Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

"Romeo und Julia" und des "Kaufmanns von Venedig" nicht überbieten,
und der Morgentau auf Goethes Jugendlyrik und zahlreichen Szenen des
Wertherromans und des Urfaust funkelt bestrickender, als die wunderbarsten
Juwelen seiner spätern Poesie! Ja selbst eine minder hochstehende und glück¬
liche Art der Jugend, die sich in dreister Zuversicht und aufwallender Heftig¬
keit äußert, kann im poetischen Ausdruck Teilnahme wecken und fesseln. Auch
bleibt es ein Recht der Jugend, ihren jeweiligen Anteil an der Erneuerung
und Umgestaltung aller Dinge mit Stolz zu empfinden. Von alledem ist in
den drei litterarischen Revolutionen des ersten, des vierten und letzten Jahr¬
zehnts des neunzehnten Jahrhunderts nur wenig und je länger um so weniger
zu spüren. Über gewissen Häuptern und Leistungen der Romantik liegt, wenn
man von den von Nüchternheit trunkner und in eitler, mehr greisenhafter als
jugendlicher Selbstüberhebung befangnen Gebrüdern Schlegel absieht, der
Schimmer und Hauch echter Jugend noch am vollsten. Er verblaßt und ver¬
weht in auffälliger Weise bei den Vertretern des jungen Deutschlands von
1830, von denen Immermann nach seiner Begegnung mit Gutzkow und Wien-
barg mit nur zu viel Recht urteilte, daß sie glasscharf und schneidend, sonder¬
bar kalt, ohne Liebe und Gemüt erschienen, daß sie alles, was Leben, Studien,
Schicksal erst im Menschen zur Reife kommen lassen soll, herb und grün von
den Zweigen schüttelten und sich selbst vorschnell den frischesten jungfräulichsten
Reiz der Dinge zerstörten. Was würde ein Immermann erst zu der seltsamen
Paarung von Überreife und Unreife gesagt haben, die in der jüngsten litte¬
rarischen Revolution zu Tage getreten ist!

Doch auch jede Erörterung über die Art und Besonderheit der littera¬
rischen Jugend der Gegenwart beiseite gesetzt, angenommen, daß dieser Jugend
das volle Maß unvertummerter und gesunder Entwicklungsfähigkeit (auf der
Entwicklungsfähigkeit liegt der Accent) zukomme, das der Jugend andrer Gene¬
rationen eigen war; zugestanden, daß ihre Absichten groß, ehrlich, bestündig
seien -- so bleibt die ausschließliche Betonung der Geburtsdaten eines der
zugleich traurigsten und heitersten Symptome der kritischen Anarchie, die im
Gefolge der dritten litterarischen Revolution hereingebrochen ist. Zu Zeiten
und gewissen Auslassungen kritischer Vorkämpfer der "Moderne" gegenüber
sollte man wirklich meinen, daß das unpersönliche Verdienst, erst nach der
Gründung des Reichs geboren zu sein, schon eine Bürgschaft auf Talent und
einen Anspruch auf Ruhm in sich schließe. Selbst wo 'man sich vor dieser
unfreiwilligen Komik zu wahren weiß, gewinnt es doch nur allzuoft den An¬
schein, als ob alle Pfuscher und Stümper, alle dilettantischen Modekünstler,
alle Talmitalente vor 1880 gelebt und gewirkt hätten, und erst seitdem echte
Dichter- und Künstlernaturen zu sehen wären. Die Kritik des Augenblicks
unterliegt derselben Täuschung, der einst die romantisierende und uach 1830
die liberalisierende Parteikritik anheimgefallen sind. Das Bedürfnis, die mo-


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

„Romeo und Julia" und des „Kaufmanns von Venedig" nicht überbieten,
und der Morgentau auf Goethes Jugendlyrik und zahlreichen Szenen des
Wertherromans und des Urfaust funkelt bestrickender, als die wunderbarsten
Juwelen seiner spätern Poesie! Ja selbst eine minder hochstehende und glück¬
liche Art der Jugend, die sich in dreister Zuversicht und aufwallender Heftig¬
keit äußert, kann im poetischen Ausdruck Teilnahme wecken und fesseln. Auch
bleibt es ein Recht der Jugend, ihren jeweiligen Anteil an der Erneuerung
und Umgestaltung aller Dinge mit Stolz zu empfinden. Von alledem ist in
den drei litterarischen Revolutionen des ersten, des vierten und letzten Jahr¬
zehnts des neunzehnten Jahrhunderts nur wenig und je länger um so weniger
zu spüren. Über gewissen Häuptern und Leistungen der Romantik liegt, wenn
man von den von Nüchternheit trunkner und in eitler, mehr greisenhafter als
jugendlicher Selbstüberhebung befangnen Gebrüdern Schlegel absieht, der
Schimmer und Hauch echter Jugend noch am vollsten. Er verblaßt und ver¬
weht in auffälliger Weise bei den Vertretern des jungen Deutschlands von
1830, von denen Immermann nach seiner Begegnung mit Gutzkow und Wien-
barg mit nur zu viel Recht urteilte, daß sie glasscharf und schneidend, sonder¬
bar kalt, ohne Liebe und Gemüt erschienen, daß sie alles, was Leben, Studien,
Schicksal erst im Menschen zur Reife kommen lassen soll, herb und grün von
den Zweigen schüttelten und sich selbst vorschnell den frischesten jungfräulichsten
Reiz der Dinge zerstörten. Was würde ein Immermann erst zu der seltsamen
Paarung von Überreife und Unreife gesagt haben, die in der jüngsten litte¬
rarischen Revolution zu Tage getreten ist!

