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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

und dessen Haupte das Recht zu regieren von niemand bestritten wurde. Die
Manen der Verstorbnen, die im Hause wohnen blieben, und deren vornehmste
als Laren, als Hausgötter, verehrt wurden, ließen die Familie als ein unver¬
gängliches Wesen erscheinen, und die von Polybius (6, 53 und 54) beschriebne
Bestattungsfeier, bei der die Ahnenbilder in prunkvollen Zuge auss Forum
getragen und vom Leichenreduer außer den Tugenden und Thaten des eben
Verstorbnen auch die der hervorragenden Ahnen noch einmal gepriesen wurden,
diese Totenfeier ließ jedem Sohne des Verstorbnen das Bild seines eignen zu¬
künftigen Ruhmes erscheinen, flößte ihm die Zuversicht ein, daß sein Geschlecht
ewig sein werde wie die ewige Stadt, und erfüllte ihn mit dem Bewußtsein
der Verantwortung und der Pflichten, die ihm damit zufielen. Jeder wußte
es: das Heiligtum des Hauses sei die Pflanzstätte für den Staat, wie es auch
nur unter dem Schutze des Staats bestehn und gedeihn könne. Fürs Vater¬
land zu arbeiten, zu kämpfen, wenn nötig ruhmvoll zu sterben, dafür erzogen
die Eltern ihre Söhne; aber dieses Vaterland war solcher Opfer anch würdig,
denn in seinem Schutze stand das Haus sicher, und ihm verdankte das Familien¬
leben seinen großen und schönen Inhalt. So wurzelte der wunderbare gesetz¬
liche Sinn, der alle römischen Bürger erfüllte und sie auch in Zeiten der er¬
bittertsten Parteikämpfe von Ungesetzlichkeit und Gewaltthat zurückhielt, im
Schoß der Familie und in der geheiligten Ordnung des Hauses. Es hat nicht
an Gelüsten gefehlt, diese feste Ordnung des Hauses und des Staats zu durch¬
brechen. Ähnlich wie die Kavaliere der Stuarts in der Zeit, wo die Puritaner
in England die bürgerliche Sitte zur Herrschaft bringen wollten, geklagt haben
mögen, so klagten nach Livius 2, 3 die jungen Herren, die mit der Familie
der Vertriebnen Tarquinier befreundet waren: die allgemeine Freiheit habe ihnen
nnr Knechtschaft gebracht. Der König sei ein Mensch; von dem könne man
erlangen, was man wünsche, möge es recht oder unrecht sein; bei ihm finde
die Gnade, finde das Wohlwollen eine Stätte, er könne zürnen, aber auch ver¬
zeihen; er wisse zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden; die Gesetze
dagegen seien ein taubes, unerbittliches Wesen und nützten dem Armen mehr
als dem Reichen; bei denen gäbe es nicht Gnade noch Verzeihung, wenn einer
das Maß überschritten habe; sich als schwacher Mensch bloß auf seiue Unschuld
verlassen zu sollen, das sei doch gar zu gefährlich. Solche Sehnsucht Einzelner
nach der Freiheit des Tyrannen, dem in der italienischen Renaissance verwirk¬
lichten Ideal der Nietzschianer, blieb ungestillt, bis die ungeheure Ausdehnung
des Reichs von selbst den Tyrannenseelen die Tyrannei bescherte.

Es ist richtig, daß, wie Döllinger sagt, der Römer den Göttern nicht
"seinen Seelenzustand vortrug." Als ein kerngesunder Mensch wußte er nicht
viel von Seelenzuständen. Auch heutzutage beschäftigen sich die Leute, die
ernsthaft arbeiten müssen, nur wenig mit ihren Seelenzuständen; sie überlassen
das den Mönchen und Nonnen, den Seelenhypochondern, den lyrischen Dichtern


Der Römerstaat

und dessen Haupte das Recht zu regieren von niemand bestritten wurde. Die
Manen der Verstorbnen, die im Hause wohnen blieben, und deren vornehmste
als Laren, als Hausgötter, verehrt wurden, ließen die Familie als ein unver¬
gängliches Wesen erscheinen, und die von Polybius (6, 53 und 54) beschriebne
Bestattungsfeier, bei der die Ahnenbilder in prunkvollen Zuge auss Forum
getragen und vom Leichenreduer außer den Tugenden und Thaten des eben
Verstorbnen auch die der hervorragenden Ahnen noch einmal gepriesen wurden,
diese Totenfeier ließ jedem Sohne des Verstorbnen das Bild seines eignen zu¬
künftigen Ruhmes erscheinen, flößte ihm die Zuversicht ein, daß sein Geschlecht
ewig sein werde wie die ewige Stadt, und erfüllte ihn mit dem Bewußtsein
der Verantwortung und der Pflichten, die ihm damit zufielen. Jeder wußte
es: das Heiligtum des Hauses sei die Pflanzstätte für den Staat, wie es auch
nur unter dem Schutze des Staats bestehn und gedeihn könne. Fürs Vater¬
land zu arbeiten, zu kämpfen, wenn nötig ruhmvoll zu sterben, dafür erzogen
die Eltern ihre Söhne; aber dieses Vaterland war solcher Opfer anch würdig,
denn in seinem Schutze stand das Haus sicher, und ihm verdankte das Familien¬
leben seinen großen und schönen Inhalt. So wurzelte der wunderbare gesetz¬
liche Sinn, der alle römischen Bürger erfüllte und sie auch in Zeiten der er¬
bittertsten Parteikämpfe von Ungesetzlichkeit und Gewaltthat zurückhielt, im
Schoß der Familie und in der geheiligten Ordnung des Hauses. Es hat nicht
an Gelüsten gefehlt, diese feste Ordnung des Hauses und des Staats zu durch¬
brechen. Ähnlich wie die Kavaliere der Stuarts in der Zeit, wo die Puritaner
in England die bürgerliche Sitte zur Herrschaft bringen wollten, geklagt haben
mögen, so klagten nach Livius 2, 3 die jungen Herren, die mit der Familie
der Vertriebnen Tarquinier befreundet waren: die allgemeine Freiheit habe ihnen
nnr Knechtschaft gebracht. Der König sei ein Mensch; von dem könne man
erlangen, was man wünsche, möge es recht oder unrecht sein; bei ihm finde
die Gnade, finde das Wohlwollen eine Stätte, er könne zürnen, aber auch ver¬
zeihen; er wisse zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden; die Gesetze
dagegen seien ein taubes, unerbittliches Wesen und nützten dem Armen mehr
als dem Reichen; bei denen gäbe es nicht Gnade noch Verzeihung, wenn einer
das Maß überschritten habe; sich als schwacher Mensch bloß auf seiue Unschuld
verlassen zu sollen, das sei doch gar zu gefährlich. Solche Sehnsucht Einzelner
nach der Freiheit des Tyrannen, dem in der italienischen Renaissance verwirk¬
lichten Ideal der Nietzschianer, blieb ungestillt, bis die ungeheure Ausdehnung
des Reichs von selbst den Tyrannenseelen die Tyrannei bescherte.

