Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Döllingers Jugend

Kenner nehmen an, daß er mit seinem Grundsatze die Augustinische Prüdesti-
nationslehre habe verdächtig machen wollen; für ihn wird das Altertum aller-
höchstens bis zum Jahre 400 gegangen sein. Wie kommen die heutigen Ver¬
treter des fraglichen Grundsatzes dazu, die "alte" Zeit bis zum Jahre 600 aus¬
zudehnen? Und wer will es den Katholiken des Jahres 3000 verwehren, wenn
sie mit derselben Willkür den Grenzpfahl in den 20. Oktober des Jahres 1870
stecken? Und wie steht es mit dem "überall," da doch die Kirchenväter geklagt
haben, der Erdkreis sei eine Zeit lang arianisch gewesen? Damit ist es auch
schon um den ocmssnsus omnwm, geschehn. Überdies weiß man, daß die Dogmen
auf den alten Konzilien nur unter heftigen Protesten von Gegenparteien zu
stände gekommen sind, bei deren Überwältigung es nicht schöner zugegangen
ist als auf dem Vatikanischen Konzil. Wer sich nicht zum "oder" entschließen
kann, wer durchaus Dogmen haben will, von deren Annahme die Seligkeit
abhängt, den führt die Konsequenz auf den römisch-katholischen Standpunkt.

Aber man sieht leicht ein, daß ein Theologe, dem jener Grundsatz in
Fleisch und Blut übergegangen war, an der Dogmatisierungssucht des Papstes
Pius Anstoß nehmen mußte, und wie leicht er auf den Standpunkt des ortho¬
doxen Protestantismus geraten konnte, der das ganze mittelalterliche Kirchen¬
wesen für eine beklagenswerte Verirrung hält. Zur Kritik der scholastischen
Kirchenlehre kam dann allmählich die Kenntnis des nichts weniger als aposto¬
lischen Lebens der mittelalterlichen Geistlichen und Kirchenfürsten, die der kühle
Verstandesmensch Döllinger scharf ins Auge faßte, während die Frommen, so
oft sie bei ihren Studien ans dergleichen stoßen, erschreckt und pietätvoll den
Blick abwenden, ans Furcht, es könne sie der über Ham verhängte Fluch
treffen, wenn sie der Mutter Schande ansetzn. So mag der Janus schon lange
in Döllingers Kopfe fertig gewesen sein, ehe ihm die Ereignisse zur Geburt
verhalfen. Doch auch der Janus ist nur halbe Arbeit gewesen, vor dem Blicke
eines Universalgelehrten zerfließt der Nimbus der ersten sechs Jahrhunderte
ebenso wie der des Mittelalters; nur hatte Döllinger keine Veranlassung, das
kritische Zerstörungswerk, gleich seinen protestantischen Kollegen in Tübingen,
bis zu den Grundmauern der Kirche fortzusetzen. Gerade der Radikalismus
aber schlägt wieder ins Positive um; erst nachdem man inne geworden ist, daß
keine Zeit dem Ideale entspricht und entsprechen kann, vermag man auch dem
Mittelalter wieder gerecht zu werden. Die historisch-kritische Methode führt
zu der Erkenntnis, daß kein Geschlecht mit übermenschlichem Wissen und über¬
menschlicher Heiligkeit ausgerüstet gewesen ist, daß aber jedes mit seinen mensch¬
lichen Kräften geleistet hat, was es in seiner Lage zu leisten vermochte, und
gerade in diesem unermüdlichen Ringen der europäischen Menschheit mit Irr¬
tümern und Verirrungen, aus denen sie sich immer wieder herausfindet, in dieser
ihrer unverwüstlichen Kraft, mit der sie sich aus allen Niederlagen wie neu¬
geboren erhebt, finden wir den sie beseelenden göttlichen Geist und die göttliche


Döllingers Jugend

Kenner nehmen an, daß er mit seinem Grundsatze die Augustinische Prüdesti-
nationslehre habe verdächtig machen wollen; für ihn wird das Altertum aller-
höchstens bis zum Jahre 400 gegangen sein. Wie kommen die heutigen Ver¬
treter des fraglichen Grundsatzes dazu, die „alte" Zeit bis zum Jahre 600 aus¬
zudehnen? Und wer will es den Katholiken des Jahres 3000 verwehren, wenn
sie mit derselben Willkür den Grenzpfahl in den 20. Oktober des Jahres 1870
stecken? Und wie steht es mit dem „überall," da doch die Kirchenväter geklagt
haben, der Erdkreis sei eine Zeit lang arianisch gewesen? Damit ist es auch
schon um den ocmssnsus omnwm, geschehn. Überdies weiß man, daß die Dogmen
auf den alten Konzilien nur unter heftigen Protesten von Gegenparteien zu
stände gekommen sind, bei deren Überwältigung es nicht schöner zugegangen
ist als auf dem Vatikanischen Konzil. Wer sich nicht zum „oder" entschließen
kann, wer durchaus Dogmen haben will, von deren Annahme die Seligkeit
abhängt, den führt die Konsequenz auf den römisch-katholischen Standpunkt.