Doch auch jede Erörterung über die Art und Besonderheit der littera¬
rischen Jugend der Gegenwart beiseite gesetzt, angenommen, daß dieser Jugend
das volle Maß unvertummerter und gesunder Entwicklungsfähigkeit (auf der
Entwicklungsfähigkeit liegt der Accent) zukomme, das der Jugend andrer Gene¬
rationen eigen war; zugestanden, daß ihre Absichten groß, ehrlich, bestündig
seien — so bleibt die ausschließliche Betonung der Geburtsdaten eines der
zugleich traurigsten und heitersten Symptome der kritischen Anarchie, die im
Gefolge der dritten litterarischen Revolution hereingebrochen ist. Zu Zeiten
und gewissen Auslassungen kritischer Vorkämpfer der „Moderne" gegenüber
sollte man wirklich meinen, daß das unpersönliche Verdienst, erst nach der
Gründung des Reichs geboren zu sein, schon eine Bürgschaft auf Talent und
einen Anspruch auf Ruhm in sich schließe. Selbst wo 'man sich vor dieser
unfreiwilligen Komik zu wahren weiß, gewinnt es doch nur allzuoft den An¬
schein, als ob alle Pfuscher und Stümper, alle dilettantischen Modekünstler,
alle Talmitalente vor 1880 gelebt und gewirkt hätten, und erst seitdem echte
Dichter- und Künstlernaturen zu sehen wären. Die Kritik des Augenblicks
unterliegt derselben Täuschung, der einst die romantisierende und uach 1830
die liberalisierende Parteikritik anheimgefallen sind. Das Bedürfnis, die mo-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0482" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230914"/>
          <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1626" prev="#ID_1625"> &#x201E;Romeo und Julia" und des &#x201E;Kaufmanns von Venedig" nicht überbieten,<lb/>
und der Morgentau auf Goethes Jugendlyrik und zahlreichen Szenen des<lb/>
Wertherromans und des Urfaust funkelt bestrickender, als die wunderbarsten<lb/>
Juwelen seiner spätern Poesie! Ja selbst eine minder hochstehende und glück¬<lb/>
liche Art der Jugend, die sich in dreister Zuversicht und aufwallender Heftig¬<lb/>
keit äußert, kann im poetischen Ausdruck Teilnahme wecken und fesseln. Auch<lb/>
bleibt es ein Recht der Jugend, ihren jeweiligen Anteil an der Erneuerung<lb/>
und Umgestaltung aller Dinge mit Stolz zu empfinden. Von alledem ist in<lb/>
den drei litterarischen Revolutionen des ersten, des vierten und letzten Jahr¬<lb/>
zehnts des neunzehnten Jahrhunderts nur wenig und je länger um so weniger<lb/>
zu spüren. Über gewissen Häuptern und Leistungen der Romantik liegt, wenn<lb/>
man von den von Nüchternheit trunkner und in eitler, mehr greisenhafter als<lb/>
jugendlicher Selbstüberhebung befangnen Gebrüdern Schlegel absieht, der<lb/>
Schimmer und Hauch echter Jugend noch am vollsten. Er verblaßt und ver¬<lb/>
weht in auffälliger Weise bei den Vertretern des jungen Deutschlands von<lb/>
1830, von denen Immermann nach seiner Begegnung mit Gutzkow und Wien-<lb/>
barg mit nur zu viel Recht urteilte, daß sie glasscharf und schneidend, sonder¬<lb/>
bar kalt, ohne Liebe und Gemüt erschienen, daß sie alles, was Leben, Studien,<lb/>
Schicksal erst im Menschen zur Reife kommen lassen soll, herb und grün von<lb/>
den Zweigen schüttelten und sich selbst vorschnell den frischesten jungfräulichsten<lb/>
Reiz der Dinge zerstörten. Was würde ein Immermann erst zu der seltsamen<lb/>
Paarung von Überreife und Unreife gesagt haben, die in der jüngsten litte¬<lb/>
rarischen Revolution zu Tage getreten ist!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1627" next="#ID_1628"> Doch auch jede Erörterung über die Art und Besonderheit der littera¬<lb/>
rischen Jugend der Gegenwart beiseite gesetzt, angenommen, daß dieser Jugend<lb/>
das volle Maß unvertummerter und gesunder Entwicklungsfähigkeit (auf der<lb/>
Entwicklungsfähigkeit liegt der Accent) zukomme, das der Jugend andrer Gene¬<lb/>
rationen eigen war; zugestanden, daß ihre Absichten groß, ehrlich, bestündig<lb/>
seien &#x2014; so bleibt die ausschließliche Betonung der Geburtsdaten eines der<lb/>
zugleich traurigsten und heitersten Symptome der kritischen Anarchie, die im<lb/>
Gefolge der dritten litterarischen Revolution hereingebrochen ist. Zu Zeiten<lb/>