Es ist richtig, daß, wie Döllinger sagt, der Römer den Göttern nicht
„seinen Seelenzustand vortrug." Als ein kerngesunder Mensch wußte er nicht
viel von Seelenzuständen. Auch heutzutage beschäftigen sich die Leute, die
ernsthaft arbeiten müssen, nur wenig mit ihren Seelenzuständen; sie überlassen
das den Mönchen und Nonnen, den Seelenhypochondern, den lyrischen Dichtern


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[0366] Der Römerstaat und dessen Haupte das Recht zu regieren von niemand bestritten wurde. Die Manen der Verstorbnen, die im Hause wohnen blieben, und deren vornehmste als Laren, als Hausgötter, verehrt wurden, ließen die Familie als ein unver¬ gängliches Wesen erscheinen, und die von Polybius (6, 53 und 54) beschriebne Bestattungsfeier, bei der die Ahnenbilder in prunkvollen Zuge auss Forum getragen und vom Leichenreduer außer den Tugenden und Thaten des eben Verstorbnen auch die der hervorragenden Ahnen noch einmal gepriesen wurden, diese Totenfeier ließ jedem Sohne des Verstorbnen das Bild seines eignen zu¬ künftigen Ruhmes erscheinen, flößte ihm die Zuversicht ein, daß sein Geschlecht ewig sein werde wie die ewige Stadt, und erfüllte ihn mit dem Bewußtsein der Verantwortung und der Pflichten, die ihm damit zufielen. Jeder wußte es: das Heiligtum des Hauses sei die Pflanzstätte für den Staat, wie es auch nur unter dem Schutze des Staats bestehn und gedeihn könne. Fürs Vater¬ land zu arbeiten, zu kämpfen, wenn nötig ruhmvoll zu sterben, dafür erzogen die Eltern ihre Söhne; aber dieses Vaterland war solcher Opfer anch würdig, denn in seinem Schutze stand das Haus sicher, und ihm verdankte das Familien¬ leben seinen großen und schönen Inhalt. So wurzelte der wunderbare gesetz¬ liche Sinn, der alle römischen Bürger erfüllte und sie auch in Zeiten der er¬ bittertsten Parteikämpfe von Ungesetzlichkeit und Gewaltthat zurückhielt, im Schoß der Familie und in der geheiligten Ordnung des Hauses. Es hat nicht an Gelüsten gefehlt, diese feste Ordnung des Hauses und des Staats zu durch¬ brechen. Ähnlich wie die Kavaliere der Stuarts in der Zeit, wo die Puritaner in England die bürgerliche Sitte zur Herrschaft bringen wollten, geklagt haben mögen, so klagten nach Livius 2, 3 die jungen Herren, die mit der Familie der Vertriebnen Tarquinier befreundet waren: die allgemeine Freiheit habe ihnen nnr Knechtschaft gebracht. Der König sei ein Mensch; von dem könne man erlangen, was man wünsche, möge es recht oder unrecht sein; bei ihm finde die Gnade, finde das Wohlwollen eine Stätte, er könne zürnen, aber auch ver¬ zeihen; er wisse zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden; die Gesetze dagegen seien ein taubes, unerbittliches Wesen und nützten dem Armen mehr als dem Reichen; bei denen gäbe es nicht Gnade noch Verzeihung, wenn einer das Maß überschritten habe; sich als schwacher Mensch bloß auf seiue Unschuld verlassen zu sollen, das sei doch gar zu gefährlich. Solche Sehnsucht Einzelner nach der Freiheit des Tyrannen, dem in der italienischen Renaissance verwirk¬ lichten Ideal der Nietzschianer, blieb ungestillt, bis die ungeheure Ausdehnung des Reichs von selbst den Tyrannenseelen die Tyrannei bescherte. Es ist richtig, daß, wie Döllinger sagt, der Römer den Göttern nicht „seinen Seelenzustand vortrug." Als ein kerngesunder Mensch wußte er nicht viel von Seelenzuständen. Auch heutzutage beschäftigen sich die Leute, die ernsthaft arbeiten müssen, nur wenig mit ihren Seelenzuständen; sie überlassen das den Mönchen und Nonnen, den Seelenhypochondern, den lyrischen Dichtern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/366>, abgerufen am 28.09.2024.