Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Knnstpartei teilen darf. Es klingt ja recht gut auf der Seite des Heute gegen
das Gestern stehn, auf der Seite der Zukunft gegen die Vergangenheit, der
schaffenskräftigen Jugend gegen das verknöcherte und impotente Alter, aber
das erste und letzte Ziel wahrer Kunstanschauung und Kunstkritik wird bei
dieser Parteinahme fast regelmäßig verfehlt. In allen drei Revolutionen, in
der jüngsten modernen stärker als zuvor, ist die irreführende Losung: alt und
neu zehntausendfach erklungen. Die wahren Unterschiede, um die es sich
handelt, sind und bleiben allein die Unterschiede zwischen Ursprünglichkeit
und Nachahmung, zwischen Wahrheit und Schein, zwischen Kraft und Unver¬
mögen, zwischen Meister und Stümper, und es ist die härteste Anklage gegen
die drei Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, daß jede sich beeifert
hat, an die Stelle dieser Grundunterschiede andre, unwesentliche und modische
zu setzen. Selbst wenn es wahr wäre, was Leo Berg geltend macht, daß
"in der Empörung gegen die Vergangenheit, in dem Sichemporheben über sie
die Größe jeder neuen Zeit bestehe," so würde es sich immer darum handeln,
ob diese Empörung und Emporhebung mehr Ursprünglichkeit, Wahrheit, Kraft
und Meisterschaft offenbart habe, als der vorhergehenden Periode eigen ge¬
wesen ist. Weil es sich selten so verhält, und weil allenfalls eine seelenlose
und wüste Zeitungspolemik, aber niemals die poetische Empfänglichkeit und
das natürliche Urteil den bloßen Anspruch für die Leistung gelten lassen können,
ist in jeder litterarischen Revolution das Parteiprogramm großsprecherischer,
unduldsamer, der Anspruch auf Alleinbedeutung hochmütiger und lärmender
geworden.

Die Romantiker, die nicht gering von sich selbst dachten und wenig außer¬
halb des eignen Kreises gelten ließen, wurden im Selbstgefühl und Selbstlob
von den Jungdeutschen weit überboten, die ihrerseits wieder für zaghaft und
bescheiden im Vergleich mit unsern Jüngsten, von denen jeder "sich selbst setzt,"
erachtet werden müssen. Die Berufung auf die Jugend hat sich in dem Maße
gesteigert, als die Jugend selbst unjugendlicher geworden ist; der Trumpf:
"jung! jung! jung!" soll jeden andern selbst dann übertrumpfen, wenn Jugend
von allen ihren charakteristischen Eigenschaften nur uoch die Unreife, aber
weder den Schwung und Mut, noch die Lebensfreudigkeit und das selbstver¬
gessene Wohlwollen aufweist. Da muß es denn einmal ausgesprochen werden,
daß die gegenwärtig herrschende Vergötterung eines Jungseins, das auf nichts
besserm beruht, als auf dem Geburtsjahr, eine der schlimmsten und dümmsten
Verirrungen der Tageskritik ist. Wohl, es giebt eine Jugend, ein Gefühl,
einen goldnen Schimmer und Hauch der Jugend, die unwiderstehlich bleiben,
die auch in der Dichtung und Kunst dnrch nichts zu ersetzen und zu über¬
treffen sind. Wer diesen Glanz und Hauch je in poetischen Schöpfungen em¬
pfunden hat, wird ihn um nichts missen wollen; alle Erhabenheit und Reife
von Shakespeares "Macbeth" oder "Coriolan" können den Jugendzauber von


Grenzboten II 1899 t>0
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Knnstpartei teilen darf. Es klingt ja recht gut auf der Seite des Heute gegen
das Gestern stehn, auf der Seite der Zukunft gegen die Vergangenheit, der
schaffenskräftigen Jugend gegen das verknöcherte und impotente Alter, aber
das erste und letzte Ziel wahrer Kunstanschauung und Kunstkritik wird bei
dieser Parteinahme fast regelmäßig verfehlt. In allen drei Revolutionen, in
der jüngsten modernen stärker als zuvor, ist die irreführende Losung: alt und
neu zehntausendfach erklungen. Die wahren Unterschiede, um die es sich
handelt, sind und bleiben allein die Unterschiede zwischen Ursprünglichkeit
und Nachahmung, zwischen Wahrheit und Schein, zwischen Kraft und Unver¬
mögen, zwischen Meister und Stümper, und es ist die härteste Anklage gegen
die drei Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, daß jede sich beeifert
hat, an die Stelle dieser Grundunterschiede andre, unwesentliche und modische
zu setzen. Selbst wenn es wahr wäre, was Leo Berg geltend macht, daß
„in der Empörung gegen die Vergangenheit, in dem Sichemporheben über sie
die Größe jeder neuen Zeit bestehe," so würde es sich immer darum handeln,
ob diese Empörung und Emporhebung mehr Ursprünglichkeit, Wahrheit, Kraft
und Meisterschaft offenbart habe, als der vorhergehenden Periode eigen ge¬
wesen ist. Weil es sich selten so verhält, und weil allenfalls eine seelenlose
und wüste Zeitungspolemik, aber niemals die poetische Empfänglichkeit und
das natürliche Urteil den bloßen Anspruch für die Leistung gelten lassen können,
ist in jeder litterarischen Revolution das Parteiprogramm großsprecherischer,
unduldsamer, der Anspruch auf Alleinbedeutung hochmütiger und lärmender
geworden.

