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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über griechische und römische verfluchungstafeln

deutung haben, Sterne, die Planeten andeuten, einmal auch ein Wickelkind
(das freilich auch eine Mumie sein könnte); und endlich finden sich allerhand
mystische Charaktere, aus Kreisen, Vierecken, Sternen usw. zusammengesetzt.

An diese merkwürdigen Täfelchen hat ihr Herausgeber eine Hypothese ge¬
knüpft, die schon im Titel seiner Schrift zum Ausdruck kommt: er stellt nämlich
die Ansicht auf, daß sie ihre Entstehung der christlichen Sekte der Sethianer
verdanken. Diese Sekte nannte sich nach Seth, dem Sohne Adams, aus dessen
Geschlecht Christus abstamme. Natürlich ist dieser Seth ein andrer, als der
ägyptische der Tafeln; Wünsch sucht jedoch den Nachweis zuführen, daß hier
eine Religionsmischung stattgefunden habe: die Sethianer hätten in der That
einen eselköpfigen Gott verehrt, und so sei der Vorwurf, der den Juden von
den Heiden gemacht wurde, daß sie einen Gott mit Eselskopf verehrten, nicht
aus der Luft gegriffen gewesen. Die Gleichheit des Namens habe allmählich
zu einer Verschmelzung geführt: Typhon-Seth, der Eselsköpfige, und Christus-
Seth, der Gekreuzigte, seien eins geworden. Auch das bekannte, vielbesprochne
Spottkruzifix vom Palatin, auf dem ein am Kreuz hängender Eselsköpfiger
angebetet wird, mit der Inschrift "Alexamenos verehrt Gott," will Wünsch in
diesem Sinne deuten, daß Alexamenos hierdurch nicht von einem Heiden
als Christ verspottet werde, sondern daß er als gläubiger Sethianer wirklich
den Gekreuzigten mit dem Eselsköpfe verehrt und das Graffito selber gezeichnet
habe, um sich als treuen Anhänger dieser Religion zu bekennen.

Ich muß gestehen, daß mir diese Vermutung sehr wenig einleuchten will,
so wenig, wie die Zurückführung dieser Tafeln auf die Sekte der Sethianer.
Zwar meint auch Wünsch nicht, daß die Urheber der Verfluchungen alle
Sethianer gewesen seien; aber da fast alle griechischen Tafeln, wie sie mit¬
sammen gefunden worden sind, so auch von einem und demselben Schreiber
herrühren (denn die ungebildeten Wagenlenker waren wohl meist des Schreibens
unkundig und beauftragten daher einen dafür empfohlnen Zauberkundigen), und
da sich ferner die mit den gnostischen Anschauungen von den Archonten der
Sternsphären zusammenhängenden Vokcilrcihen und sonstiges Guostische darin
findet, so meint Wünsch, der Zauberer, der teils selbst solche Tafeln schrieb,
teils ihre Anfertigung lehrte, sei ein Sethianer und als solcher auch mit der
Gnosis vertraut gewesen. Die Kritik hat diese Hypothese sehr skeptisch auf¬
genommen, und sicher mit Recht. Namentlich wird darauf hingewiesen, daß
die Verwendung gewisser Zeichen und Symbole im Zauberwesen das Prius,
ihre Aufnahme in die Gnosis erst das Posterius gewesen ist; viele Leute werden
die heiligen Charaktere, die Vokalreihen, die Schlangen, den eselsköpfigen
Gott usw. im Zauber angerufen haben, ohne mit der eigentlichen Gnosis in
Verbindung zu stehn. Magische Formeln verbreiten sich, mündlich oder schriftlich,
sicher überall hin; wer sie anwandte, hatte von ihrer Entstehung oder Be¬
deutung sicherlich oft keine Ahnung, und die Religion kam dabei am aller-


Über griechische und römische verfluchungstafeln

deutung haben, Sterne, die Planeten andeuten, einmal auch ein Wickelkind
(das freilich auch eine Mumie sein könnte); und endlich finden sich allerhand
mystische Charaktere, aus Kreisen, Vierecken, Sternen usw. zusammengesetzt.

An diese merkwürdigen Täfelchen hat ihr Herausgeber eine Hypothese ge¬
knüpft, die schon im Titel seiner Schrift zum Ausdruck kommt: er stellt nämlich
die Ansicht auf, daß sie ihre Entstehung der christlichen Sekte der Sethianer
verdanken. Diese Sekte nannte sich nach Seth, dem Sohne Adams, aus dessen
Geschlecht Christus abstamme. Natürlich ist dieser Seth ein andrer, als der
ägyptische der Tafeln; Wünsch sucht jedoch den Nachweis zuführen, daß hier
eine Religionsmischung stattgefunden habe: die Sethianer hätten in der That
einen eselköpfigen Gott verehrt, und so sei der Vorwurf, der den Juden von
den Heiden gemacht wurde, daß sie einen Gott mit Eselskopf verehrten, nicht
aus der Luft gegriffen gewesen. Die Gleichheit des Namens habe allmählich
zu einer Verschmelzung geführt: Typhon-Seth, der Eselsköpfige, und Christus-
Seth, der Gekreuzigte, seien eins geworden. Auch das bekannte, vielbesprochne
Spottkruzifix vom Palatin, auf dem ein am Kreuz hängender Eselsköpfiger
angebetet wird, mit der Inschrift „Alexamenos verehrt Gott," will Wünsch in
diesem Sinne deuten, daß Alexamenos hierdurch nicht von einem Heiden
als Christ verspottet werde, sondern daß er als gläubiger Sethianer wirklich
den Gekreuzigten mit dem Eselsköpfe verehrt und das Graffito selber gezeichnet
habe, um sich als treuen Anhänger dieser Religion zu bekennen.

