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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Reformfähigkeit der Türkei

stoßen die Interessen der Großmächte nicht so schroff aufeinander, daß sie auf
die Gefahr eines Krieges jedes Abkommen von der Hand Meisen müßten. Es
ist das der Zustand, den die Diplomatie anerkannt, und dem sie als Grund¬
satz die Formel der "Verständigung von Fall zu Fall" gegeben hat. Deutsch¬
lands Stellung im Rücken der beiden meistbeteiligten Kaisermächte erlaubt ihm,
in Ruhe deren Entschließungen abzuwarten, und bürgt dabei dafür, daß bei
diesen Entschließungen seine Interessen nicht verletzt werden. Am erwünschtesten
würde zweifellos für Deutschland eine wirkliche Reform des osmanischen
Staates fein; in dieser Frage laufen seine Interessen mit denen der türkischen
Reformfreunde parallel.

Zwei Punkte sind es, bei denen unsrer Ansicht nach jede ernste Reform
des osmanischen Staatswesens einzusetzen hat, und die glücklicherweise unter den
thatsächlichen Verhältnissen anch erreichbar sind. Der eine Punkt ist die schon
wiederholt angeregte Ausdehnung der Wehrpflicht auch auf die nicht muham-
medanischen Unterthanen der Pforte, gegen die sich die Regierung bisher hart¬
näckig gesträubt hat, der andre ist die Abänderung der Thronfolgeordnung, da
sich die Form des Seniorats als den Interessen des Staats und Volks ver¬
derblich erwiesen hat. Bei der Erbfolge in Linie vom Vater auf den Sohn
ist das Interesse des Herrschers und damit der Dynastie weit enger mit dem
des Volks und Staats verknüpft. Es ist ja verständlich, daß in einem zumal
auf Eroberung ausgehenden kriegerischen Staatswesen das Staatsinteresse immer
einen gereiften Mann an der Spitze verlangt, aber die Gründe für diese Ein¬
richtung besteh" nicht mehr. Der allmächtige Sultan kann sich ganz wohl
auch die Macht beilegen, die übliche Thronfolge zu ändern und seinen Nach¬
folger selbst zu bestimmen. Bei dem Vorhandensein eines geeigneten Sohnes
würde natürlich die Bestimmung auf diesen fallen und sich damit ein ge¬
regeltes Erbrecht ausbilden, wie das in den abendländischen Staaten der Fall
gewesen ist. Wir erinnern besonders an die ältern deutschen Zustünde vor
Heinrich IV. und an die ans solchen Verhältnissen beruhende Exposition des
Macbeth.

Auch die ältere türkische Verfassung ist in diesem Punkte den gleichzeitigen
abendländischen ganz ähnlich, das Seniorat ist erst eine spätere Einrichtung.
Der Mangel eines festen Thronfolgegesetzes hatte seiner Zeit der Macht des
Abbassidenhauses den schwersten Abbruch gethan. Die Türkensultane nahmen
daher darauf Bedacht, diesem Übel vorzubeugen. Es wurde die Norm auf¬
gestellt, daß nur der Mann zur Nachfolge im Sultanat befähigt sei, den der
herrschende Sultan für den würdigsten hält und darum zum Nachfolger und
Erben ernennt; zugleich lag dem herrschenden Sultan aber auch die Pflicht ob,
Sorge zu tragen, daß es nie an einem von ihm ernannten Sheriff oder Stell¬
vertreter fehle, damit nicht dnrch unerwartete Todesfälle oder dergleichen eine
Verwirrung und Unsicherheit im Staate entstehn könne. In Rußland, das so


Die Reformfähigkeit der Türkei

stoßen die Interessen der Großmächte nicht so schroff aufeinander, daß sie auf
die Gefahr eines Krieges jedes Abkommen von der Hand Meisen müßten. Es
ist das der Zustand, den die Diplomatie anerkannt, und dem sie als Grund¬
satz die Formel der „Verständigung von Fall zu Fall" gegeben hat. Deutsch¬
lands Stellung im Rücken der beiden meistbeteiligten Kaisermächte erlaubt ihm,
in Ruhe deren Entschließungen abzuwarten, und bürgt dabei dafür, daß bei
diesen Entschließungen seine Interessen nicht verletzt werden. Am erwünschtesten
würde zweifellos für Deutschland eine wirkliche Reform des osmanischen
Staates fein; in dieser Frage laufen seine Interessen mit denen der türkischen
Reformfreunde parallel.

Zwei Punkte sind es, bei denen unsrer Ansicht nach jede ernste Reform
des osmanischen Staatswesens einzusetzen hat, und die glücklicherweise unter den
thatsächlichen Verhältnissen anch erreichbar sind. Der eine Punkt ist die schon
wiederholt angeregte Ausdehnung der Wehrpflicht auch auf die nicht muham-
medanischen Unterthanen der Pforte, gegen die sich die Regierung bisher hart¬
näckig gesträubt hat, der andre ist die Abänderung der Thronfolgeordnung, da
sich die Form des Seniorats als den Interessen des Staats und Volks ver¬
derblich erwiesen hat. Bei der Erbfolge in Linie vom Vater auf den Sohn
ist das Interesse des Herrschers und damit der Dynastie weit enger mit dem
des Volks und Staats verknüpft. Es ist ja verständlich, daß in einem zumal
auf Eroberung ausgehenden kriegerischen Staatswesen das Staatsinteresse immer
einen gereiften Mann an der Spitze verlangt, aber die Gründe für diese Ein¬
richtung besteh» nicht mehr. Der allmächtige Sultan kann sich ganz wohl
auch die Macht beilegen, die übliche Thronfolge zu ändern und seinen Nach¬
folger selbst zu bestimmen. Bei dem Vorhandensein eines geeigneten Sohnes
würde natürlich die Bestimmung auf diesen fallen und sich damit ein ge¬
regeltes Erbrecht ausbilden, wie das in den abendländischen Staaten der Fall
gewesen ist. Wir erinnern besonders an die ältern deutschen Zustünde vor
Heinrich IV. und an die ans solchen Verhältnissen beruhende Exposition des
Macbeth.