Die Romantiker, die nicht gering von sich selbst dachten und wenig außer¬
halb des eignen Kreises gelten ließen, wurden im Selbstgefühl und Selbstlob
von den Jungdeutschen weit überboten, die ihrerseits wieder für zaghaft und
bescheiden im Vergleich mit unsern Jüngsten, von denen jeder „sich selbst setzt,"
erachtet werden müssen. Die Berufung auf die Jugend hat sich in dem Maße
gesteigert, als die Jugend selbst unjugendlicher geworden ist; der Trumpf:
„jung! jung! jung!" soll jeden andern selbst dann übertrumpfen, wenn Jugend
von allen ihren charakteristischen Eigenschaften nur uoch die Unreife, aber
weder den Schwung und Mut, noch die Lebensfreudigkeit und das selbstver¬
gessene Wohlwollen aufweist. Da muß es denn einmal ausgesprochen werden,
daß die gegenwärtig herrschende Vergötterung eines Jungseins, das auf nichts
besserm beruht, als auf dem Geburtsjahr, eine der schlimmsten und dümmsten
Verirrungen der Tageskritik ist. Wohl, es giebt eine Jugend, ein Gefühl,
einen goldnen Schimmer und Hauch der Jugend, die unwiderstehlich bleiben,
die auch in der Dichtung und Kunst dnrch nichts zu ersetzen und zu über¬
treffen sind. Wer diesen Glanz und Hauch je in poetischen Schöpfungen em¬
pfunden hat, wird ihn um nichts missen wollen; alle Erhabenheit und Reife
von Shakespeares „Macbeth" oder „Coriolan" können den Jugendzauber von


