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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

registrieren,^ dann fünf- bis sechstausend Briefe, unter denen wenig Politisches
war, chronologisch zu ordnen; aber am 15. Mai schrieb er an Busch: "von
einer Verarbeitung des Materials ist bis jetzt keine Rede," und noch im Juli:
"Wann es dazu szum Verarbeiten^ kommen wird, ist noch nicht abzusehen.
Mit der komischen, sich selbst ironisierenden Verzweiflung, die Sie an ihm
kennen, beklagt er sich, daß er jetzt gar keine Zeit habe, zu nichts kommen
könne. Vorläufig scheint er sich selbst damit zu rechtfertigen, daß doch erst
der ganze Stoff chronologisch geordnet sein müsse -- er wird nicht eher an
die Arbeit gehn, "is bis Sie sBusch^ wieder hergestellt sein werden. An eine
Heranziehung Poschingers ist kein Gedanke" (III, 300. 301 s.). Und doch war
schon am 6. Juli ein Verlagsabkommen mit dem Hause Cotta (Kröner) getroffen
worden. Nicht besser stand es noch zu Anfang Oktober, als Bucher aus Varzin
(am 3. Oktober) an Busch schrieb: "Es wird nichts produziert" (303). Erst
am 14. desselben Monats konnte er dem Freunde melden: "Er hat seit einigen
Tagen angefangen zu diktieren, aber noch ohne rechten Zusammenhang, ab¬
wechselnd aus verschiednen Jahren. Es ist also vorläufig nur Rohmaterial" (304).
Auf Schweningers Betreiben, der schon aus Gesundheitsrücksichten eine regel¬
mäßige Beschäftigung dringend empfahl (305. 307. 308. 324, vgl. Schweninger
7 ff.), diktierte der Fürst, wie Bucher am 22. Dezember Busch selbst erzählte, nun
täglich aus seinen Erinnerungen, und Bücher schrieb stenographisch nach. "Aber
es sind nur Bruchstücke ohne Zusammenhang und mit häufigen Irrtümern in
den Daten. So über 1848, was ganz interessant war, aber erst mit Wolfs
Chronik verglichen und berichtigt werden mußte.--Zwar hat er mich schon
einen ganzen Haufen stenographieren lassen, und es ist natürlich manches Neue
und Wertvolle darunter, aber oft ist ein Bericht nicht zuverlässig, und vor¬
züglich glaubt er manchmal was gesagt oder gethan zu haben, was er hätte
sagen oder thun sollen, was er aber unterlassen hat oder wenigstens so, wie
er behauptet, nicht gesagt oder gethan haben kann. Und vom Wichtigsten hört
er zuweilen ganz auf, wie ein versiegendes Wasser, und kommt nicht wieder
darauf zurück. So fing er neulich an, von seinem Verhältnis zu Napoleon
vor 1870 zu sprechen, ließ es aber dann fallen, und ich brachte ihn seitdem
nicht wieder zu zusammenhängender Erzählung davon." Dazu komme der
Übelstand, daß er auch auf die Gegenwart warnend und belehrend wirken wolle
und danach oft seinen Gegenstand auswühle, um Betrachtungen derart daran
zu knüpfen. So habe er einen Rückblick ans den Vertrag von Reichenbach 1792
nur eingefügt, weil er fürchte, der Kaiser werde nicht besonnen genug zwischen
Wien und Petersburg kavieren, und weil damals die Verhältnisse ganz ähnlich
gelegen hätten; man habe damals auch nicht recht gewußt, was man wollte,
und es auf a mers Äiov c>f xover abgesehen (jetzt Gedanken und Erinne¬
rungen I, 271 f.), was doch keineswegs der historischen Wahrheit entspreche.
Bucher war mit seiner eignen Aufgabe sehr unzufrieden, hatte aber auch keine
Lust, die Sache zu kritisieren und zu redigieren, weil das zu viel Mühe und


Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

registrieren,^ dann fünf- bis sechstausend Briefe, unter denen wenig Politisches
war, chronologisch zu ordnen; aber am 15. Mai schrieb er an Busch: „von
einer Verarbeitung des Materials ist bis jetzt keine Rede," und noch im Juli:
„Wann es dazu szum Verarbeiten^ kommen wird, ist noch nicht abzusehen.
Mit der komischen, sich selbst ironisierenden Verzweiflung, die Sie an ihm
kennen, beklagt er sich, daß er jetzt gar keine Zeit habe, zu nichts kommen
könne. Vorläufig scheint er sich selbst damit zu rechtfertigen, daß doch erst
der ganze Stoff chronologisch geordnet sein müsse — er wird nicht eher an
die Arbeit gehn, «is bis Sie sBusch^ wieder hergestellt sein werden. An eine
Heranziehung Poschingers ist kein Gedanke" (III, 300. 301 s.). Und doch war
schon am 6. Juli ein Verlagsabkommen mit dem Hause Cotta (Kröner) getroffen
worden. Nicht besser stand es noch zu Anfang Oktober, als Bucher aus Varzin
(am 3. Oktober) an Busch schrieb: „Es wird nichts produziert" (303). Erst
am 14. desselben Monats konnte er dem Freunde melden: „Er hat seit einigen
Tagen angefangen zu diktieren, aber noch ohne rechten Zusammenhang, ab¬
wechselnd aus verschiednen Jahren. Es ist also vorläufig nur Rohmaterial" (304).
Auf Schweningers Betreiben, der schon aus Gesundheitsrücksichten eine regel¬
mäßige Beschäftigung dringend empfahl (305. 307. 308. 324, vgl. Schweninger
7 ff.), diktierte der Fürst, wie Bucher am 22. Dezember Busch selbst erzählte, nun
täglich aus seinen Erinnerungen, und Bücher schrieb stenographisch nach. „Aber
es sind nur Bruchstücke ohne Zusammenhang und mit häufigen Irrtümern in
den Daten. So über 1848, was ganz interessant war, aber erst mit Wolfs
Chronik verglichen und berichtigt werden mußte.--Zwar hat er mich schon
einen ganzen Haufen stenographieren lassen, und es ist natürlich manches Neue
und Wertvolle darunter, aber oft ist ein Bericht nicht zuverlässig, und vor¬
züglich glaubt er manchmal was gesagt oder gethan zu haben, was er hätte
sagen oder thun sollen, was er aber unterlassen hat oder wenigstens so, wie
er behauptet, nicht gesagt oder gethan haben kann. Und vom Wichtigsten hört
er zuweilen ganz auf, wie ein versiegendes Wasser, und kommt nicht wieder
darauf zurück. So fing er neulich an, von seinem Verhältnis zu Napoleon
vor 1870 zu sprechen, ließ es aber dann fallen, und ich brachte ihn seitdem
nicht wieder zu zusammenhängender Erzählung davon." Dazu komme der
Übelstand, daß er auch auf die Gegenwart warnend und belehrend wirken wolle
und danach oft seinen Gegenstand auswühle, um Betrachtungen derart daran
zu knüpfen. So habe er einen Rückblick ans den Vertrag von Reichenbach 1792
nur eingefügt, weil er fürchte, der Kaiser werde nicht besonnen genug zwischen
Wien und Petersburg kavieren, und weil damals die Verhältnisse ganz ähnlich
gelegen hätten; man habe damals auch nicht recht gewußt, was man wollte,
und es auf a mers Äiov c>f xover abgesehen (jetzt Gedanken und Erinne¬
rungen I, 271 f.), was doch keineswegs der historischen Wahrheit entspreche.
Bucher war mit seiner eignen Aufgabe sehr unzufrieden, hatte aber auch keine
Lust, die Sache zu kritisieren und zu redigieren, weil das zu viel Mühe und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/11>, abgerufen am 28.09.2024.