und gewissen Auslassungen kritischer Vorkämpfer der &#x201E;Moderne" gegenüber<lb/>
sollte man wirklich meinen, daß das unpersönliche Verdienst, erst nach der<lb/>
Gründung des Reichs geboren zu sein, schon eine Bürgschaft auf Talent und<lb/>
einen Anspruch auf Ruhm in sich schließe. Selbst wo 'man sich vor dieser<lb/>
unfreiwilligen Komik zu wahren weiß, gewinnt es doch nur allzuoft den An¬<lb/>
schein, als ob alle Pfuscher und Stümper, alle dilettantischen Modekünstler,<lb/>
alle Talmitalente vor 1880 gelebt und gewirkt hätten, und erst seitdem echte<lb/>
Dichter- und Künstlernaturen zu sehen wären. Die Kritik des Augenblicks<lb/>
unterliegt derselben Täuschung, der einst die romantisierende und uach 1830<lb/>
die liberalisierende Parteikritik anheimgefallen sind.  Das Bedürfnis, die mo-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0482] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur „Romeo und Julia" und des „Kaufmanns von Venedig" nicht überbieten, und der Morgentau auf Goethes Jugendlyrik und zahlreichen Szenen des Wertherromans und des Urfaust funkelt bestrickender, als die wunderbarsten Juwelen seiner spätern Poesie! Ja selbst eine minder hochstehende und glück¬ liche Art der Jugend, die sich in dreister Zuversicht und aufwallender Heftig¬ keit äußert, kann im poetischen Ausdruck Teilnahme wecken und fesseln. Auch bleibt es ein Recht der Jugend, ihren jeweiligen Anteil an der Erneuerung und Umgestaltung aller Dinge mit Stolz zu empfinden. Von alledem ist in den drei litterarischen Revolutionen des ersten, des vierten und letzten Jahr¬ zehnts des neunzehnten Jahrhunderts nur wenig und je länger um so weniger zu spüren. Über gewissen Häuptern und Leistungen der Romantik liegt, wenn man von den von Nüchternheit trunkner und in eitler, mehr greisenhafter als jugendlicher Selbstüberhebung befangnen Gebrüdern Schlegel absieht, der Schimmer und Hauch echter Jugend noch am vollsten. Er verblaßt und ver¬ weht in auffälliger Weise bei den Vertretern des jungen Deutschlands von 1830, von denen Immermann nach seiner Begegnung mit Gutzkow und Wien- barg mit nur zu viel Recht urteilte, daß sie glasscharf und schneidend, sonder¬ bar kalt, ohne Liebe und Gemüt erschienen, daß sie alles, was Leben, Studien, Schicksal erst im Menschen zur Reife kommen lassen soll, herb und grün von den Zweigen schüttelten und sich selbst vorschnell den frischesten jungfräulichsten Reiz der Dinge zerstörten. Was würde ein Immermann erst zu der seltsamen Paarung von Überreife und Unreife gesagt haben, die in der jüngsten litte¬ rarischen Revolution zu Tage getreten ist! Doch auch jede Erörterung über die Art und Besonderheit der littera¬ rischen Jugend der Gegenwart beiseite gesetzt, angenommen, daß dieser Jugend das volle Maß unvertummerter und gesunder Entwicklungsfähigkeit (auf der Entwicklungsfähigkeit liegt der Accent) zukomme, das der Jugend andrer Gene¬ rationen eigen war; zugestanden, daß ihre Absichten groß, ehrlich, bestündig seien — so bleibt die ausschließliche Betonung der Geburtsdaten eines der zugleich traurigsten und heitersten Symptome der kritischen Anarchie, die im Gefolge der dritten litterarischen Revolution hereingebrochen ist. Zu Zeiten und gewissen Auslassungen kritischer Vorkämpfer der „Moderne" gegenüber sollte man wirklich meinen, daß das unpersönliche Verdienst, erst nach der Gründung des Reichs geboren zu sein, schon eine Bürgschaft auf Talent und einen Anspruch auf Ruhm in sich schließe. Selbst wo 'man sich vor dieser unfreiwilligen Komik zu wahren weiß, gewinnt es doch nur allzuoft den An¬ schein, als ob alle Pfuscher und Stümper, alle dilettantischen Modekünstler, alle Talmitalente vor 1880 gelebt und gewirkt hätten, und erst seitdem echte Dichter- und Künstlernaturen zu sehen wären. Die Kritik des Augenblicks unterliegt derselben Täuschung, der einst die romantisierende und uach 1830 die liberalisierende Parteikritik anheimgefallen sind. Das Bedürfnis, die mo-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/482
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/482>, abgerufen am 20.10.2024.