Aber man sieht leicht ein, daß ein Theologe, dem jener Grundsatz in
Fleisch und Blut übergegangen war, an der Dogmatisierungssucht des Papstes
Pius Anstoß nehmen mußte, und wie leicht er auf den Standpunkt des ortho¬
doxen Protestantismus geraten konnte, der das ganze mittelalterliche Kirchen¬
wesen für eine beklagenswerte Verirrung hält. Zur Kritik der scholastischen
Kirchenlehre kam dann allmählich die Kenntnis des nichts weniger als aposto¬
lischen Lebens der mittelalterlichen Geistlichen und Kirchenfürsten, die der kühle
Verstandesmensch Döllinger scharf ins Auge faßte, während die Frommen, so
oft sie bei ihren Studien ans dergleichen stoßen, erschreckt und pietätvoll den
Blick abwenden, ans Furcht, es könne sie der über Ham verhängte Fluch
treffen, wenn sie der Mutter Schande ansetzn. So mag der Janus schon lange
in Döllingers Kopfe fertig gewesen sein, ehe ihm die Ereignisse zur Geburt
verhalfen. Doch auch der Janus ist nur halbe Arbeit gewesen, vor dem Blicke
eines Universalgelehrten zerfließt der Nimbus der ersten sechs Jahrhunderte
ebenso wie der des Mittelalters; nur hatte Döllinger keine Veranlassung, das
kritische Zerstörungswerk, gleich seinen protestantischen Kollegen in Tübingen,
bis zu den Grundmauern der Kirche fortzusetzen. Gerade der Radikalismus
aber schlägt wieder ins Positive um; erst nachdem man inne geworden ist, daß
keine Zeit dem Ideale entspricht und entsprechen kann, vermag man auch dem
Mittelalter wieder gerecht zu werden. Die historisch-kritische Methode führt
zu der Erkenntnis, daß kein Geschlecht mit übermenschlichem Wissen und über¬
menschlicher Heiligkeit ausgerüstet gewesen ist, daß aber jedes mit seinen mensch¬
lichen Kräften geleistet hat, was es in seiner Lage zu leisten vermochte, und
gerade in diesem unermüdlichen Ringen der europäischen Menschheit mit Irr¬
tümern und Verirrungen, aus denen sie sich immer wieder herausfindet, in dieser
ihrer unverwüstlichen Kraft, mit der sie sich aus allen Niederlagen wie neu¬
geboren erhebt, finden wir den sie beseelenden göttlichen Geist und die göttliche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0582" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231014"/>
          <fw type="header" place="top"> Döllingers Jugend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1955" prev="#ID_1954"> Kenner nehmen an, daß er mit seinem Grundsatze die Augustinische Prüdesti-<lb/>
nationslehre habe verdächtig machen wollen; für ihn wird das Altertum aller-<lb/>
höchstens bis zum Jahre 400 gegangen sein. Wie kommen die heutigen Ver¬<lb/>
treter des fraglichen Grundsatzes dazu, die &#x201E;alte" Zeit bis zum Jahre 600 aus¬<lb/>
zudehnen? Und wer will es den Katholiken des Jahres 3000 verwehren, wenn<lb/>
sie mit derselben Willkür den Grenzpfahl in den 20. Oktober des Jahres 1870<lb/>
stecken? Und wie steht es mit dem &#x201E;überall," da doch die Kirchenväter geklagt<lb/>
haben, der Erdkreis sei eine Zeit lang arianisch gewesen? Damit ist es auch<lb/>