Auch die ältere türkische Verfassung ist in diesem Punkte den gleichzeitigen
abendländischen ganz ähnlich, das Seniorat ist erst eine spätere Einrichtung.
Der Mangel eines festen Thronfolgegesetzes hatte seiner Zeit der Macht des
Abbassidenhauses den schwersten Abbruch gethan. Die Türkensultane nahmen
daher darauf Bedacht, diesem Übel vorzubeugen. Es wurde die Norm auf¬
gestellt, daß nur der Mann zur Nachfolge im Sultanat befähigt sei, den der
herrschende Sultan für den würdigsten hält und darum zum Nachfolger und
Erben ernennt; zugleich lag dem herrschenden Sultan aber auch die Pflicht ob,
Sorge zu tragen, daß es nie an einem von ihm ernannten Sheriff oder Stell¬
vertreter fehle, damit nicht dnrch unerwartete Todesfälle oder dergleichen eine
Verwirrung und Unsicherheit im Staate entstehn könne. In Rußland, das so


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[0237] Die Reformfähigkeit der Türkei stoßen die Interessen der Großmächte nicht so schroff aufeinander, daß sie auf die Gefahr eines Krieges jedes Abkommen von der Hand Meisen müßten. Es ist das der Zustand, den die Diplomatie anerkannt, und dem sie als Grund¬ satz die Formel der „Verständigung von Fall zu Fall" gegeben hat. Deutsch¬ lands Stellung im Rücken der beiden meistbeteiligten Kaisermächte erlaubt ihm, in Ruhe deren Entschließungen abzuwarten, und bürgt dabei dafür, daß bei diesen Entschließungen seine Interessen nicht verletzt werden. Am erwünschtesten würde zweifellos für Deutschland eine wirkliche Reform des osmanischen Staates fein; in dieser Frage laufen seine Interessen mit denen der türkischen Reformfreunde parallel. Zwei Punkte sind es, bei denen unsrer Ansicht nach jede ernste Reform des osmanischen Staatswesens einzusetzen hat, und die glücklicherweise unter den thatsächlichen Verhältnissen anch erreichbar sind. Der eine Punkt ist die schon wiederholt angeregte Ausdehnung der Wehrpflicht auch auf die nicht muham- medanischen Unterthanen der Pforte, gegen die sich die Regierung bisher hart¬ näckig gesträubt hat, der andre ist die Abänderung der Thronfolgeordnung, da sich die Form des Seniorats als den Interessen des Staats und Volks ver¬ derblich erwiesen hat. Bei der Erbfolge in Linie vom Vater auf den Sohn ist das Interesse des Herrschers und damit der Dynastie weit enger mit dem des Volks und Staats verknüpft. Es ist ja verständlich, daß in einem zumal auf Eroberung ausgehenden kriegerischen Staatswesen das Staatsinteresse immer einen gereiften Mann an der Spitze verlangt, aber die Gründe für diese Ein¬ richtung besteh» nicht mehr. Der allmächtige Sultan kann sich ganz wohl auch die Macht beilegen, die übliche Thronfolge zu ändern und seinen Nach¬ folger selbst zu bestimmen. Bei dem Vorhandensein eines geeigneten Sohnes würde natürlich die Bestimmung auf diesen fallen und sich damit ein ge¬ regeltes Erbrecht ausbilden, wie das in den abendländischen Staaten der Fall gewesen ist. Wir erinnern besonders an die ältern deutschen Zustünde vor Heinrich IV. und an die ans solchen Verhältnissen beruhende Exposition des Macbeth. Auch die ältere türkische Verfassung ist in diesem Punkte den gleichzeitigen abendländischen ganz ähnlich, das Seniorat ist erst eine spätere Einrichtung. Der Mangel eines festen Thronfolgegesetzes hatte seiner Zeit der Macht des Abbassidenhauses den schwersten Abbruch gethan. Die Türkensultane nahmen daher darauf Bedacht, diesem Übel vorzubeugen. Es wurde die Norm auf¬ gestellt, daß nur der Mann zur Nachfolge im Sultanat befähigt sei, den der herrschende Sultan für den würdigsten hält und darum zum Nachfolger und Erben ernennt; zugleich lag dem herrschenden Sultan aber auch die Pflicht ob, Sorge zu tragen, daß es nie an einem von ihm ernannten Sheriff oder Stell¬ vertreter fehle, damit nicht dnrch unerwartete Todesfälle oder dergleichen eine Verwirrung und Unsicherheit im Staate entstehn könne. In Rußland, das so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/237>, abgerufen am 20.10.2024.