Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reformfähigkeit der Türkei

viele orientalische Züge in seinem Staatswesen aufweist, hat Peter der Große
eine ähnliche Anordnung getroffen, und noch die Abänderung der Thrvnfolge-
ordnung durch Alexander I. zeigt die Spuren dieses Brauchs.

Wir würden diese Reform für sehr wichtig halten, und wir halte" sie für
möglich, weil sie dem Sultan nicht eine Einschränkung seiner Machtvollkommen¬
heit von Haus aus zumutet, sondern vielmehr diese noch steigert und zwar im
richtig verstandnen Staatsinteresse. Die Eifersucht auf den Thronfolger und
die Furcht vor ihm würden dadurch wesentlich gemäßigt werden; eine ver¬
nünftige Erziehung und Bildung der Prinzen auch über die Jahre der Mann¬
barkeit hinaus würde dadurch erst ihr Ziel und ihren Halt finden. Damit
wäre immerhin viel gewonnen; bekanntlich bleiben die besten Entwürfe und
Verordnungen nur "schätzbares Material," bis sich der rechte Mann zu ihrer
Durchführung findet.

Der konservative und dilatorische Charakter, den die russische Orientpolitik
infolge der drängendern ostasiatischen Fragen zur Zeit trägt, sowie die Freund¬
schaft und die wohlwollende Unterstützung Deutschlands gewähren der Türkei
das, was sie zu ihren Reformen am meisten bedarf: Zeit. Aber die herr¬
schenden und maßgebenden Kreise müssen die gewährte Zeit benutzen und nicht
verlieren. An ihnen ist es, zu wollen und zu handeln, sonst bricht über die
Regierung und das Volk das selbstverschuldete Schicksal unabwendbar herein.
Ihr Geschick ist nicht zu trennen, und bei weiteren halsstarrigen Widerstreben
spricht Europa denn doch endlich das ofte-rum vknsso.

Was der englische Herzog von der bisherigen türkischen Regierung sagt,
ist nur zu wahr: die größte aller revolutionären Gefahren ist die Schlechtig¬
keit und Verderbtheit der Regierung, alle ihre Versprechungen sind Wind,
Vorstellungen, die ihr gemacht werden, völlig unnütz; ohne wirksamen Zwang
wird niemals an eine ernste Reform gedacht werden. Die Türkei ist that¬
sächlich kein selbständiger unabhängiger Staat in dem Sinne, wie es die euro¬
päischen Staaten sind , sie ist durch Staatsverträge in Bezug auf ihre innere
Politik gebunden und der Kontrolle unterworfen. Seit 1856 ist das russische
Protektorat durch ein europäisches ersetzt, die Uneinigkeit der Protektoren allein
sichert diesem "Reich des Übels auf Erden" sein Dasein. Die Mächte, die für
die Erhaltung der türkischen Herrschaft eingetreten sind und noch eintreten,
sind aber auch verantwortlich, daß diese Herrschaft für die unterworfnen Be¬
völkerungen erträglich ist. Den massenhaften Niedermetzelungen der Christen
und den dabei verübten Abscheulichkeiten, wie sie die letzten Jahre wieder in
Kleinasien gesehen haben, muß unter allen Umständen ein Ende gemacht werden.
Es ist klar, daß nur die ehrliche Erfüllung der vertragsmäßig übernommnen
Verpflichtungen, mit andern Worten die Aneignung zivilisatorischer Grundsätze,
die auf allgemeine Wohlfahrt, Erziehung und Entwicklung hinzielen, die tür¬
kische Regierung aus der drückenden Lage, der Aufsicht des Auslandes zu


Die Reformfähigkeit der Türkei

viele orientalische Züge in seinem Staatswesen aufweist, hat Peter der Große
eine ähnliche Anordnung getroffen, und noch die Abänderung der Thrvnfolge-
ordnung durch Alexander I. zeigt die Spuren dieses Brauchs.

Wir würden diese Reform für sehr wichtig halten, und wir halte» sie für
möglich, weil sie dem Sultan nicht eine Einschränkung seiner Machtvollkommen¬
heit von Haus aus zumutet, sondern vielmehr diese noch steigert und zwar im
richtig verstandnen Staatsinteresse. Die Eifersucht auf den Thronfolger und
die Furcht vor ihm würden dadurch wesentlich gemäßigt werden; eine ver¬
nünftige Erziehung und Bildung der Prinzen auch über die Jahre der Mann¬
barkeit hinaus würde dadurch erst ihr Ziel und ihren Halt finden. Damit
wäre immerhin viel gewonnen; bekanntlich bleiben die besten Entwürfe und
Verordnungen nur „schätzbares Material," bis sich der rechte Mann zu ihrer
Durchführung findet.