schon um den ocmssnsus omnwm, geschehn. Überdies weiß man, daß die Dogmen<lb/>
auf den alten Konzilien nur unter heftigen Protesten von Gegenparteien zu<lb/>
stände gekommen sind, bei deren Überwältigung es nicht schöner zugegangen<lb/>
ist als auf dem Vatikanischen Konzil. Wer sich nicht zum &#x201E;oder" entschließen<lb/>
kann, wer durchaus Dogmen haben will, von deren Annahme die Seligkeit<lb/>
abhängt, den führt die Konsequenz auf den römisch-katholischen Standpunkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1956" next="#ID_1957"> Aber man sieht leicht ein, daß ein Theologe, dem jener Grundsatz in<lb/>
Fleisch und Blut übergegangen war, an der Dogmatisierungssucht des Papstes<lb/>
Pius Anstoß nehmen mußte, und wie leicht er auf den Standpunkt des ortho¬<lb/>
doxen Protestantismus geraten konnte, der das ganze mittelalterliche Kirchen¬<lb/>
wesen für eine beklagenswerte Verirrung hält. Zur Kritik der scholastischen<lb/>
Kirchenlehre kam dann allmählich die Kenntnis des nichts weniger als aposto¬<lb/>
lischen Lebens der mittelalterlichen Geistlichen und Kirchenfürsten, die der kühle<lb/>
Verstandesmensch Döllinger scharf ins Auge faßte, während die Frommen, so<lb/>
oft sie bei ihren Studien ans dergleichen stoßen, erschreckt und pietätvoll den<lb/>
Blick abwenden, ans Furcht, es könne sie der über Ham verhängte Fluch<lb/>
treffen, wenn sie der Mutter Schande ansetzn. So mag der Janus schon lange<lb/>
in Döllingers Kopfe fertig gewesen sein, ehe ihm die Ereignisse zur Geburt<lb/>
verhalfen. Doch auch der Janus ist nur halbe Arbeit gewesen, vor dem Blicke<lb/>
eines Universalgelehrten zerfließt der Nimbus der ersten sechs Jahrhunderte<lb/>
ebenso wie der des Mittelalters; nur hatte Döllinger keine Veranlassung, das<lb/>
kritische Zerstörungswerk, gleich seinen protestantischen Kollegen in Tübingen,<lb/>
bis zu den Grundmauern der Kirche fortzusetzen. Gerade der Radikalismus<lb/>
aber schlägt wieder ins Positive um; erst nachdem man inne geworden ist, daß<lb/>
keine Zeit dem Ideale entspricht und entsprechen kann, vermag man auch dem<lb/>
Mittelalter wieder gerecht zu werden. Die historisch-kritische Methode führt<lb/>
zu der Erkenntnis, daß kein Geschlecht mit übermenschlichem Wissen und über¬<lb/>
menschlicher Heiligkeit ausgerüstet gewesen ist, daß aber jedes mit seinen mensch¬<lb/>
lichen Kräften geleistet hat, was es in seiner Lage zu leisten vermochte, und<lb/>
gerade in diesem unermüdlichen Ringen der europäischen Menschheit mit Irr¬<lb/>
tümern und Verirrungen, aus denen sie sich immer wieder herausfindet, in dieser<lb/>
ihrer unverwüstlichen Kraft, mit der sie sich aus allen Niederlagen wie neu¬<lb/>
