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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Wie Bayern ein moderner Staat wurde

einen Verweis von Ihren Vorgesetzten anzunehmen sich weigern, so wird man
einen andern Weg einschlagen müssen." "Diese Mühe, sagte Thiersch, kann
ich Ew. Exzellenz ersparen, ich lege hiermit mein Berufungs- und Anstellungs¬
dekret zu Ihren Füßen." "Nun nun, so weit wirds ja um dieser Sache willen
nicht kommen. Wir sprechen uns weiter." Auf solche Weise bereitete sich
Thiersch den Boden seiner Wirksamkeit. Im Jahre 1811 begründete er das
philologische Seminar. Aus diesem, später mit der nach München verlegten
Universität verbundnen Institute ging im Laufe von beinahe fünfzig Jahren
eine Anzahl ausgezeichneter Lehrer hervor, u. a. Kopp, Doederlein, von Zan,
M. I. Müller, Halm. So war gewiß der Ehrentitel praeosptor L^varme
wohlverdient, der ihm bei seinem funfzigjährigen Jubiläum zu teil wurde. Die
Einheimischen waren aufs heftigste gegen ihn erbittert. Als er am Palm¬
sonntage 1810 in dem protestantischen Betsaal predigen wollte, wurde ihm
durch ein kleines Mädchen ein Billet in die Sakristei gebracht, lautend: "Wenn
Sie, Herr Magister, sich unterstehn, das Wörtchen "und" mehr als zwanzig
mal in Ihrem heutigen Vortrag auszusprechen, so rechnen Sie auf eine aus¬
gezeichnete Beschimpfung vom Morgenblättler Vitalit." Als Thiersch die Kanzel
betrat, sah er gegenüber im Mittelgang einige seiner Gegner stehn, unter ihnen
Arelim, die darauf warteten, daß er die Fassung verlieren würde. Doch ließ
er sich nicht irre machen und predigte über die Unerschrockenheit Christi gegen¬
über seinen Feinden, und die angekündigte Beschimpfung unterblieb.

Seit der Niederlage der österreichischen Waffen verschlimmerte sich die
Lage der deutschgesinnten Patrioten in München immer mehr. Während des
Winters 1809 bis 1810 waren der Hof, die höchsten Behörden und fast alles
Militär abwesend. Arelim und seine Genossen hatten ihre Sache zu der des
Volkes und des Vaterlandes gegen Fremde gemacht, die den Einheimischen das
Brot wegnahmen, für die großen Summen nichts thäten, die Bayern ver¬
achteten, vor allem aber die Religion aus den Schulen verdrängten und das
Luthertum einführten. Das alles wurde fast täglich durch Pasquille und
Krenzpredigten selbst in Wirtshäusern gehörig eingeprägt. Selbst Geistliche
in der Kirche bei der Kinderlehre erlaubten sich in dieser Beziehung Herzens-
ergießungen, die das laute Murren des versammelten Volks erregten. "Man
fühlte, schreibt Thiersch an Lampe, daß jetzt oder nie der Zeitpunkt sei, uns
durch das Volk in die Luft zu sprengen." Der Gärungsprozeß wuchs mit
jedem Tage, denn der Vernünftigen waren auch in den höhern Ständen nur
wenige, und in der bedenklichsten Zeit wurde Niethammer (ans Gotha, damals
Generalsekretär der Akademie) von guter Hand geraten, auf seiner Hut zu sein,
weil er sonst leicht vom erbitterten Volk könne gesteinigt und zerrissen werden.
Durch die Rückkehr des Hofes änderte sich die Lage der Fremden wieder zum
Bessern. "Unsre Feinde -- schreibt Thiersch am 1. Mai 1810 --, die schon
so weit gewesen waren, nach Landshut zu schreibe", man möge dort mir den


Wie Bayern ein moderner Staat wurde

einen Verweis von Ihren Vorgesetzten anzunehmen sich weigern, so wird man
einen andern Weg einschlagen müssen." „Diese Mühe, sagte Thiersch, kann
ich Ew. Exzellenz ersparen, ich lege hiermit mein Berufungs- und Anstellungs¬
dekret zu Ihren Füßen." „Nun nun, so weit wirds ja um dieser Sache willen
nicht kommen. Wir sprechen uns weiter." Auf solche Weise bereitete sich
Thiersch den Boden seiner Wirksamkeit. Im Jahre 1811 begründete er das
philologische Seminar. Aus diesem, später mit der nach München verlegten
Universität verbundnen Institute ging im Laufe von beinahe fünfzig Jahren
eine Anzahl ausgezeichneter Lehrer hervor, u. a. Kopp, Doederlein, von Zan,
M. I. Müller, Halm. So war gewiß der Ehrentitel praeosptor L^varme
wohlverdient, der ihm bei seinem funfzigjährigen Jubiläum zu teil wurde. Die
Einheimischen waren aufs heftigste gegen ihn erbittert. Als er am Palm¬
sonntage 1810 in dem protestantischen Betsaal predigen wollte, wurde ihm
durch ein kleines Mädchen ein Billet in die Sakristei gebracht, lautend: „Wenn
Sie, Herr Magister, sich unterstehn, das Wörtchen »und« mehr als zwanzig
mal in Ihrem heutigen Vortrag auszusprechen, so rechnen Sie auf eine aus¬
gezeichnete Beschimpfung vom Morgenblättler Vitalit." Als Thiersch die Kanzel
betrat, sah er gegenüber im Mittelgang einige seiner Gegner stehn, unter ihnen
Arelim, die darauf warteten, daß er die Fassung verlieren würde. Doch ließ
er sich nicht irre machen und predigte über die Unerschrockenheit Christi gegen¬
über seinen Feinden, und die angekündigte Beschimpfung unterblieb.

Seit der Niederlage der österreichischen Waffen verschlimmerte sich die
Lage der deutschgesinnten Patrioten in München immer mehr. Während des
Winters 1809 bis 1810 waren der Hof, die höchsten Behörden und fast alles
Militär abwesend. Arelim und seine Genossen hatten ihre Sache zu der des
Volkes und des Vaterlandes gegen Fremde gemacht, die den Einheimischen das
Brot wegnahmen, für die großen Summen nichts thäten, die Bayern ver¬
achteten, vor allem aber die Religion aus den Schulen verdrängten und das
Luthertum einführten. Das alles wurde fast täglich durch Pasquille und
Krenzpredigten selbst in Wirtshäusern gehörig eingeprägt. Selbst Geistliche
in der Kirche bei der Kinderlehre erlaubten sich in dieser Beziehung Herzens-
ergießungen, die das laute Murren des versammelten Volks erregten. „Man
fühlte, schreibt Thiersch an Lampe, daß jetzt oder nie der Zeitpunkt sei, uns
durch das Volk in die Luft zu sprengen." Der Gärungsprozeß wuchs mit
jedem Tage, denn der Vernünftigen waren auch in den höhern Ständen nur
wenige, und in der bedenklichsten Zeit wurde Niethammer (ans Gotha, damals
Generalsekretär der Akademie) von guter Hand geraten, auf seiner Hut zu sein,
weil er sonst leicht vom erbitterten Volk könne gesteinigt und zerrissen werden.
Durch die Rückkehr des Hofes änderte sich die Lage der Fremden wieder zum
Bessern. „Unsre Feinde — schreibt Thiersch am 1. Mai 1810 —, die schon
so weit gewesen waren, nach Landshut zu schreibe», man möge dort mir den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/208>, abgerufen am 28.09.2024.