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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Oöllnigers Jugend

zwar als schlecht begründete Meinungen bezeichneten. Und noch entscheidender,
bemerkt Friedrich, war es, "daß ihm schon hier auf das nachdrücklichste die
Lehren des Vieentius von Lerm über das der Kirche von Anfang an über-
gebne Depositum geoffenbarter Lehre und über die Kennzeichen einer katho¬
lischen Lehre eingeprägt wurden. Die Grundsätze dieses Kommonitoriums,
dieser allgemein als klassisch und völlig korrekt angenommenen, in Bamberg
jederzeit den jungen Theologie Studierenden empfohlnen Schrift gingen bei
Döllinger gewissermaßen in Fleisch und Blut über und sind der Schild ge¬
wesen, mit dem er sich gegen Protestanten und Jnfallibilisten deckte. Nicht
minder bedeutungsvoll war es endlich für ihn, daß er bei einem der Bamberger
Professoren, Brenner, lernte, bei der Tradition komme es vor allem auf das
Altertum an, ohne dieses so wichtige Requisit des hohen ehrwürdigen Alters
gebe es keine Kirchenväter, deren Periode schließe mit dem sechsten Jahrhundert."
Es bedarf für den Unbefangnen keines großen Scharfsinns, einzusehn, wie un¬
haltbar dieser Standpunkt ist. Man glaubt entweder, daß der heilige Geist
die Lehrentwicklung der Kirche leitet, oder man glaubt uicht an diese besondre
göttliche Hilfe und läßt die Lehrentwicklung der Kirche ebenso wie überhaupt
ihr ganzes Leben und ihre Geschichte nur insofern ein Werk Gottes sein, wie
es die allgemeine Menschengeschichte ist. Im ersten Falle ist nicht einzusehen,
warum der heilige Geist gerade im Jahre 600 seine Thätigkeit eingestellt haben
sollte. Das Denken steht auch bei den Theologen nicht still, sie ziehen aus
den alten Lehren neue Folgerungen, und die Gläubigen möchten gern wissen,
ob das Neue, das ihre Geistlichen lehren, dogmatische Wahrheit ist oder nicht.
So sieht sich die Kirche zu Entscheidungen genötigt, und wenn sie nun bei
diesen vom Jahre 600 ab dem Irrtum unterworfen ist, so hat der göttliche
Beistand, den sie bis dahin genossen hatte, keinen Zweck gehabt. Wichtig sind
für jedes Geschlecht die Streitfragen seiner Zeit, nicht die vergangner Jahr¬
hunderte. Wer zerbricht sich heute den Kopf über das Verhältnis der beiden
Naturen in Christus? Ob der Darwinismus Wahrheit oder Irrtum ist, ob
der Liberalismus und der Sozialismus vou Gott oder vom Teufel stammen
oder als rein menschliche, die Heilslehre nicht berührende Denknngsweisen den
Gläubigen freigestellt werden können, das wollen heute die Leute wissen. Der
berühmte Grundsatz des Vincenz von Lerm lautet: katholisch ist, quoä ssmxer,
<ZM<1 uviHus, "Moa ab oninibu8 oröäiwin sse. Dieses vielgerühmte Kriterium --
ist gar keins, denn wir kennen auch nicht ein einziges Dogma, das immer,
überall und von allen geglaubt worden wäre. Das ssinpör hat Vincenz selbst
schon eingeschränkt durch den Zusatz: im Altertum, und abgesehen davon, daß
die Beschränkung der Thätigkeit des göttlichen Geistes auf eine gewisse Zeit
an sich schon widersinnig erscheint, hängt auch die Begrenzung dieser Zeit rein
von der Willkür ab. Jenem nur durch die Reste seiner Schriften bekannten
Mönche Vincenz galt seine Zeit, das fünfte Jahrhundert, für neu, und die


Oöllnigers Jugend

zwar als schlecht begründete Meinungen bezeichneten. Und noch entscheidender,
bemerkt Friedrich, war es, „daß ihm schon hier auf das nachdrücklichste die
Lehren des Vieentius von Lerm über das der Kirche von Anfang an über-
gebne Depositum geoffenbarter Lehre und über die Kennzeichen einer katho¬
lischen Lehre eingeprägt wurden. Die Grundsätze dieses Kommonitoriums,
dieser allgemein als klassisch und völlig korrekt angenommenen, in Bamberg
jederzeit den jungen Theologie Studierenden empfohlnen Schrift gingen bei
Döllinger gewissermaßen in Fleisch und Blut über und sind der Schild ge¬
wesen, mit dem er sich gegen Protestanten und Jnfallibilisten deckte. Nicht
minder bedeutungsvoll war es endlich für ihn, daß er bei einem der Bamberger
Professoren, Brenner, lernte, bei der Tradition komme es vor allem auf das
Altertum an, ohne dieses so wichtige Requisit des hohen ehrwürdigen Alters
gebe es keine Kirchenväter, deren Periode schließe mit dem sechsten Jahrhundert."
Es bedarf für den Unbefangnen keines großen Scharfsinns, einzusehn, wie un¬
haltbar dieser Standpunkt ist. Man glaubt entweder, daß der heilige Geist
die Lehrentwicklung der Kirche leitet, oder man glaubt uicht an diese besondre
göttliche Hilfe und läßt die Lehrentwicklung der Kirche ebenso wie überhaupt
ihr ganzes Leben und ihre Geschichte nur insofern ein Werk Gottes sein, wie
es die allgemeine Menschengeschichte ist. Im ersten Falle ist nicht einzusehen,
warum der heilige Geist gerade im Jahre 600 seine Thätigkeit eingestellt haben
sollte. Das Denken steht auch bei den Theologen nicht still, sie ziehen aus
den alten Lehren neue Folgerungen, und die Gläubigen möchten gern wissen,
ob das Neue, das ihre Geistlichen lehren, dogmatische Wahrheit ist oder nicht.
So sieht sich die Kirche zu Entscheidungen genötigt, und wenn sie nun bei
diesen vom Jahre 600 ab dem Irrtum unterworfen ist, so hat der göttliche
Beistand, den sie bis dahin genossen hatte, keinen Zweck gehabt. Wichtig sind
für jedes Geschlecht die Streitfragen seiner Zeit, nicht die vergangner Jahr¬
hunderte. Wer zerbricht sich heute den Kopf über das Verhältnis der beiden
Naturen in Christus? Ob der Darwinismus Wahrheit oder Irrtum ist, ob
der Liberalismus und der Sozialismus vou Gott oder vom Teufel stammen
oder als rein menschliche, die Heilslehre nicht berührende Denknngsweisen den
Gläubigen freigestellt werden können, das wollen heute die Leute wissen. Der
berühmte Grundsatz des Vincenz von Lerm lautet: katholisch ist, quoä ssmxer,
<ZM<1 uviHus, «Moa ab oninibu8 oröäiwin sse. Dieses vielgerühmte Kriterium —
ist gar keins, denn wir kennen auch nicht ein einziges Dogma, das immer,
überall und von allen geglaubt worden wäre. Das ssinpör hat Vincenz selbst
schon eingeschränkt durch den Zusatz: im Altertum, und abgesehen davon, daß
die Beschränkung der Thätigkeit des göttlichen Geistes auf eine gewisse Zeit
an sich schon widersinnig erscheint, hängt auch die Begrenzung dieser Zeit rein
von der Willkür ab. Jenem nur durch die Reste seiner Schriften bekannten
Mönche Vincenz galt seine Zeit, das fünfte Jahrhundert, für neu, und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/581>, abgerufen am 28.09.2024.