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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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und daß es die Betrachtung und Verehrung der Geschöpfe nicht so leicht in
groben Aberglauben ausarten läßt; um diesen zweiten Dienst wirksam leisten
zu können, hat der Christenglaube allerdings der Beihilfe der modernen Natur¬
wissenschaften bedurft. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, daß Monotheismus
und Polytheismus einander nicht widersprechen, sondern aufeinander angewiesen
sind. Ein Polytheismus, dem jede Erinnerung an den einen Gott entschwunden
ist, kann nicht mehr Religion, sondern nur Aberglaube genannt werden; ein
Monotheismus, der auf das polytheistische Element, d. h. auf die Einbeziehung
der Geschöpfe in den Kultus (der Leib Jesu ist doch wohl auch ein Geschöpf)
ganz verzichtet, verliert auf die Dauer die Lebenswürme und die Fähigkeit,
einen volkstümlichen Kultus zu erzeugen oder im Gange zu erhalten.

Augustinus hat der Thatsache, daß die römischen Götter eigentlich nur
Äußerungen, Erscheinungen oder Kräfte des einen verborgnen Gottes sind,
das elfte Kapitel des vierten Buches seines Werkes of Livitgts vehi gewidmet.
Wenn Jupiter, schreibt er da, die Seele dieser Körperwelt ist, die diese aus den
vier Elementen aufgebaut hat, wenn er es ist, der sie erfüllt und bewegt;
wenn er einzelne Teile dieser Welt gewissermaßen von sich absondert und zu
seinen Brüdern und Schwestern macht, wenn er als Äther die unter ihm aus-
gcgossene Luft als Juno umfängt, wenn er dann wieder Himmel ist, Äther
und Luft zusammen, und die Erde als die von ihm umfcmgne Gattin auf¬
gefaßt wird, wenn er im Meere Neptun, in der Tiefe des Meeres Salaeia,
im Innern der Erde Pluto und Proserpina, im Feuer des häuslichen Herdes
Vesta, in der Schmiedeesse Vulkanus, droben am Himmel Sonne, Mond und
Sterne, in den Weissagenden Apoll, in der Kaufmannsware Merkur, im Janus
der Veginner, im Terminus der Begrenzende oder Vollender, Saturn in der
Zeit, Mars und Bellona im Kriege, Liber in den Weinstöcken, Ceres im
Getreide, Diana in den Wäldern, Minerva in den Geistesanlagen ist, wenn
er auch im Götterpöbel noch steckt, wenn er es ist, der dem Kindlein als
Göttin Ops zur Geburt verhilft, der ihm als Gott Vatikanus den Mund zum
ersten Schrei öffnet, der es als Göttin Levana mit dem Vaterarm aufhebt,
der es als Cunina in der Wiege schützt und ihm später als Fortuna Barbata
den Bart wachsen läßt (es folgt noch eine ganze Litanei, die wir auslassen);
mögen diese unzähligen Götter nun als Teile oder als Kräfte des einen Gottes
aufgefaßt werden, wenn sie im Grunde genommen nur ein Gott sind, was
würden die Heiden verlieren, wenn sich klugerweise kurz machten und nur
diesen einen Gott verehrten? Ob Augustinus, wenn er heute lebte, diese Frage
wohl auch an die christlichen Neapolitaner richten würde? Ganz so arg wie
ihre heidnischen Vorfahren treiben die es nnn freilich noch nicht. Denn das
ist die eine der hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der römischen Religion,
daß derselbe Nationalismus, der ihr den Gedanken an den einen Gott lebendig
erhielt, zugleich auch die Zahl der Götter ins grenzenlose vervielfältigte. Der


und daß es die Betrachtung und Verehrung der Geschöpfe nicht so leicht in
groben Aberglauben ausarten läßt; um diesen zweiten Dienst wirksam leisten
zu können, hat der Christenglaube allerdings der Beihilfe der modernen Natur¬
wissenschaften bedurft. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, daß Monotheismus
und Polytheismus einander nicht widersprechen, sondern aufeinander angewiesen
sind. Ein Polytheismus, dem jede Erinnerung an den einen Gott entschwunden
ist, kann nicht mehr Religion, sondern nur Aberglaube genannt werden; ein
Monotheismus, der auf das polytheistische Element, d. h. auf die Einbeziehung
der Geschöpfe in den Kultus (der Leib Jesu ist doch wohl auch ein Geschöpf)
ganz verzichtet, verliert auf die Dauer die Lebenswürme und die Fähigkeit,
einen volkstümlichen Kultus zu erzeugen oder im Gange zu erhalten.