Der konservative und dilatorische Charakter, den die russische Orientpolitik
infolge der drängendern ostasiatischen Fragen zur Zeit trägt, sowie die Freund¬
schaft und die wohlwollende Unterstützung Deutschlands gewähren der Türkei
das, was sie zu ihren Reformen am meisten bedarf: Zeit. Aber die herr¬
schenden und maßgebenden Kreise müssen die gewährte Zeit benutzen und nicht
verlieren. An ihnen ist es, zu wollen und zu handeln, sonst bricht über die
Regierung und das Volk das selbstverschuldete Schicksal unabwendbar herein.
Ihr Geschick ist nicht zu trennen, und bei weiteren halsstarrigen Widerstreben
spricht Europa denn doch endlich das ofte-rum vknsso.

Was der englische Herzog von der bisherigen türkischen Regierung sagt,
ist nur zu wahr: die größte aller revolutionären Gefahren ist die Schlechtig¬
keit und Verderbtheit der Regierung, alle ihre Versprechungen sind Wind,
Vorstellungen, die ihr gemacht werden, völlig unnütz; ohne wirksamen Zwang
wird niemals an eine ernste Reform gedacht werden. Die Türkei ist that¬
sächlich kein selbständiger unabhängiger Staat in dem Sinne, wie es die euro¬
päischen Staaten sind , sie ist durch Staatsverträge in Bezug auf ihre innere
Politik gebunden und der Kontrolle unterworfen. Seit 1856 ist das russische
Protektorat durch ein europäisches ersetzt, die Uneinigkeit der Protektoren allein
sichert diesem „Reich des Übels auf Erden" sein Dasein. Die Mächte, die für
die Erhaltung der türkischen Herrschaft eingetreten sind und noch eintreten,
sind aber auch verantwortlich, daß diese Herrschaft für die unterworfnen Be¬
völkerungen erträglich ist. Den massenhaften Niedermetzelungen der Christen
und den dabei verübten Abscheulichkeiten, wie sie die letzten Jahre wieder in
Kleinasien gesehen haben, muß unter allen Umständen ein Ende gemacht werden.
Es ist klar, daß nur die ehrliche Erfüllung der vertragsmäßig übernommnen
Verpflichtungen, mit andern Worten die Aneignung zivilisatorischer Grundsätze,
die auf allgemeine Wohlfahrt, Erziehung und Entwicklung hinzielen, die tür¬
kische Regierung aus der drückenden Lage, der Aufsicht des Auslandes zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0238" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230670"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reformfähigkeit der Türkei</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_757" prev="#ID_756"> viele orientalische Züge in seinem Staatswesen aufweist, hat Peter der Große<lb/>
eine ähnliche Anordnung getroffen, und noch die Abänderung der Thrvnfolge-<lb/>
ordnung durch Alexander I. zeigt die Spuren dieses Brauchs.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_758"> Wir würden diese Reform für sehr wichtig halten, und wir halte» sie für<lb/>
möglich, weil sie dem Sultan nicht eine Einschränkung seiner Machtvollkommen¬<lb/>
heit von Haus aus zumutet, sondern vielmehr diese noch steigert und zwar im<lb/>
richtig verstandnen Staatsinteresse. Die Eifersucht auf den Thronfolger und<lb/>
die Furcht vor ihm würden dadurch wesentlich gemäßigt werden; eine ver¬<lb/>
nünftige Erziehung und Bildung der Prinzen auch über die Jahre der Mann¬<lb/>
barkeit hinaus würde dadurch erst ihr Ziel und ihren Halt finden. Damit<lb/>
wäre immerhin viel gewonnen; bekanntlich bleiben die besten Entwürfe und<lb/>
Verordnungen nur &#x201E;schätzbares Material," bis sich der rechte Mann zu ihrer<lb/>
Durchführung findet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_759"> Der konservative und dilatorische Charakter, den die russische Orientpolitik<lb/>
infolge der drängendern ostasiatischen Fragen zur Zeit trägt, sowie die Freund¬<lb/>
schaft und die wohlwollende Unterstützung Deutschlands gewähren der Türkei<lb/>
das, was sie zu ihren Reformen am meisten bedarf: Zeit. Aber die herr¬<lb/>
schenden und maßgebenden Kreise müssen die gewährte Zeit benutzen und nicht<lb/>
verlieren. An ihnen ist es, zu wollen und zu handeln, sonst bricht über die<lb/>
Regierung und das Volk das selbstverschuldete Schicksal unabwendbar herein.<lb/>
Ihr Geschick ist nicht zu trennen, und bei weiteren halsstarrigen Widerstreben<lb/>
spricht Europa denn doch endlich das ofte-rum vknsso.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_760" next="#ID_761"> Was der englische Herzog von der bisherigen türkischen Regierung sagt,<lb/>
ist nur zu wahr: die größte aller revolutionären Gefahren ist die Schlechtig¬<lb/>
keit und Verderbtheit der Regierung, alle ihre Versprechungen sind Wind,<lb/>
