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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Fürst Bismarcks Gedanken iind Erinnerungen

zu bringen. Eine objektive Geschichtsdarstellung bieten Memoiren nicht und
bietet auch das Werk Fürst Bismarcks nicht. Aber gerade darin liegt sein
Wert. Er beruht nicht in erster Reihe auf den neu mitgeteilten Thatsachen,
sondern vor allem in dem Bilde, das wir von der alles überragenden Persön¬
lichkeit des Erzählers erhalten. Wie er über die Dinge und die Menschen
dachte und empfand, wie er sie behandelte, was er mit einer politischen Ma߬
regel beabsichtigte, welche Erfahrungen er aus seiner Thätigkeit schöpfte, und
welche Regeln sich ihm daraus für die Zukunft ergaben, kurz sein Wesen als
Staatsmann, das ist selbst ein überaus wichtiger Teil der deutschen und der
europäischen Geschichte, denn er hat sie selbst gemacht, so weit ein einzelner
Mensch das überhaupt vermag. Und je stärker dabei seine Subjektivität her¬
vortritt, je tiefer und persönlicher er die Gegensätze empfindet, mit denen er
im Kampfe gelegen hat, desto mehr steigert sich die Teilnahme für ihn, ja oft
regt sich geradezu das Gefühl tiefen Mitleids, nirgends mehr als da, wo er
ganz schlicht, ohne irgend einen Zusatz erzählt (II, 122), wie Kaiser Wilhelm
nach der Kaiserproklamatio" von Versailles, verstimmt über die gegen seinen
Willen von Bismarck durchgesetzte Titulatur "Deutscher Kaiser," ihn ignorierte
und an ihm vorüberging, um den hinter ihm stehenden Generalen die Hand
zu reichen, an dem Tage, der zwei Jahrzehnte hingebender Arbeit des Ministers
ruhmvoll abschloß! Denn tragisch trotz aller Erfolge ist wie im Grunde das
Leben jedes großen Mannes auch dieses großartige Dasein gewesen. Dies ist
der stärkste Eindruck, den das Buch hinterläßt. Der andre ist die Erkenntnis,
wie unendlich verwickelt und schwierig es ist, einen großen Staat zu regieren,
d. h. alle die widerstreitenden Elemente schließlich zu einheitlichem Wollen und
Wirken zusammenzufassen. Wenn sich diese Erkenntnis recht vielen Lesern
mitteilt, so wird das Werk wesentlich zu der politischen Erziehung der Deutschen
beitragen, die noch sehr, sehr weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein;
sie wird mit Ehrfurcht vor dem Staate überhaupt und mit Bewunderung für
den Genius erfüllen, der erst in beständigem Ringen, durch seine persönliche
Arbeit vorhandne Möglichkeiten in Wirklichkeit umsetzte. Dieses Buch ist sein
politisches Testament. Aber gerade deshalb ist es kein Volksbuch und soll es
gar nicht sein, denn die große Politik ist nichts Volkstümliches. Es ist auch
für gebildete Leser eine schwere Lektüre, die viel Kenntnisse und ernste geistige
Mitarbeit voraussetzt. Möge es dnrch seinen Einfluß mitwirken an der Er¬
ziehung einer geistigen Aristokratie, die den deutschen Staat beherrschen muß,
wenn er seine Aufgabe erfüllen soll!




