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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

dessen fortschreitende Erstarkung Herr Witte ja vertraut oder doch bis vor
zwei Jahren vertraut hat. Herr Jssajew teilt dieses Vertrauen nicht. Er weist
auf statistische Erhebungen hin, aus denen hervorgeht, daß in vielen Gubernien
ein Viertel bis ein Drittel der bäuerlichen Bevölkerung in Hütten wohnt, die
Meter lang und breit und 2^/< Meter hoch sind; daß der Tagelöhner
in den nationalrussischen Gubernien zwischen 27 und 40 Kopeken, also höchstens
90 Pfennige in der besten Erntezeit verdient, und dennoch im europäischen
Rußland Prozent der Bevölkerung keine Beschäftigung findet; daß von
1885 bis 1896 die Steuerrückstände der bäuerlichen Bevölkerung von 50 auf
142^2 Millionen Rubel angewachsen sind, obgleich im Jahre 1895 8 Millionen
Rubel Rückstände erlassen wurden; daß sich diese Rückstände hauptsächlich in
den östlichen großen und fruchtbaren Gebieten angesammelt haben und in
manchen Gubernien bis 400 Prozent und mehr der Jahressteuer betragen; daß
die bäuerliche Schuld für verabfolgte Unterstützungen durch den Staat 129 Mil¬
lionen beträgt; daß die gesamte auf dem ländlichen Grundbesitz ruhende Schuld
auf zwei Milliarden gestiegen ist; daß die Sterblichkeit seit etwa fünfzig Jahren
nicht ab-, sondern zugenommen hat (Jssajew, S- 5 bis 9). Nehmen wir hinzu,
daß die Verarmung der ländlichen Bevölkerung nach den eignen statistischen
Forschungen des russischen Finanzministeriums, deren sich Herr Witte in den
Berichten an seinen Herrn, wie es scheint, nicht erinnert hat, seit vielen Jahren
andauert, und daß in russischen wissenschaftlichen Werken die Klage wiederkehrt,
das Volk sei aus Mangel an Nahrung in fortschreitender körperlicher De¬
generation begriffen, so wächst unser Mißtrauen in den Wohlstand, auf den
Herr Witte seine glänzende Finanzpolitik stützt. Der Goldschatz, über den der
Minister heute verfügt, ist nicht von dem Überfluß des Volkseinkommens auf¬
gehäuft worden, sondern von dem Ertrage der Anleihen.

Rußland bringt jährlich dreißig bis vierzig Millionen Rubel Gold hervor.
Das will wenig bedeuten gegenüber 272 Millionen Rubeln, die der Staat an
Zinsen jährlich und meist in Gold an seine Gläubiger zu zahlen hat. Von
1881 bis 1895 hat Rußland auf diese Weise 1173V, Millionen Rubel Gold
ins Ausland abfließen lassen (Jssajew, S. 19). Dieser Goldabflnß wird auch
nicht durch den etwa seit 25 Jahren vorhandnen Überschuß in der Handels¬
bilanz ausgeglichen, der im Jahre 1895 fast 154 Millionen Rubel aufwies.
Wie sehr die Handelsbilanz von der Ernte und wie wenig sie von der In¬
dustrie Rußlands abhängt, geht sowohl aus der ganz unbedeutenden und
sinkenden Ausfuhr von Fabrikaten, als aus dem Umstände hervor, daß nach
der guten Ernte von 1890 die gesamte Ausfuhr von Waren im Jahre 1891
um die Summe von 328 Millionen die Einfuhr überragte, aber 1892 sofort
auf 71,7 Millionen Rubel Überschuß fiel, als sich die Mißernte von 1891
geltend machte. Auch ist seit dem Jahre, das den deutsch-russischen Handels¬
vertrag brachte, die Ausfuhr im Verhältnis zur Einfuhr im Rückgang geblieben.


Politik und Finanzen in Rußland

dessen fortschreitende Erstarkung Herr Witte ja vertraut oder doch bis vor
zwei Jahren vertraut hat. Herr Jssajew teilt dieses Vertrauen nicht. Er weist
auf statistische Erhebungen hin, aus denen hervorgeht, daß in vielen Gubernien
ein Viertel bis ein Drittel der bäuerlichen Bevölkerung in Hütten wohnt, die
Meter lang und breit und 2^/< Meter hoch sind; daß der Tagelöhner
in den nationalrussischen Gubernien zwischen 27 und 40 Kopeken, also höchstens
90 Pfennige in der besten Erntezeit verdient, und dennoch im europäischen
Rußland Prozent der Bevölkerung keine Beschäftigung findet; daß von
1885 bis 1896 die Steuerrückstände der bäuerlichen Bevölkerung von 50 auf
142^2 Millionen Rubel angewachsen sind, obgleich im Jahre 1895 8 Millionen
Rubel Rückstände erlassen wurden; daß sich diese Rückstände hauptsächlich in
den östlichen großen und fruchtbaren Gebieten angesammelt haben und in
manchen Gubernien bis 400 Prozent und mehr der Jahressteuer betragen; daß
die bäuerliche Schuld für verabfolgte Unterstützungen durch den Staat 129 Mil¬
lionen beträgt; daß die gesamte auf dem ländlichen Grundbesitz ruhende Schuld
auf zwei Milliarden gestiegen ist; daß die Sterblichkeit seit etwa fünfzig Jahren
nicht ab-, sondern zugenommen hat (Jssajew, S- 5 bis 9). Nehmen wir hinzu,
daß die Verarmung der ländlichen Bevölkerung nach den eignen statistischen
Forschungen des russischen Finanzministeriums, deren sich Herr Witte in den
Berichten an seinen Herrn, wie es scheint, nicht erinnert hat, seit vielen Jahren
andauert, und daß in russischen wissenschaftlichen Werken die Klage wiederkehrt,
das Volk sei aus Mangel an Nahrung in fortschreitender körperlicher De¬
generation begriffen, so wächst unser Mißtrauen in den Wohlstand, auf den
Herr Witte seine glänzende Finanzpolitik stützt. Der Goldschatz, über den der
Minister heute verfügt, ist nicht von dem Überfluß des Volkseinkommens auf¬
gehäuft worden, sondern von dem Ertrage der Anleihen.