Vorstellungen, die ihr gemacht werden, völlig unnütz; ohne wirksamen Zwang<lb/>
wird niemals an eine ernste Reform gedacht werden. Die Türkei ist that¬<lb/>
sächlich kein selbständiger unabhängiger Staat in dem Sinne, wie es die euro¬<lb/>
päischen Staaten sind , sie ist durch Staatsverträge in Bezug auf ihre innere<lb/>
Politik gebunden und der Kontrolle unterworfen. Seit 1856 ist das russische<lb/>
Protektorat durch ein europäisches ersetzt, die Uneinigkeit der Protektoren allein<lb/>
sichert diesem &#x201E;Reich des Übels auf Erden" sein Dasein. Die Mächte, die für<lb/>
die Erhaltung der türkischen Herrschaft eingetreten sind und noch eintreten,<lb/>
sind aber auch verantwortlich, daß diese Herrschaft für die unterworfnen Be¬<lb/>
völkerungen erträglich ist. Den massenhaften Niedermetzelungen der Christen<lb/>
und den dabei verübten Abscheulichkeiten, wie sie die letzten Jahre wieder in<lb/>
Kleinasien gesehen haben, muß unter allen Umständen ein Ende gemacht werden.<lb/>
Es ist klar, daß nur die ehrliche Erfüllung der vertragsmäßig übernommnen<lb/>
Verpflichtungen, mit andern Worten die Aneignung zivilisatorischer Grundsätze,<lb/>
die auf allgemeine Wohlfahrt, Erziehung und Entwicklung hinzielen, die tür¬<lb/>
kische Regierung aus der drückenden Lage, der Aufsicht des Auslandes zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0238] Die Reformfähigkeit der Türkei viele orientalische Züge in seinem Staatswesen aufweist, hat Peter der Große eine ähnliche Anordnung getroffen, und noch die Abänderung der Thrvnfolge- ordnung durch Alexander I. zeigt die Spuren dieses Brauchs. Wir würden diese Reform für sehr wichtig halten, und wir halte» sie für möglich, weil sie dem Sultan nicht eine Einschränkung seiner Machtvollkommen¬ heit von Haus aus zumutet, sondern vielmehr diese noch steigert und zwar im richtig verstandnen Staatsinteresse. Die Eifersucht auf den Thronfolger und die Furcht vor ihm würden dadurch wesentlich gemäßigt werden; eine ver¬ nünftige Erziehung und Bildung der Prinzen auch über die Jahre der Mann¬ barkeit hinaus würde dadurch erst ihr Ziel und ihren Halt finden. Damit wäre immerhin viel gewonnen; bekanntlich bleiben die besten Entwürfe und Verordnungen nur „schätzbares Material," bis sich der rechte Mann zu ihrer Durchführung findet. Der konservative und dilatorische Charakter, den die russische Orientpolitik infolge der drängendern ostasiatischen Fragen zur Zeit trägt, sowie die Freund¬ schaft und die wohlwollende Unterstützung Deutschlands gewähren der Türkei das, was sie zu ihren Reformen am meisten bedarf: Zeit. Aber die herr¬ schenden und maßgebenden Kreise müssen die gewährte Zeit benutzen und nicht verlieren. An ihnen ist es, zu wollen und zu handeln, sonst bricht über die Regierung und das Volk das selbstverschuldete Schicksal unabwendbar herein. Ihr Geschick ist nicht zu trennen, und bei weiteren halsstarrigen Widerstreben spricht Europa denn doch endlich das ofte-rum vknsso. Was der englische Herzog von der bisherigen türkischen Regierung sagt, ist nur zu wahr: die größte aller revolutionären Gefahren ist die Schlechtig¬ keit und Verderbtheit der Regierung, alle ihre Versprechungen sind Wind, Vorstellungen, die ihr gemacht werden, völlig unnütz; ohne wirksamen Zwang wird niemals an eine ernste Reform gedacht werden. Die Türkei ist that¬ sächlich kein selbständiger unabhängiger Staat in dem Sinne, wie es die euro¬ päischen Staaten sind , sie ist durch Staatsverträge in Bezug auf ihre innere Politik gebunden und der Kontrolle unterworfen. Seit 1856 ist das russische Protektorat durch ein europäisches ersetzt, die Uneinigkeit der Protektoren allein sichert diesem „Reich des Übels auf Erden" sein Dasein. Die Mächte, die für die Erhaltung der türkischen Herrschaft eingetreten sind und noch eintreten, sind aber auch verantwortlich, daß diese Herrschaft für die unterworfnen Be¬ völkerungen erträglich ist. Den massenhaften Niedermetzelungen der Christen und den dabei verübten Abscheulichkeiten, wie sie die letzten Jahre wieder in Kleinasien gesehen haben, muß unter allen Umständen ein Ende gemacht werden. Es ist klar, daß nur die ehrliche Erfüllung der vertragsmäßig übernommnen Verpflichtungen, mit andern Worten die Aneignung zivilisatorischer Grundsätze, die auf allgemeine Wohlfahrt, Erziehung und Entwicklung hinzielen, die tür¬ kische Regierung aus der drückenden Lage, der Aufsicht des Auslandes zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/238
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/238>, abgerufen am 28.09.2024.