Fürst Bismarcks Gedanken iind Erinnerungen

zu bringen. Eine objektive Geschichtsdarstellung bieten Memoiren nicht und
bietet auch das Werk Fürst Bismarcks nicht. Aber gerade darin liegt sein
Wert. Er beruht nicht in erster Reihe auf den neu mitgeteilten Thatsachen,
sondern vor allem in dem Bilde, das wir von der alles überragenden Persön¬
lichkeit des Erzählers erhalten. Wie er über die Dinge und die Menschen
dachte und empfand, wie er sie behandelte, was er mit einer politischen Ma߬
regel beabsichtigte, welche Erfahrungen er aus seiner Thätigkeit schöpfte, und
welche Regeln sich ihm daraus für die Zukunft ergaben, kurz sein Wesen als
Staatsmann, das ist selbst ein überaus wichtiger Teil der deutschen und der
europäischen Geschichte, denn er hat sie selbst gemacht, so weit ein einzelner
Mensch das überhaupt vermag. Und je stärker dabei seine Subjektivität her¬
vortritt, je tiefer und persönlicher er die Gegensätze empfindet, mit denen er
im Kampfe gelegen hat, desto mehr steigert sich die Teilnahme für ihn, ja oft
regt sich geradezu das Gefühl tiefen Mitleids, nirgends mehr als da, wo er
ganz schlicht, ohne irgend einen Zusatz erzählt (II, 122), wie Kaiser Wilhelm
nach der Kaiserproklamatio» von Versailles, verstimmt über die gegen seinen
Willen von Bismarck durchgesetzte Titulatur „Deutscher Kaiser," ihn ignorierte
und an ihm vorüberging, um den hinter ihm stehenden Generalen die Hand
zu reichen, an dem Tage, der zwei Jahrzehnte hingebender Arbeit des Ministers
ruhmvoll abschloß! Denn tragisch trotz aller Erfolge ist wie im Grunde das
Leben jedes großen Mannes auch dieses großartige Dasein gewesen. Dies ist
der stärkste Eindruck, den das Buch hinterläßt. Der andre ist die Erkenntnis,
wie unendlich verwickelt und schwierig es ist, einen großen Staat zu regieren,
d. h. alle die widerstreitenden Elemente schließlich zu einheitlichem Wollen und
Wirken zusammenzufassen. Wenn sich diese Erkenntnis recht vielen Lesern
mitteilt, so wird das Werk wesentlich zu der politischen Erziehung der Deutschen
beitragen, die noch sehr, sehr weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein;
sie wird mit Ehrfurcht vor dem Staate überhaupt und mit Bewunderung für
den Genius erfüllen, der erst in beständigem Ringen, durch seine persönliche
Arbeit vorhandne Möglichkeiten in Wirklichkeit umsetzte. Dieses Buch ist sein
politisches Testament. Aber gerade deshalb ist es kein Volksbuch und soll es
gar nicht sein, denn die große Politik ist nichts Volkstümliches. Es ist auch
für gebildete Leser eine schwere Lektüre, die viel Kenntnisse und ernste geistige
Mitarbeit voraussetzt. Möge es dnrch seinen Einfluß mitwirken an der Er¬
ziehung einer geistigen Aristokratie, die den deutschen Staat beherrschen muß,
wenn er seine Aufgabe erfüllen soll!




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[0022] Fürst Bismarcks Gedanken iind Erinnerungen zu bringen. Eine objektive Geschichtsdarstellung bieten Memoiren nicht und bietet auch das Werk Fürst Bismarcks nicht. Aber gerade darin liegt sein Wert. Er beruht nicht in erster Reihe auf den neu mitgeteilten Thatsachen, sondern vor allem in dem Bilde, das wir von der alles überragenden Persön¬ lichkeit des Erzählers erhalten. Wie er über die Dinge und die Menschen dachte und empfand, wie er sie behandelte, was er mit einer politischen Ma߬ regel beabsichtigte, welche Erfahrungen er aus seiner Thätigkeit schöpfte, und welche Regeln sich ihm daraus für die Zukunft ergaben, kurz sein Wesen als Staatsmann, das ist selbst ein überaus wichtiger Teil der deutschen und der europäischen Geschichte, denn er hat sie selbst gemacht, so weit ein einzelner Mensch das überhaupt vermag. Und je stärker dabei seine Subjektivität her¬ vortritt, je tiefer und persönlicher er die Gegensätze empfindet, mit denen er im Kampfe gelegen hat, desto mehr steigert sich die Teilnahme für ihn, ja oft regt sich geradezu das Gefühl tiefen Mitleids, nirgends mehr als da, wo er ganz schlicht, ohne irgend einen Zusatz erzählt (II, 122), wie Kaiser Wilhelm nach der Kaiserproklamatio» von Versailles, verstimmt über die gegen seinen Willen von Bismarck durchgesetzte Titulatur „Deutscher Kaiser," ihn ignorierte und an ihm vorüberging, um den hinter ihm stehenden Generalen die Hand zu reichen, an dem Tage, der zwei Jahrzehnte hingebender Arbeit des Ministers ruhmvoll abschloß! Denn tragisch trotz aller Erfolge ist wie im Grunde das Leben jedes großen Mannes auch dieses großartige Dasein gewesen. Dies ist der stärkste Eindruck, den das Buch hinterläßt. Der andre ist die Erkenntnis, wie unendlich verwickelt und schwierig es ist, einen großen Staat zu regieren, d. h. alle die widerstreitenden Elemente schließlich zu einheitlichem Wollen und Wirken zusammenzufassen. Wenn sich diese Erkenntnis recht vielen Lesern mitteilt, so wird das Werk wesentlich zu der politischen Erziehung der Deutschen beitragen, die noch sehr, sehr weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein; sie wird mit Ehrfurcht vor dem Staate überhaupt und mit Bewunderung für den Genius erfüllen, der erst in beständigem Ringen, durch seine persönliche Arbeit vorhandne Möglichkeiten in Wirklichkeit umsetzte. Dieses Buch ist sein politisches Testament. Aber gerade deshalb ist es kein Volksbuch und soll es gar nicht sein, denn die große Politik ist nichts Volkstümliches. Es ist auch für gebildete Leser eine schwere Lektüre, die viel Kenntnisse und ernste geistige Mitarbeit voraussetzt. Möge es dnrch seinen Einfluß mitwirken an der Er¬ ziehung einer geistigen Aristokratie, die den deutschen Staat beherrschen muß, wenn er seine Aufgabe erfüllen soll!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/22>, abgerufen am 28.09.2024.