gesamte Masse des niedern Volkes, bald die Vornehmen und Mächtigen, manchmal sogar beide gegen sich hat. Die bedeutendsten unter den Freunden und Mitkämpfern Döllingers, der zartsinnige, gemütvolle, fromme und doch mit philosophischem Genie ausgerüstete Möhler und der phantastisch-mystische, vulkanische Görres waren grundver¬ schieden von ihm, aber die Weite des Geistes, die Fülle des Wissens und die strenge Wahrheitsliebe hatten sie mit ihm gemein, und aus diesem Grunde würden sie, wenn sie das Jahr 1870 erlebt hätten, auf Döllingers Seite ge¬ standen haben. Am Janus hätte Möhler freilich nicht mitgearbeitet, er würde dieses Buch verabscheut haben, aber den Zumutungen der römischen Kurie gegenüber würde sich seine milde Seele stahlhart erwiesen haben. In einer Rezension von Döllingers Kirchengeschichte hebt er zwar die Vorzüge des Werkes gebührend hervor, beleuchtet aber auch mit seiner unbestechlichen Wahrheitsliebe die Mängel und schreibt u. a. über die Behandlung der jan- senistischen Streitigkeiten: „Herr Döllinger ergreift geradezu die Partei der Jesuiten. Der katholische Historiker sollte über den Parteien seiner Kirche stehen, und das Gute in jeder mit Unbefangenheit anerkennen, und nicht minder das Irrige, Einseitige oder gar Falsche und Schädliche ohne Rückhalt be¬ merklich machen." Das viele Gute, das die Jcmsenisten im Gegensatz zu den Jesuiten auszeichne, sei bei Döllinger „unentwickelt geblieben." Moslem ist also Döllinger anfangs zu ultramontan gewesen. Görres aber nahm auch der Kurie gegenüber kein Blatt vor den Mund. Das ließ sie sich gefallen, so¬ lange man in katholischen Kreisen froh sein mußte, daß man ihn hatte; 1870 hätte man ihn nicht mehr gebraucht. Es ist der Geist, der sich den Leib baut, aber hat sich der Leib ein Väuchlein angefressen, dann will er sich nicht mehr durch den rnmorenden Geist die Verdauung stören lassen. Diepenbrock gab 1828 das Leben und die Schriften des Mystikers Heinrich Suso heraus. Görres schrieb dazu eine Einleitung, worin Stellen wie die folgenden vor¬ kommen: „Die Päpste, die in gerechter Notwehr den weltlichen Fürsten zum Schutze und Vertreter des geistlichen aufgerufen, hatten, um die Sprache Susos auf diese Sache anzuwenden, bald mit allzu großer Begierde an den Bilden sso!^ sich angeheftet und im Zeitlichen ihre Lust gesucht, sie hatten ihren Widerschein im Irdischen mit Wohlgefallen angeschaut, und die verführerische Macht von unten hatte die Unbehutsamen zu sich hinabgezogen, sie waren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/584>, abgerufen am 28.09.2024.