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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

er und hat er dann auch zwischen zwei und zehn Hektar Landes -- je nach
dem Bodenwert -- erhalten, für die er eine in langen Terminen zu zahlende
Ablösungssumme schuldig wurde. Dieser Kauf der Dorfflur war auf den nicht
öffentlichen Ländereien nicht obligatorisch, sondern geschah erst auf Verlangen
der Gemeinde oder des Gutsbesitzers nach staatlich festgestellten Normen. Bei
der Wirtschaft im Dreifeldersystem und in der alten rohen Art der Feldbe¬
stellung konnten die zwei bis zehn Hektar auf den Bauernhof kaum genügen
zur Nahrung und Zahlung von Steuern und Ablösung, um so weniger als
diese Ablösung sehr hoch angesetzt war. Dem privaten Grundherrn stand
außerdem das Recht zu, die Ablösung der Dorfflur zu vermeiden, indem er ein
Viertel der Flur der Gemeinde unentgeltlich abtrat. Dann kam auf jeden Hof
^/z bis Hektar. Es kam nun das Recht der Nenteilung hinzu, das jedem
fleißigem Bauer in Aussicht stellte, daß, sobald er seiue Äcker verbesserte,
andre davon den Nutzen haben würden, indem sie die Verteilung durchsetzten
und ihn des verbesserten Ackers beraubten. Das schienen dann allerdings Zu¬
stände zu sein, die gesetzlich festzuhalten nicht möglich wäre. Dennoch hat sich
die Regierung jederzeit redlich bemüht, den natürlichen Drang zum Sprengen
der Fesseln zurück zu zwingen zu der idealen Gleichheit der Bettelhaftigkeit.

Aber schon bald nach der Bauernbefreiung begann die Klage, daß aller
Zwang nicht ausreiche, zu verhindern, daß jeder Bauer in seiner Weise dazu
beitrage, an der Gleichheit des Besitzes zu rütteln. Der eine war faul, dumm,
ein Säufer, und der andre klug, geizig und etwas weniger Säufer, was zur
Folge hatte, daß er jenen um seine letzte Habe auswucherte und ihn dann
zum schlecht bezahlten Arbeiter auf seinem dem Stärkern nun verpfändeten
Acker machte. Diese Dorfwucherer, die man "Fäuste" nennt, mehrten sich in
erstaunlichem Maße, und alle gegen sie ergriffnen Maßregeln fruchteten nichts.
Die Stärkern begannen auch ihre Äcker besser zu Pflegen im Vertrauen darauf,
daß ihr Einfluß eine Verteilung verhindern werde, die ihnen nachteilig wäre.
Es hat sich herausgestellt, daß die Anleitungen seit der Aufhebung der Leib¬
eigenschaft seltner wurden, und ihre Fristen um so länger, je besser der Boden
bestellt wurde. Die bessere Ackerpflege, besonders das Düngen, hat auch der
Neuverlosung der Gewanne gewehrt, die mit der Vermehrung der Gemeinde¬
glieder Schritt halten soll; aber das ist doch nur in beschränktem Maße ge¬
schehen, denn wir erfahren, daß im allgemeinen die Gewanne immer kleiner
wurden, weil die Bevölkerung, die zu einem Anteil an der Dorfflur berech¬
tigten Personen, sich mehrten, die Dorfflur aber gleich groß blieb, und daß
so Zwergwirtschasten entstanden, die zum Proletariat führten. "Wenn die
Landanteile, sagt ein russischer Statistiker, die von den einzelnen Wirten genutzt
werden, sich derart verringern, daß eine weitere Verkürzung die Existenz des
neuen Wirts nicht sichert und die des alten ruiniert, dann hören die allge¬
meinen Anleitungen auf, und die Feldgemeinschaft stirbt ab." Das mag für


Herr Witte als Reformer Rußlands

er und hat er dann auch zwischen zwei und zehn Hektar Landes — je nach
dem Bodenwert — erhalten, für die er eine in langen Terminen zu zahlende
Ablösungssumme schuldig wurde. Dieser Kauf der Dorfflur war auf den nicht
öffentlichen Ländereien nicht obligatorisch, sondern geschah erst auf Verlangen
der Gemeinde oder des Gutsbesitzers nach staatlich festgestellten Normen. Bei
der Wirtschaft im Dreifeldersystem und in der alten rohen Art der Feldbe¬
stellung konnten die zwei bis zehn Hektar auf den Bauernhof kaum genügen
zur Nahrung und Zahlung von Steuern und Ablösung, um so weniger als
diese Ablösung sehr hoch angesetzt war. Dem privaten Grundherrn stand
außerdem das Recht zu, die Ablösung der Dorfflur zu vermeiden, indem er ein
Viertel der Flur der Gemeinde unentgeltlich abtrat. Dann kam auf jeden Hof
^/z bis Hektar. Es kam nun das Recht der Nenteilung hinzu, das jedem
fleißigem Bauer in Aussicht stellte, daß, sobald er seiue Äcker verbesserte,
andre davon den Nutzen haben würden, indem sie die Verteilung durchsetzten
und ihn des verbesserten Ackers beraubten. Das schienen dann allerdings Zu¬
stände zu sein, die gesetzlich festzuhalten nicht möglich wäre. Dennoch hat sich
die Regierung jederzeit redlich bemüht, den natürlichen Drang zum Sprengen
der Fesseln zurück zu zwingen zu der idealen Gleichheit der Bettelhaftigkeit.

Aber schon bald nach der Bauernbefreiung begann die Klage, daß aller
Zwang nicht ausreiche, zu verhindern, daß jeder Bauer in seiner Weise dazu
beitrage, an der Gleichheit des Besitzes zu rütteln. Der eine war faul, dumm,
ein Säufer, und der andre klug, geizig und etwas weniger Säufer, was zur
Folge hatte, daß er jenen um seine letzte Habe auswucherte und ihn dann
zum schlecht bezahlten Arbeiter auf seinem dem Stärkern nun verpfändeten
Acker machte. Diese Dorfwucherer, die man „Fäuste" nennt, mehrten sich in
erstaunlichem Maße, und alle gegen sie ergriffnen Maßregeln fruchteten nichts.
Die Stärkern begannen auch ihre Äcker besser zu Pflegen im Vertrauen darauf,
daß ihr Einfluß eine Verteilung verhindern werde, die ihnen nachteilig wäre.
Es hat sich herausgestellt, daß die Anleitungen seit der Aufhebung der Leib¬
eigenschaft seltner wurden, und ihre Fristen um so länger, je besser der Boden
bestellt wurde. Die bessere Ackerpflege, besonders das Düngen, hat auch der
Neuverlosung der Gewanne gewehrt, die mit der Vermehrung der Gemeinde¬
glieder Schritt halten soll; aber das ist doch nur in beschränktem Maße ge¬
schehen, denn wir erfahren, daß im allgemeinen die Gewanne immer kleiner
wurden, weil die Bevölkerung, die zu einem Anteil an der Dorfflur berech¬
tigten Personen, sich mehrten, die Dorfflur aber gleich groß blieb, und daß
so Zwergwirtschasten entstanden, die zum Proletariat führten. „Wenn die
Landanteile, sagt ein russischer Statistiker, die von den einzelnen Wirten genutzt
werden, sich derart verringern, daß eine weitere Verkürzung die Existenz des
neuen Wirts nicht sichert und die des alten ruiniert, dann hören die allge¬
meinen Anleitungen auf, und die Feldgemeinschaft stirbt ab." Das mag für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/415>, abgerufen am 20.10.2024.