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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

Auffallend viel ist das in Frankreich sehr angesehene Buch von Fühlet de
Coulanges: 1,3, cito suticiuk in Anspruch genommen. In Deutschland ist es
wenig bekannt, es enthält nicht viel eigne Forschung, aber geschickte Formu¬
lierung, und je dunkler und unsichrer die Sache, desto interessanter wird
manchmal die Wortführung. Von dieser Kunst fühlte sich Burckhardt offenbar
angezogen.

Das nun entworfne Bild der athenischen Demokratie ist für diese wenig
schmeichelhaft. Wenn man etwa sagt, daß es sich von der üblichen Schön¬
färberei ganz fernhalte, so bedeutet das nicht viel. Denn dieses Schönfärben
mancher frühern, z. B. Grotes, ist längst nicht mehr allgemeines Bedürfnis,
wie andre moderne Darstellungen zeigen, und außerdem hat Burckhardts Schil¬
derung noch ihre ganz besondern Ausdrucksmittel, die auf ihrem eignen Boden
gewachsen sind. Er selbst war ein guter Republikaner, aber nicht alles Republi¬
kanische schien ihm gut; von Herzen war er, wie viele seiner vornehmern Stadt¬
genossen, eine aristokratische Natur. Die höchste Vornehmheit ist einfach, für
sich selbst wollte Burckhardt gar nichts, aber er war ein Mann der Auslese,
und alles Pvbelartige, alles, was aus Massenwirkung ausgeht, war ihm tief
zuwider. Wie hätte ihm die ätherische Verfassung zusagen können, die alle
Entscheidung in die Hände der Massen gegeben hatte? Der Pöbel hatte überall
das letzte Wort, sei es in der Volksversammlung, wobei der alljährlich erneute
Rat die Geschüstsleitung und die Kommissionsarbeit zu übernehmen hatte, sei
es im Schwurgericht. Jeder Regierungsakt der vielen alljährlich wechselnden
und durch Kollegialität beschränkten Beamten konnte zu einem Prozeß führen,
unterlag also dem schließlichen Befinden der Herren Geschwornen. Alle Macht,
die früher Könige, Aristokraten und Tyrannen gehabt hatten, war nun an den
Demos geraten, und dieser drückte stärker als sie "auf Leib und Seele des
Individuums." Negierung durch wenige mit Freiheit für alle, wie sie Burck¬
hardt in seinem Basel verwirklicht sehen oder doch für möglich halten mochte,
"scheint in Athen ganz unmöglich gewesen zu sein." Perikles hatte schon das
meiste von dieser Pöbelherrschaft zu verantworten. Die wenigen Jahrzehnte
der vollen athenischen Herrlichkeit mußte" zum Frommen aller spätern Zeiten
einmal erlebt werden, damit ein Maßstab gewonnen würde für das dem
griechischen Geiste Mögliche, aber die nachträglichen Wünsche der Optimisten,
daß dieser Zustand noch recht lange hätte dauern sollen, sind völlig eitel; alles
war ins Unmögliche geschraubt, und jede Veränderung mußte Verderben
bringen. "Dieser Staat hat nicht nur in der Leidenschaft die für ihn selber
schädlichsten Thorheiten und Gewaltsamkeiten beschlossen, sondern auch seine
begabten Menschen rasch aufgebraucht oder von sich abgeschreckt. Den seit¬
herigen Jahrtausenden aber ist nicht an Athen als Staat, sondern an Athen
als Kulturpotenz ersten Ranges, als Quelle des Geistes etwas gelegen ge¬
wesen." Der Demos als Staat konnte den Einzelnen nach Belieben taxieren,


Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

Auffallend viel ist das in Frankreich sehr angesehene Buch von Fühlet de
Coulanges: 1,3, cito suticiuk in Anspruch genommen. In Deutschland ist es
wenig bekannt, es enthält nicht viel eigne Forschung, aber geschickte Formu¬
lierung, und je dunkler und unsichrer die Sache, desto interessanter wird
manchmal die Wortführung. Von dieser Kunst fühlte sich Burckhardt offenbar
angezogen.