Rußland bringt jährlich dreißig bis vierzig Millionen Rubel Gold hervor.
Das will wenig bedeuten gegenüber 272 Millionen Rubeln, die der Staat an
Zinsen jährlich und meist in Gold an seine Gläubiger zu zahlen hat. Von
1881 bis 1895 hat Rußland auf diese Weise 1173V, Millionen Rubel Gold
ins Ausland abfließen lassen (Jssajew, S. 19). Dieser Goldabflnß wird auch
nicht durch den etwa seit 25 Jahren vorhandnen Überschuß in der Handels¬
bilanz ausgeglichen, der im Jahre 1895 fast 154 Millionen Rubel aufwies.
Wie sehr die Handelsbilanz von der Ernte und wie wenig sie von der In¬
dustrie Rußlands abhängt, geht sowohl aus der ganz unbedeutenden und
sinkenden Ausfuhr von Fabrikaten, als aus dem Umstände hervor, daß nach
der guten Ernte von 1890 die gesamte Ausfuhr von Waren im Jahre 1891
um die Summe von 328 Millionen die Einfuhr überragte, aber 1892 sofort
auf 71,7 Millionen Rubel Überschuß fiel, als sich die Mißernte von 1891
geltend machte. Auch ist seit dem Jahre, das den deutsch-russischen Handels¬
vertrag brachte, die Ausfuhr im Verhältnis zur Einfuhr im Rückgang geblieben.


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[0085] Politik und Finanzen in Rußland dessen fortschreitende Erstarkung Herr Witte ja vertraut oder doch bis vor zwei Jahren vertraut hat. Herr Jssajew teilt dieses Vertrauen nicht. Er weist auf statistische Erhebungen hin, aus denen hervorgeht, daß in vielen Gubernien ein Viertel bis ein Drittel der bäuerlichen Bevölkerung in Hütten wohnt, die Meter lang und breit und 2^/< Meter hoch sind; daß der Tagelöhner in den nationalrussischen Gubernien zwischen 27 und 40 Kopeken, also höchstens 90 Pfennige in der besten Erntezeit verdient, und dennoch im europäischen Rußland Prozent der Bevölkerung keine Beschäftigung findet; daß von 1885 bis 1896 die Steuerrückstände der bäuerlichen Bevölkerung von 50 auf 142^2 Millionen Rubel angewachsen sind, obgleich im Jahre 1895 8 Millionen Rubel Rückstände erlassen wurden; daß sich diese Rückstände hauptsächlich in den östlichen großen und fruchtbaren Gebieten angesammelt haben und in manchen Gubernien bis 400 Prozent und mehr der Jahressteuer betragen; daß die bäuerliche Schuld für verabfolgte Unterstützungen durch den Staat 129 Mil¬ lionen beträgt; daß die gesamte auf dem ländlichen Grundbesitz ruhende Schuld auf zwei Milliarden gestiegen ist; daß die Sterblichkeit seit etwa fünfzig Jahren nicht ab-, sondern zugenommen hat (Jssajew, S- 5 bis 9). Nehmen wir hinzu, daß die Verarmung der ländlichen Bevölkerung nach den eignen statistischen Forschungen des russischen Finanzministeriums, deren sich Herr Witte in den Berichten an seinen Herrn, wie es scheint, nicht erinnert hat, seit vielen Jahren andauert, und daß in russischen wissenschaftlichen Werken die Klage wiederkehrt, das Volk sei aus Mangel an Nahrung in fortschreitender körperlicher De¬ generation begriffen, so wächst unser Mißtrauen in den Wohlstand, auf den Herr Witte seine glänzende Finanzpolitik stützt. Der Goldschatz, über den der Minister heute verfügt, ist nicht von dem Überfluß des Volkseinkommens auf¬ gehäuft worden, sondern von dem Ertrage der Anleihen. Rußland bringt jährlich dreißig bis vierzig Millionen Rubel Gold hervor. Das will wenig bedeuten gegenüber 272 Millionen Rubeln, die der Staat an Zinsen jährlich und meist in Gold an seine Gläubiger zu zahlen hat. Von 1881 bis 1895 hat Rußland auf diese Weise 1173V, Millionen Rubel Gold ins Ausland abfließen lassen (Jssajew, S. 19). Dieser Goldabflnß wird auch nicht durch den etwa seit 25 Jahren vorhandnen Überschuß in der Handels¬ bilanz ausgeglichen, der im Jahre 1895 fast 154 Millionen Rubel aufwies. Wie sehr die Handelsbilanz von der Ernte und wie wenig sie von der In¬ dustrie Rußlands abhängt, geht sowohl aus der ganz unbedeutenden und sinkenden Ausfuhr von Fabrikaten, als aus dem Umstände hervor, daß nach der guten Ernte von 1890 die gesamte Ausfuhr von Waren im Jahre 1891 um die Summe von 328 Millionen die Einfuhr überragte, aber 1892 sofort auf 71,7 Millionen Rubel Überschuß fiel, als sich die Mißernte von 1891 geltend machte. Auch ist seit dem Jahre, das den deutsch-russischen Handels¬ vertrag brachte, die Ausfuhr im Verhältnis zur Einfuhr im Rückgang geblieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/85>, abgerufen am 23.07.2024.