Augustinus hat der Thatsache, daß die römischen Götter eigentlich nur
Äußerungen, Erscheinungen oder Kräfte des einen verborgnen Gottes sind,
das elfte Kapitel des vierten Buches seines Werkes of Livitgts vehi gewidmet.
Wenn Jupiter, schreibt er da, die Seele dieser Körperwelt ist, die diese aus den
vier Elementen aufgebaut hat, wenn er es ist, der sie erfüllt und bewegt;
wenn er einzelne Teile dieser Welt gewissermaßen von sich absondert und zu
seinen Brüdern und Schwestern macht, wenn er als Äther die unter ihm aus-
gcgossene Luft als Juno umfängt, wenn er dann wieder Himmel ist, Äther
und Luft zusammen, und die Erde als die von ihm umfcmgne Gattin auf¬
gefaßt wird, wenn er im Meere Neptun, in der Tiefe des Meeres Salaeia,
im Innern der Erde Pluto und Proserpina, im Feuer des häuslichen Herdes
Vesta, in der Schmiedeesse Vulkanus, droben am Himmel Sonne, Mond und
Sterne, in den Weissagenden Apoll, in der Kaufmannsware Merkur, im Janus
der Veginner, im Terminus der Begrenzende oder Vollender, Saturn in der
Zeit, Mars und Bellona im Kriege, Liber in den Weinstöcken, Ceres im
Getreide, Diana in den Wäldern, Minerva in den Geistesanlagen ist, wenn
er auch im Götterpöbel noch steckt, wenn er es ist, der dem Kindlein als
Göttin Ops zur Geburt verhilft, der ihm als Gott Vatikanus den Mund zum
ersten Schrei öffnet, der es als Göttin Levana mit dem Vaterarm aufhebt,
der es als Cunina in der Wiege schützt und ihm später als Fortuna Barbata
den Bart wachsen läßt (es folgt noch eine ganze Litanei, die wir auslassen);
mögen diese unzähligen Götter nun als Teile oder als Kräfte des einen Gottes
aufgefaßt werden, wenn sie im Grunde genommen nur ein Gott sind, was
würden die Heiden verlieren, wenn sich klugerweise kurz machten und nur
diesen einen Gott verehrten? Ob Augustinus, wenn er heute lebte, diese Frage
wohl auch an die christlichen Neapolitaner richten würde? Ganz so arg wie
ihre heidnischen Vorfahren treiben die es nnn freilich noch nicht. Denn das
ist die eine der hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der römischen Religion,
daß derselbe Nationalismus, der ihr den Gedanken an den einen Gott lebendig
erhielt, zugleich auch die Zahl der Götter ins grenzenlose vervielfältigte. Der


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[0134] und daß es die Betrachtung und Verehrung der Geschöpfe nicht so leicht in groben Aberglauben ausarten läßt; um diesen zweiten Dienst wirksam leisten zu können, hat der Christenglaube allerdings der Beihilfe der modernen Natur¬ wissenschaften bedurft. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, daß Monotheismus und Polytheismus einander nicht widersprechen, sondern aufeinander angewiesen sind. Ein Polytheismus, dem jede Erinnerung an den einen Gott entschwunden ist, kann nicht mehr Religion, sondern nur Aberglaube genannt werden; ein Monotheismus, der auf das polytheistische Element, d. h. auf die Einbeziehung der Geschöpfe in den Kultus (der Leib Jesu ist doch wohl auch ein Geschöpf) ganz verzichtet, verliert auf die Dauer die Lebenswürme und die Fähigkeit, einen volkstümlichen Kultus zu erzeugen oder im Gange zu erhalten. Augustinus hat der Thatsache, daß die römischen Götter eigentlich nur Äußerungen, Erscheinungen oder Kräfte des einen verborgnen Gottes sind, das elfte Kapitel des vierten Buches seines Werkes of Livitgts vehi gewidmet. Wenn Jupiter, schreibt er da, die Seele dieser Körperwelt ist, die diese aus den vier Elementen aufgebaut hat, wenn er es ist, der sie erfüllt und bewegt; wenn er einzelne Teile dieser Welt gewissermaßen von sich absondert und zu seinen Brüdern und Schwestern macht, wenn er als Äther die unter ihm aus- gcgossene Luft als Juno umfängt, wenn er dann wieder Himmel ist, Äther und Luft zusammen, und die Erde als die von ihm umfcmgne Gattin auf¬ gefaßt wird, wenn er im Meere Neptun, in der Tiefe des Meeres Salaeia, im Innern der Erde Pluto und Proserpina, im Feuer des häuslichen Herdes Vesta, in der Schmiedeesse Vulkanus, droben am Himmel Sonne, Mond und Sterne, in den Weissagenden Apoll, in der Kaufmannsware Merkur, im Janus der Veginner, im Terminus der Begrenzende oder Vollender, Saturn in der Zeit, Mars und Bellona im Kriege, Liber in den Weinstöcken, Ceres im Getreide, Diana in den Wäldern, Minerva in den Geistesanlagen ist, wenn er auch im Götterpöbel noch steckt, wenn er es ist, der dem Kindlein als Göttin Ops zur Geburt verhilft, der ihm als Gott Vatikanus den Mund zum ersten Schrei öffnet, der es als Göttin Levana mit dem Vaterarm aufhebt, der es als Cunina in der Wiege schützt und ihm später als Fortuna Barbata den Bart wachsen läßt (es folgt noch eine ganze Litanei, die wir auslassen); mögen diese unzähligen Götter nun als Teile oder als Kräfte des einen Gottes aufgefaßt werden, wenn sie im Grunde genommen nur ein Gott sind, was würden die Heiden verlieren, wenn sich klugerweise kurz machten und nur diesen einen Gott verehrten? Ob Augustinus, wenn er heute lebte, diese Frage wohl auch an die christlichen Neapolitaner richten würde? Ganz so arg wie ihre heidnischen Vorfahren treiben die es nnn freilich noch nicht. Denn das ist die eine der hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der römischen Religion, daß derselbe Nationalismus, der ihr den Gedanken an den einen Gott lebendig erhielt, zugleich auch die Zahl der Götter ins grenzenlose vervielfältigte. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/134>, abgerufen am 28.09.2024.