geboren erhebt, finden wir den sie beseelenden göttlichen Geist und die göttliche</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0582] Döllingers Jugend Kenner nehmen an, daß er mit seinem Grundsatze die Augustinische Prüdesti- nationslehre habe verdächtig machen wollen; für ihn wird das Altertum aller- höchstens bis zum Jahre 400 gegangen sein. Wie kommen die heutigen Ver¬ treter des fraglichen Grundsatzes dazu, die „alte" Zeit bis zum Jahre 600 aus¬ zudehnen? Und wer will es den Katholiken des Jahres 3000 verwehren, wenn sie mit derselben Willkür den Grenzpfahl in den 20. Oktober des Jahres 1870 stecken? Und wie steht es mit dem „überall," da doch die Kirchenväter geklagt haben, der Erdkreis sei eine Zeit lang arianisch gewesen? Damit ist es auch schon um den ocmssnsus omnwm, geschehn. Überdies weiß man, daß die Dogmen auf den alten Konzilien nur unter heftigen Protesten von Gegenparteien zu stände gekommen sind, bei deren Überwältigung es nicht schöner zugegangen ist als auf dem Vatikanischen Konzil. Wer sich nicht zum „oder" entschließen kann, wer durchaus Dogmen haben will, von deren Annahme die Seligkeit abhängt, den führt die Konsequenz auf den römisch-katholischen Standpunkt. Aber man sieht leicht ein, daß ein Theologe, dem jener Grundsatz in Fleisch und Blut übergegangen war, an der Dogmatisierungssucht des Papstes Pius Anstoß nehmen mußte, und wie leicht er auf den Standpunkt des ortho¬ doxen Protestantismus geraten konnte, der das ganze mittelalterliche Kirchen¬ wesen für eine beklagenswerte Verirrung hält. Zur Kritik der scholastischen Kirchenlehre kam dann allmählich die Kenntnis des nichts weniger als aposto¬ lischen Lebens der mittelalterlichen Geistlichen und Kirchenfürsten, die der kühle Verstandesmensch Döllinger scharf ins Auge faßte, während die Frommen, so oft sie bei ihren Studien ans dergleichen stoßen, erschreckt und pietätvoll den Blick abwenden, ans Furcht, es könne sie der über Ham verhängte Fluch treffen, wenn sie der Mutter Schande ansetzn. So mag der Janus schon lange in Döllingers Kopfe fertig gewesen sein, ehe ihm die Ereignisse zur Geburt verhalfen. Doch auch der Janus ist nur halbe Arbeit gewesen, vor dem Blicke eines Universalgelehrten zerfließt der Nimbus der ersten sechs Jahrhunderte ebenso wie der des Mittelalters; nur hatte Döllinger keine Veranlassung, das kritische Zerstörungswerk, gleich seinen protestantischen Kollegen in Tübingen, bis zu den Grundmauern der Kirche fortzusetzen. Gerade der Radikalismus aber schlägt wieder ins Positive um; erst nachdem man inne geworden ist, daß keine Zeit dem Ideale entspricht und entsprechen kann, vermag man auch dem Mittelalter wieder gerecht zu werden. Die historisch-kritische Methode führt zu der Erkenntnis, daß kein Geschlecht mit übermenschlichem Wissen und über¬ menschlicher Heiligkeit ausgerüstet gewesen ist, daß aber jedes mit seinen mensch¬ lichen Kräften geleistet hat, was es in seiner Lage zu leisten vermochte, und gerade in diesem unermüdlichen Ringen der europäischen Menschheit mit Irr¬ tümern und Verirrungen, aus denen sie sich immer wieder herausfindet, in dieser ihrer unverwüstlichen Kraft, mit der sie sich aus allen Niederlagen wie neu¬ geboren erhebt, finden wir den sie beseelenden göttlichen Geist und die göttliche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/582
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/582>, abgerufen am 20.10.2024.