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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

oder Kopfsteuer belastete, dann zur Erleichterung und Sicherung des Fiskus
die Haftpflicht der Bauerngemeinde für ihre Zahlung einführte, endlich den
bäuerlichen Privatbesitz am Boden vernichtete zu Gunsten einer Flurgemeinschaft,
an der jeder erwachsene Bauer gleichen Anteil hatte und also gleiche Möglichkeit,
seine Steuer aufzubringen. Diese gewaltsame Abschaffung des bäuerlichen
privaten Grundbesitzes ist mit rücksichtsloser Energie besonders unter der großen
Katharina gehandhabt und bis in die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts
fortgesetzt worden; sie ist die ganz eigne Frucht dieses russischen Baumes
büreaukratischer Erkenntnis. Ich brauche das Wesen dieser Feldgemeinschaft
hier wohl nicht näher auseinanderzusetzen, über die auch bei uns schon so
viel geschrieben worden ist. Hier in dem Buche des Herrn Simkhowitsch finde
ich zum erstenmal eine klare Zeichnung des Wegs, den dieses Institut gegangen
ist; es ist der Weg zu einer Verknechtung, die mit der Hörigkeit zusammen
wirkte und in die völlige Erstarrung des bäuerlichen Agrarwesens ausmündete,
in der es noch heute ist. Und überraschend ist es, zu hören, daß diese Feld¬
gemeinschaft, die die Flur in so viele gleiche Stücke teilt, als die Gemeinde er¬
wachsene Männer hat, die jedem frisch heranwachsenden Jüngling das Recht giebt,
einen Feldanteil zu fordern und damit eine Neuteilung der Gewanne zu ver¬
anlassen, die niemand seinen Acker auf mehr als ein oder ein paar Jahre
sichert (seit 1893 auf zwölf Jahre), die dadurch jede Bodenverbesferung fast
unmöglich macht daß dieses unsinnige Institut auf den ungeheuern Domänen
des Staats bis in die neuere Zeit von Staats wegen und gewaltsam aus¬
gebreitet wurde. So behauptete der Nationalökonom Solowjew in einer Zeit¬
schrift im Jahre 1858, daß in gewissen Gebieten der Staatsdomänen zwischen
1839 und 1850 Bauerländereien mit mehr als 533000 männlichen Seelen
zur Feldgemeinschaft übergegangen seien. Und die Methode ist die, daß der
Staat die Proletarier des Dorfes aufreizt, bis eine Majorität der Gemeinde
gewonnen ist, die den Übergang von privatem Eigen oder von festem stän¬
digen Anteil an der Dorfflur zu dem Seelenlande, zu den Anleitungen, zur
Feldgemeinschaft beschließt. "Die reichen Bauern, die ihr ererbtes Besitztum
nicht aufgeben und sich deshalb der Majorität nicht fügen wollten, wurden
als Aufwiegler und Revolutionäre bestraft." Immer unterstützte die Negie¬
rung den landlosen oder landarmen Bauer gegen den Reichen, indem sie ihm
half, die Feldgemeinschaft durchzusetzen.

Da sehen wir also eine despotische Negierung, die sich des demokratischen
Gleichheitsprinzips in so gewaltsamer Weise bedient, wie es unsre eifrigsten
Sozialdemokraten nur wünschen können, um das private Grundeigentum ab¬
zuschaffen und jedem Staatsbürger seinen Anteil am Grundbesitz zu verschaffen.
Was aber ist die Wirkung?

Mit der persönlichen Freiheit erhielt der russische Bauer durch das Gesetz
von 1861 unentgeltlich seinen elenden Hof zu eigen; in der Dorfflur konnte


Herr Witte als Reformer Rußlands

oder Kopfsteuer belastete, dann zur Erleichterung und Sicherung des Fiskus
die Haftpflicht der Bauerngemeinde für ihre Zahlung einführte, endlich den
bäuerlichen Privatbesitz am Boden vernichtete zu Gunsten einer Flurgemeinschaft,
an der jeder erwachsene Bauer gleichen Anteil hatte und also gleiche Möglichkeit,
seine Steuer aufzubringen. Diese gewaltsame Abschaffung des bäuerlichen
privaten Grundbesitzes ist mit rücksichtsloser Energie besonders unter der großen
Katharina gehandhabt und bis in die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts
fortgesetzt worden; sie ist die ganz eigne Frucht dieses russischen Baumes
büreaukratischer Erkenntnis. Ich brauche das Wesen dieser Feldgemeinschaft
hier wohl nicht näher auseinanderzusetzen, über die auch bei uns schon so
viel geschrieben worden ist. Hier in dem Buche des Herrn Simkhowitsch finde
ich zum erstenmal eine klare Zeichnung des Wegs, den dieses Institut gegangen
ist; es ist der Weg zu einer Verknechtung, die mit der Hörigkeit zusammen
wirkte und in die völlige Erstarrung des bäuerlichen Agrarwesens ausmündete,
in der es noch heute ist. Und überraschend ist es, zu hören, daß diese Feld¬
gemeinschaft, die die Flur in so viele gleiche Stücke teilt, als die Gemeinde er¬
wachsene Männer hat, die jedem frisch heranwachsenden Jüngling das Recht giebt,
einen Feldanteil zu fordern und damit eine Neuteilung der Gewanne zu ver¬
anlassen, die niemand seinen Acker auf mehr als ein oder ein paar Jahre
sichert (seit 1893 auf zwölf Jahre), die dadurch jede Bodenverbesferung fast
unmöglich macht daß dieses unsinnige Institut auf den ungeheuern Domänen
des Staats bis in die neuere Zeit von Staats wegen und gewaltsam aus¬
gebreitet wurde. So behauptete der Nationalökonom Solowjew in einer Zeit¬
schrift im Jahre 1858, daß in gewissen Gebieten der Staatsdomänen zwischen
1839 und 1850 Bauerländereien mit mehr als 533000 männlichen Seelen
zur Feldgemeinschaft übergegangen seien. Und die Methode ist die, daß der
Staat die Proletarier des Dorfes aufreizt, bis eine Majorität der Gemeinde
gewonnen ist, die den Übergang von privatem Eigen oder von festem stän¬
digen Anteil an der Dorfflur zu dem Seelenlande, zu den Anleitungen, zur
Feldgemeinschaft beschließt. „Die reichen Bauern, die ihr ererbtes Besitztum
nicht aufgeben und sich deshalb der Majorität nicht fügen wollten, wurden
als Aufwiegler und Revolutionäre bestraft." Immer unterstützte die Negie¬
rung den landlosen oder landarmen Bauer gegen den Reichen, indem sie ihm
half, die Feldgemeinschaft durchzusetzen.

Da sehen wir also eine despotische Negierung, die sich des demokratischen
Gleichheitsprinzips in so gewaltsamer Weise bedient, wie es unsre eifrigsten
Sozialdemokraten nur wünschen können, um das private Grundeigentum ab¬
zuschaffen und jedem Staatsbürger seinen Anteil am Grundbesitz zu verschaffen.
Was aber ist die Wirkung?

Mit der persönlichen Freiheit erhielt der russische Bauer durch das Gesetz
von 1861 unentgeltlich seinen elenden Hof zu eigen; in der Dorfflur konnte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/414>, abgerufen am 28.09.2024.