Das nun entworfne Bild der athenischen Demokratie ist für diese wenig
schmeichelhaft. Wenn man etwa sagt, daß es sich von der üblichen Schön¬
färberei ganz fernhalte, so bedeutet das nicht viel. Denn dieses Schönfärben
mancher frühern, z. B. Grotes, ist längst nicht mehr allgemeines Bedürfnis,
wie andre moderne Darstellungen zeigen, und außerdem hat Burckhardts Schil¬
derung noch ihre ganz besondern Ausdrucksmittel, die auf ihrem eignen Boden
gewachsen sind. Er selbst war ein guter Republikaner, aber nicht alles Republi¬
kanische schien ihm gut; von Herzen war er, wie viele seiner vornehmern Stadt¬
genossen, eine aristokratische Natur. Die höchste Vornehmheit ist einfach, für
sich selbst wollte Burckhardt gar nichts, aber er war ein Mann der Auslese,
und alles Pvbelartige, alles, was aus Massenwirkung ausgeht, war ihm tief
zuwider. Wie hätte ihm die ätherische Verfassung zusagen können, die alle
Entscheidung in die Hände der Massen gegeben hatte? Der Pöbel hatte überall
das letzte Wort, sei es in der Volksversammlung, wobei der alljährlich erneute
Rat die Geschüstsleitung und die Kommissionsarbeit zu übernehmen hatte, sei
es im Schwurgericht. Jeder Regierungsakt der vielen alljährlich wechselnden
und durch Kollegialität beschränkten Beamten konnte zu einem Prozeß führen,
unterlag also dem schließlichen Befinden der Herren Geschwornen. Alle Macht,
die früher Könige, Aristokraten und Tyrannen gehabt hatten, war nun an den
Demos geraten, und dieser drückte stärker als sie „auf Leib und Seele des
Individuums." Negierung durch wenige mit Freiheit für alle, wie sie Burck¬
hardt in seinem Basel verwirklicht sehen oder doch für möglich halten mochte,
„scheint in Athen ganz unmöglich gewesen zu sein." Perikles hatte schon das
meiste von dieser Pöbelherrschaft zu verantworten. Die wenigen Jahrzehnte
der vollen athenischen Herrlichkeit mußte« zum Frommen aller spätern Zeiten
einmal erlebt werden, damit ein Maßstab gewonnen würde für das dem
griechischen Geiste Mögliche, aber die nachträglichen Wünsche der Optimisten,
daß dieser Zustand noch recht lange hätte dauern sollen, sind völlig eitel; alles
war ins Unmögliche geschraubt, und jede Veränderung mußte Verderben
bringen. „Dieser Staat hat nicht nur in der Leidenschaft die für ihn selber
schädlichsten Thorheiten und Gewaltsamkeiten beschlossen, sondern auch seine
begabten Menschen rasch aufgebraucht oder von sich abgeschreckt. Den seit¬
herigen Jahrtausenden aber ist nicht an Athen als Staat, sondern an Athen
als Kulturpotenz ersten Ranges, als Quelle des Geistes etwas gelegen ge¬
wesen." Der Demos als Staat konnte den Einzelnen nach Belieben taxieren,


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[0046] Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte Auffallend viel ist das in Frankreich sehr angesehene Buch von Fühlet de Coulanges: 1,3, cito suticiuk in Anspruch genommen. In Deutschland ist es wenig bekannt, es enthält nicht viel eigne Forschung, aber geschickte Formu¬ lierung, und je dunkler und unsichrer die Sache, desto interessanter wird manchmal die Wortführung. Von dieser Kunst fühlte sich Burckhardt offenbar angezogen. Das nun entworfne Bild der athenischen Demokratie ist für diese wenig schmeichelhaft. Wenn man etwa sagt, daß es sich von der üblichen Schön¬ färberei ganz fernhalte, so bedeutet das nicht viel. Denn dieses Schönfärben mancher frühern, z. B. Grotes, ist längst nicht mehr allgemeines Bedürfnis, wie andre moderne Darstellungen zeigen, und außerdem hat Burckhardts Schil¬ derung noch ihre ganz besondern Ausdrucksmittel, die auf ihrem eignen Boden gewachsen sind. Er selbst war ein guter Republikaner, aber nicht alles Republi¬ kanische schien ihm gut; von Herzen war er, wie viele seiner vornehmern Stadt¬ genossen, eine aristokratische Natur. Die höchste Vornehmheit ist einfach, für sich selbst wollte Burckhardt gar nichts, aber er war ein Mann der Auslese, und alles Pvbelartige, alles, was aus Massenwirkung ausgeht, war ihm tief zuwider. Wie hätte ihm die ätherische Verfassung zusagen können, die alle Entscheidung in die Hände der Massen gegeben hatte? Der Pöbel hatte überall das letzte Wort, sei es in der Volksversammlung, wobei der alljährlich erneute Rat die Geschüstsleitung und die Kommissionsarbeit zu übernehmen hatte, sei es im Schwurgericht. Jeder Regierungsakt der vielen alljährlich wechselnden und durch Kollegialität beschränkten Beamten konnte zu einem Prozeß führen, unterlag also dem schließlichen Befinden der Herren Geschwornen. Alle Macht, die früher Könige, Aristokraten und Tyrannen gehabt hatten, war nun an den Demos geraten, und dieser drückte stärker als sie „auf Leib und Seele des Individuums." Negierung durch wenige mit Freiheit für alle, wie sie Burck¬ hardt in seinem Basel verwirklicht sehen oder doch für möglich halten mochte, „scheint in Athen ganz unmöglich gewesen zu sein." Perikles hatte schon das meiste von dieser Pöbelherrschaft zu verantworten. Die wenigen Jahrzehnte der vollen athenischen Herrlichkeit mußte« zum Frommen aller spätern Zeiten einmal erlebt werden, damit ein Maßstab gewonnen würde für das dem griechischen Geiste Mögliche, aber die nachträglichen Wünsche der Optimisten, daß dieser Zustand noch recht lange hätte dauern sollen, sind völlig eitel; alles war ins Unmögliche geschraubt, und jede Veränderung mußte Verderben bringen. „Dieser Staat hat nicht nur in der Leidenschaft die für ihn selber schädlichsten Thorheiten und Gewaltsamkeiten beschlossen, sondern auch seine begabten Menschen rasch aufgebraucht oder von sich abgeschreckt. Den seit¬ herigen Jahrtausenden aber ist nicht an Athen als Staat, sondern an Athen als Kulturpotenz ersten Ranges, als Quelle des Geistes etwas gelegen ge¬ wesen." Der Demos als Staat konnte den Einzelnen nach Belieben taxieren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/46>, abgerufen am 28.09.2024.