Grenzboten II 1899 t>0
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0481" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230913"/>
          <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1624" prev="#ID_1623"> Knnstpartei teilen darf. Es klingt ja recht gut auf der Seite des Heute gegen<lb/>
das Gestern stehn, auf der Seite der Zukunft gegen die Vergangenheit, der<lb/>
schaffenskräftigen Jugend gegen das verknöcherte und impotente Alter, aber<lb/>
das erste und letzte Ziel wahrer Kunstanschauung und Kunstkritik wird bei<lb/>
dieser Parteinahme fast regelmäßig verfehlt. In allen drei Revolutionen, in<lb/>
der jüngsten modernen stärker als zuvor, ist die irreführende Losung: alt und<lb/>
neu zehntausendfach erklungen. Die wahren Unterschiede, um die es sich<lb/>
handelt, sind und bleiben allein die Unterschiede zwischen Ursprünglichkeit<lb/>
und Nachahmung, zwischen Wahrheit und Schein, zwischen Kraft und Unver¬<lb/>
mögen, zwischen Meister und Stümper, und es ist die härteste Anklage gegen<lb/>
die drei Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, daß jede sich beeifert<lb/>
hat, an die Stelle dieser Grundunterschiede andre, unwesentliche und modische<lb/>
zu setzen. Selbst wenn es wahr wäre, was Leo Berg geltend macht, daß<lb/>
&#x201E;in der Empörung gegen die Vergangenheit, in dem Sichemporheben über sie<lb/>
die Größe jeder neuen Zeit bestehe," so würde es sich immer darum handeln,<lb/>
ob diese Empörung und Emporhebung mehr Ursprünglichkeit, Wahrheit, Kraft<lb/>
und Meisterschaft offenbart habe, als der vorhergehenden Periode eigen ge¬<lb/>
wesen ist. Weil es sich selten so verhält, und weil allenfalls eine seelenlose<lb/>
und wüste Zeitungspolemik, aber niemals die poetische Empfänglichkeit und<lb/>
das natürliche Urteil den bloßen Anspruch für die Leistung gelten lassen können,<lb/>
ist in jeder litterarischen Revolution das Parteiprogramm großsprecherischer,<lb/>
unduldsamer, der Anspruch auf Alleinbedeutung hochmütiger und lärmender<lb/>
geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1625" next="#ID_1626"> Die Romantiker, die nicht gering von sich selbst dachten und wenig außer¬<lb/>
halb des eignen Kreises gelten ließen, wurden im Selbstgefühl und Selbstlob<lb/>
von den Jungdeutschen weit überboten, die ihrerseits wieder für zaghaft und<lb/>
bescheiden im Vergleich mit unsern Jüngsten, von denen jeder &#x201E;sich selbst setzt,"<lb/>
erachtet werden müssen. Die Berufung auf die Jugend hat sich in dem Maße<lb/>
gesteigert, als die Jugend selbst unjugendlicher geworden ist; der Trumpf:<lb/>
&#x201E;jung! jung! jung!" soll jeden andern selbst dann übertrumpfen, wenn Jugend<lb/>
von allen ihren charakteristischen Eigenschaften nur uoch die Unreife, aber<lb/>
weder den Schwung und Mut, noch die Lebensfreudigkeit und das selbstver¬<lb/>
gessene Wohlwollen aufweist. Da muß es denn einmal ausgesprochen werden,<lb/>
daß die gegenwärtig herrschende Vergötterung eines Jungseins, das auf nichts<lb/>
besserm beruht, als auf dem Geburtsjahr, eine der schlimmsten und dümmsten<lb/>
Verirrungen der Tageskritik ist. Wohl, es giebt eine Jugend, ein Gefühl,<lb/>
einen goldnen Schimmer und Hauch der Jugend, die unwiderstehlich bleiben,<lb/>
die auch in der Dichtung und Kunst dnrch nichts zu ersetzen und zu über¬<lb/>
treffen sind. Wer diesen Glanz und Hauch je in poetischen Schöpfungen em¬<lb/>
pfunden hat, wird ihn um nichts missen wollen; alle Erhabenheit und Reife<lb/>
von Shakespeares &#x201E;Macbeth" oder &#x201E;Coriolan" können den Jugendzauber von</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1899 t&gt;0</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0481] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Knnstpartei teilen darf. Es klingt ja recht gut auf der Seite des Heute gegen das Gestern stehn, auf der Seite der Zukunft gegen die Vergangenheit, der schaffenskräftigen Jugend gegen das verknöcherte und impotente Alter, aber das erste und letzte Ziel wahrer Kunstanschauung und Kunstkritik wird bei dieser Parteinahme fast regelmäßig verfehlt. In allen drei Revolutionen, in der jüngsten modernen stärker als zuvor, ist die irreführende Losung: alt und neu zehntausendfach erklungen. Die wahren Unterschiede, um die es sich handelt, sind und bleiben allein die Unterschiede zwischen Ursprünglichkeit und Nachahmung, zwischen Wahrheit und Schein, zwischen Kraft und Unver¬ mögen, zwischen Meister und Stümper, und es ist die härteste Anklage gegen die drei Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts, daß jede sich beeifert hat, an die Stelle dieser Grundunterschiede andre, unwesentliche und modische zu setzen. Selbst wenn es wahr wäre, was Leo Berg geltend macht, daß „in der Empörung gegen die Vergangenheit, in dem Sichemporheben über sie die Größe jeder neuen Zeit bestehe," so würde es sich immer darum handeln, ob diese Empörung und Emporhebung mehr Ursprünglichkeit, Wahrheit, Kraft und Meisterschaft offenbart habe, als der vorhergehenden Periode eigen ge¬ wesen ist. Weil es sich selten so verhält, und weil allenfalls eine seelenlose und wüste Zeitungspolemik, aber niemals die poetische Empfänglichkeit und das natürliche Urteil den bloßen Anspruch für die Leistung gelten lassen können, ist in jeder litterarischen Revolution das Parteiprogramm großsprecherischer, unduldsamer, der Anspruch auf Alleinbedeutung hochmütiger und lärmender geworden. Die Romantiker, die nicht gering von sich selbst dachten und wenig außer¬ halb des eignen Kreises gelten ließen, wurden im Selbstgefühl und Selbstlob von den Jungdeutschen weit überboten, die ihrerseits wieder für zaghaft und bescheiden im Vergleich mit unsern Jüngsten, von denen jeder „sich selbst setzt," erachtet werden müssen. Die Berufung auf die Jugend hat sich in dem Maße gesteigert, als die Jugend selbst unjugendlicher geworden ist; der Trumpf: „jung! jung! jung!" soll jeden andern selbst dann übertrumpfen, wenn Jugend von allen ihren charakteristischen Eigenschaften nur uoch die Unreife, aber weder den Schwung und Mut, noch die Lebensfreudigkeit und das selbstver¬ gessene Wohlwollen aufweist. Da muß es denn einmal ausgesprochen werden, daß die gegenwärtig herrschende Vergötterung eines Jungseins, das auf nichts besserm beruht, als auf dem Geburtsjahr, eine der schlimmsten und dümmsten Verirrungen der Tageskritik ist. Wohl, es giebt eine Jugend, ein Gefühl, einen goldnen Schimmer und Hauch der Jugend, die unwiderstehlich bleiben, die auch in der Dichtung und Kunst dnrch nichts zu ersetzen und zu über¬ treffen sind. Wer diesen Glanz und Hauch je in poetischen Schöpfungen em¬ pfunden hat, wird ihn um nichts missen wollen; alle Erhabenheit und Reife von Shakespeares „Macbeth" oder „Coriolan" können den Jugendzauber von Grenzboten II 1899 t>0

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/481
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/481>, abgerufen am 28.09.2024.