Ich muß gestehen, daß mir diese Vermutung sehr wenig einleuchten will,
so wenig, wie die Zurückführung dieser Tafeln auf die Sekte der Sethianer.
Zwar meint auch Wünsch nicht, daß die Urheber der Verfluchungen alle
Sethianer gewesen seien; aber da fast alle griechischen Tafeln, wie sie mit¬
sammen gefunden worden sind, so auch von einem und demselben Schreiber
herrühren (denn die ungebildeten Wagenlenker waren wohl meist des Schreibens
unkundig und beauftragten daher einen dafür empfohlnen Zauberkundigen), und
da sich ferner die mit den gnostischen Anschauungen von den Archonten der
Sternsphären zusammenhängenden Vokcilrcihen und sonstiges Guostische darin
findet, so meint Wünsch, der Zauberer, der teils selbst solche Tafeln schrieb,
teils ihre Anfertigung lehrte, sei ein Sethianer und als solcher auch mit der
Gnosis vertraut gewesen. Die Kritik hat diese Hypothese sehr skeptisch auf¬
genommen, und sicher mit Recht. Namentlich wird darauf hingewiesen, daß
die Verwendung gewisser Zeichen und Symbole im Zauberwesen das Prius,
ihre Aufnahme in die Gnosis erst das Posterius gewesen ist; viele Leute werden
die heiligen Charaktere, die Vokalreihen, die Schlangen, den eselsköpfigen
Gott usw. im Zauber angerufen haben, ohne mit der eigentlichen Gnosis in
Verbindung zu stehn. Magische Formeln verbreiten sich, mündlich oder schriftlich,
sicher überall hin; wer sie anwandte, hatte von ihrer Entstehung oder Be¬
deutung sicherlich oft keine Ahnung, und die Religion kam dabei am aller-


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[0546] Über griechische und römische verfluchungstafeln deutung haben, Sterne, die Planeten andeuten, einmal auch ein Wickelkind (das freilich auch eine Mumie sein könnte); und endlich finden sich allerhand mystische Charaktere, aus Kreisen, Vierecken, Sternen usw. zusammengesetzt. An diese merkwürdigen Täfelchen hat ihr Herausgeber eine Hypothese ge¬ knüpft, die schon im Titel seiner Schrift zum Ausdruck kommt: er stellt nämlich die Ansicht auf, daß sie ihre Entstehung der christlichen Sekte der Sethianer verdanken. Diese Sekte nannte sich nach Seth, dem Sohne Adams, aus dessen Geschlecht Christus abstamme. Natürlich ist dieser Seth ein andrer, als der ägyptische der Tafeln; Wünsch sucht jedoch den Nachweis zuführen, daß hier eine Religionsmischung stattgefunden habe: die Sethianer hätten in der That einen eselköpfigen Gott verehrt, und so sei der Vorwurf, der den Juden von den Heiden gemacht wurde, daß sie einen Gott mit Eselskopf verehrten, nicht aus der Luft gegriffen gewesen. Die Gleichheit des Namens habe allmählich zu einer Verschmelzung geführt: Typhon-Seth, der Eselsköpfige, und Christus- Seth, der Gekreuzigte, seien eins geworden. Auch das bekannte, vielbesprochne Spottkruzifix vom Palatin, auf dem ein am Kreuz hängender Eselsköpfiger angebetet wird, mit der Inschrift „Alexamenos verehrt Gott," will Wünsch in diesem Sinne deuten, daß Alexamenos hierdurch nicht von einem Heiden als Christ verspottet werde, sondern daß er als gläubiger Sethianer wirklich den Gekreuzigten mit dem Eselsköpfe verehrt und das Graffito selber gezeichnet habe, um sich als treuen Anhänger dieser Religion zu bekennen. Ich muß gestehen, daß mir diese Vermutung sehr wenig einleuchten will, so wenig, wie die Zurückführung dieser Tafeln auf die Sekte der Sethianer. Zwar meint auch Wünsch nicht, daß die Urheber der Verfluchungen alle Sethianer gewesen seien; aber da fast alle griechischen Tafeln, wie sie mit¬ sammen gefunden worden sind, so auch von einem und demselben Schreiber herrühren (denn die ungebildeten Wagenlenker waren wohl meist des Schreibens unkundig und beauftragten daher einen dafür empfohlnen Zauberkundigen), und da sich ferner die mit den gnostischen Anschauungen von den Archonten der Sternsphären zusammenhängenden Vokcilrcihen und sonstiges Guostische darin findet, so meint Wünsch, der Zauberer, der teils selbst solche Tafeln schrieb, teils ihre Anfertigung lehrte, sei ein Sethianer und als solcher auch mit der Gnosis vertraut gewesen. Die Kritik hat diese Hypothese sehr skeptisch auf¬ genommen, und sicher mit Recht. Namentlich wird darauf hingewiesen, daß die Verwendung gewisser Zeichen und Symbole im Zauberwesen das Prius, ihre Aufnahme in die Gnosis erst das Posterius gewesen ist; viele Leute werden die heiligen Charaktere, die Vokalreihen, die Schlangen, den eselsköpfigen Gott usw. im Zauber angerufen haben, ohne mit der eigentlichen Gnosis in Verbindung zu stehn. Magische Formeln verbreiten sich, mündlich oder schriftlich, sicher überall hin; wer sie anwandte, hatte von ihrer Entstehung oder Be¬ deutung sicherlich oft keine Ahnung, und die Religion kam dabei am aller-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/546>, abgerufen am 28.09.2024.